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VORWÄRTS/1415: Die Schatten des Silicon Valley


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 35/36 vom 2. November 2018

Die Schatten des Silicon Valley

von Andreas Boueke


In Kalifornien liegt das Monatsgehalt eineR Angestellten der grossen Technologiefirmen oft höher als das Jahreseinkommen von RentnerInnen. Gentrifizierung in der Bay Area bedeutet häufig: Verdrängung von ArbeiterInnen und Alten. Manche Mieten steigen innerhalb kurzer Zeit um zweistellige Prozentzahlen.


Auf den Strassen des hippen Universitätsstädtchens Berkeley in Kalifornien treffen profilierte AkademikerInnen auf altersweise AnalphabetInnen, obdachlose LebenskünstlerInnen auf neugierige TouristInnen. Sheryl ist mit einer Freundin aus Kanada zu Besuch gekommen: «Eines Morgens, als wir vor unserem Hotel auf ein Taxi warteten, sprach uns eine junge Frau an. Sie fragte, ob sie sich in unserem Badezimmer duschen dürfe. Das macht sie wohl öfter: Wenn niemand hinschaut und eine Zimmertür offen steht, weil die Leute ausgecheckt haben, geht sie rein und duscht.»

Obdachlosigkeit ist seit Langem eines der gravierendsten sozialen Probleme US-amerikanischer Städte. Der Sozialarbeiter Robert Barrer war 25 Jahre alt, als er den Posten des Koordinators einer Notunterkunft in Berkeley übernommen hat. Jetzt ist er 66 und arbeitet noch immer dort. «In der Gegend der Bucht von San Francisco ist die Situation der Obdachlosigkeit zur Zeit schlimmer, als ich es je zuvor erlebt habe, noch schlimmer als während der Reagan-Rezession Anfang der 80er Jahre. Damals hat die Obdachlosigkeit enorm zugenommen. Heute haben wir eine ständige Unterschicht, Leute, die auf der Strasse leben.»


3000 Dollar im Monat

Als Standort einer der bekanntesten Universitäten der Welt sind viele Wohngegenden Berkeleys den Wohlsituierten vorbehalten. Zudem hat während der letzten Jahre der Boom im nahegelegenen Silicon Valley den Preis des Wohnens so weit nach oben getrieben, dass viele NormalverdienerInnen nicht mehr mithalten können. Das hat das Problem der Obdachlosigkeit weiter verschärft, meint Robert Barrer: «Wenn du durch die Strassen läufst, siehst du an allen Ecken Wohngebäude in den Himmel wachsen. Die Mieten dort werden sich die Leute, die wir unterstützen, nicht leisten können. Die ArbeiterInnenklasse kann keine 3000 Dollar im Monat für eine Wohnung zahlen.»

Fast täglich landen ganze Familien auf der Strasse. Die kanadische Touristin Sheryl hat nicht damit gerechnet, in dem wirtschaftlich boomenden Kalifornien auf so offensichtliches Elend zu treffen: «Wir haben buchstäblich Hunderte Obdachlose und Bettler gesehen. Ihre Lage ist so hoffnungslos. Sie sind hungrig, bedürftig. Kinder, Erwachsene, junge Leute, alte Leute. Sie schlafen auf Parkbänken neben einem Einkaufswagen, in dem sie all ihr Hab und Gut transportieren. Sie wohnen in Zelten oder sogar in Kartonkisten. Wirklich, manche wohnen in Kartons. Es ist tragisch.»


Jasons Karton

Der junge Mann Jason hat einen besonders grossen Karton gefunden, die Verpackung eines Fernsehbildschirms. «Ich hab' ihn aufgehoben und gedacht: 'Cool. Karton. Isolierung.'» Seine Luftmatratze ist nicht gross genug für seinen Schlafsack, der eigentlich für zwei Personen gedacht ist. «Aber ich habe keine zweite Person, die mit mir schläft.»

Der Zwanzigjährige breitet seine Schlafstätte vor der geschlossenen Eingangstür eines indischen Restaurants aus. Nicht weit entfernt stehen Zelte am Strassenrand. Kleine Buden aus Pappe schützen vor der abendlichen Kälte. Ein Mann hat ein paar morsche Äste angezündet und sitzt schweigend vor den Flammen. An solche Szenen mag sich die Touristin Sheryl nicht gewöhnen: «Die USA kümmern sich nicht um ihre Bedürftigen. Sie tun es einfach nicht. Ich finde, sie könnten ruhig etwas von Kanada lernen. Ernsthaft. Dort versuchen wir, den Menschen zu helfen, mit Gesundheitsdiensten und Wohnraum.»

Die alteingesessene Bevölkerung Berkeleys trifft wohl keine Schuld. Im Gegenteil, die BerkleyianerInnen sind für ihre engagierte Grundhaltung bekannt. Sie haben ein enges, karitatives Netz geknüpft, in dem Obdachlose in vielen Projekten Hilfe finden können. Doch diese soziale Infrastruktur zieht weitere Bedürftige an, so wie Jason. Der junge Mann ist aus Stockton gekommen, eine Stadt keine hundert Kilometer entfernt im Landesinneren. Dort ist die Situation noch trostloser.

Gegenüber von Jason, auf der anderen Strassenseite, sitzt ein Mann, Ende fünfzig mit langem weissen Bart, den er zu einem dünnen Zopf geflochten hat. «Mein Name ist Robert Dell Schroder. Seit dem Tod meiner Freundin lebe ich auf der Strasse. Mit ihr hatte ich alles, was man sich wünschen kann. Wir haben in einer Doppelhaushälfte gewohnt. Mein Vermieter mochte mich. Aber wenn du deine Liebe und deine Seelenverwandte verlierst, dann haben die Dinge keinen Bestand.»


Den Reichen wird geholfen

Die meisten Obdachlosen des Landes leben in den Staaten des Westens, eben dort, wo die Tech-Industrie besonders erfolgreich ist. Im Jahr 2017 waren in Oregon, Washington und Kalifornien 168.000 Menschen auf der Strasse. Zehn Prozent mehr als im Jahr zuvor. Einige Städte haben den Notstand ausgerufen, was eigentlich für die Tage nach einer Naturkatastrophe vorgesehen ist. Der Sozialarbeiter Robert Barrer kommentiert das mit unverhohlenem Sarkasmus: «Die Obdachlosigkeit gehört zur Folklore der USA. In diesem Land sind die Menschen frei. Du bist frei, reich zu werden oder frei, obdachlos zu sein. Du bist frei, krank zu werden. Oder du bist reich, dann wird dir geholfen.»

Unterdessen hat es sich Jason auf dem grossen Pappkarton gemütlich gemacht. Ab und zu treten PassantInnen auf eine Ecke seines Schlafsacks, aber daraus macht er sich nichts. «Das sind Studierende. Die meisten sind freundlich zu mir. Obwohl, eigentlich schauen sie immer nur auf ihre Telefone. Für sie bin ich unsichtbar. Aber das ist mir egal. Warum sollte ich einen Rattenarsch darauf geben, was die denken?»

In der Umgebung von San Francisco leben viele Menschen, die zwar eine feste Anstellung haben, sich aber trotzdem keine Wohnung oder einen Arztbesuch leisten können. Jason war noch nie irgendwo angestellt. Als ihm der Arzt seiner Mutter eines Tages geraten hat, einen Schizophrenie-Test zu machen, brach er die High-School ab und begann sein Leben auf der Strasse.


Psychisch Kranke auf der Strasse

Das Nationale Institut für mentale Gesundheit schätzt, dass mehr als acht Millionen US-AmerikanerInnen an einer bipolarer Störung oder Schizophrenie leiden. In einem Bericht des Bundesministeriums für Stadtentwicklung steht, mindestens ein Viertel der etwa 600.000 Obdachlosen in den USA bräuchten dringend psychiatrische Hilfe. Diese Zahl hält die Aktivistin für psychische Gesundheit, Kim Memeral, für viel zu gering: «Überall in Berkeley, wo sich viele Leute aufhalten, kann man kranke Menschen sehen. Übrigens wirst du auch sterbende Menschen auf der Strasse sehen und vor allem Menschen, die an mentalen Krankheiten leiden. Es ist erschreckend zu beobachten, wie viele überhaupt nicht mehr funktionieren. Sie haben eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit oder sind geistig extrem eingeschränkt. Einige wären vielleicht offen für Unterstützung, doch sie sind nicht mehr in der Lage, die Angebote wahrzunehmen. Sie sind mit ihrer Existenz überfordert.»

In den staatlichen Kliniken für Psychiatrie der gesamten USA gibt es 35.000 Betten. Zehnmal mehr Hilfsbedürftige landen in Gefängnissen. 350.000 Häftlinge gelten als psychisch krank. Kim Memeral bemüht sich um Hilfe für diejenigen, die auf der Strasse allein gelassen werden. «Wenn ich einen eingerollten Körper auf dem Bürgersteig sehe, schaue ich mir das genauer an. Vor ein paar Tagen wusste ich, dass eine Frau die Nacht nicht überleben würde. Es war zu kalt und sie bewegte sich nicht. Ich habe die Polizei alarmiert unter dem Vorwand: Diese Frau wird den Fahrradweg nur frei machen, wenn ihr sie mitnehmt. Das hat geklappt. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht. Es ist schwierig, jemanden in ein Krankenhaus zu bekommen. Und es ist nahezu unmöglich, jemanden in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen. Da hat sich die Politik völlig geändert. Heute gibt es keine solchen Einweisungen mehr, buchstäblich nie mehr.»

Wenn man die gesamten USA betrachtet, ist die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen Jahren leicht zurückgegangen. Das liegt vor allem am Engagement vieler Hilfsorganisationen. Einige nutzen Gelder und Mittel, die sie eigentlich für Entwicklungshilfe in Ländern des globalen Südens vorgesehen hatten. Doch mit der Entwicklung an der Westküste der USA können auch sie nicht mithalten, sagt die Sozialwissenschaftlerin Monique Parish. Sie arbeitet für die kalifornische Gesundheitsbehörde. «Man kann es nicht fassen. Ich habe viele Jahre lang als Entwicklungshelferin in Afrika gearbeitet. Trotzdem bin ich von dieser Situation geschockt. Wir leben in erschreckenden Zeiten.»

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36/2018 - 74. Jahrgang - 2. November 2018, S. 10
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2018

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