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VORWÄRTS/1244: Rollstuhl im Staub


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 43/44 vom 2. Dezember 2016

Rollstuhl im Staub

von Andreas Boueke


Kisekka aus Uganda ist fünfzehn Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Er geht in einem Internat für Kinder mit Behinderung zur Schule. Durch das Hilfswerk OURS hat er eine Zukunft. Eine Reportage über Kisekkas Leben und über die Situation von behinderten Kindern in dem afrikanischen Land.

Sein rostiger Rollstuhl fährt durch enge Gänge, vorbei an überfüllten Schlafräumen, über kleine Stufen. Der fünfzehnjährige Kisekka rollt flink durch das Krankenhaus am Rand der ugandischen Kleinstadt Mbarara. "Als die Leute von dem Kinderhilfswerk OURS beschlossen, meine Schulgebühren zu zahlen und mir einen Rollstuhl zu schenken, hat sich mein Leben völlig verändert", erzählt er.


Ein gebrauchter Rollstuhl

Kisekkas grüner Rollstuhl ist eine Gebrauchtspende aus Europa. Auf den Schotterpisten der Umgebung des Krankenhauses kommt das alte Modell an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Die Gummischicht der kleinen Vorderräder ist fast völlig abgenutzt. Die Hinterräder haben kein Profil mehr, der Plastiküberzug des Sitzes hat viele Löcher. Aber noch funktioniert das Ding. "Früher bin ich auf dem Boden gekrochen", erinnert sich der Junge. "Deshalb habe ich so viele Wunden an den Knien."

Damals hatte er keinen Rollstuhl. "Ich hatte immer Angst, dass mich wilde Tiere finden und beissen. Wenn ich über die Strasse gekrochen bin, sind manchmal Kühe gekommen und haben mich umgestossen. Jetzt mit dem Rollstuhl ist alles besser."

Kisekka bleibt in einem Wartesaal, bis sich die Tür zum Behandlungsraum öffnet. Ein kleiner Junge kommt raus, auf Krücken gestützt. Bei jedem Schritt verzieht er sein Gesicht vor Schmerz. Sein linkes Bein schlürft über den Zementboden. "Ich kenne ihn", sagt Kisekka. "Es wird nicht lange dauern, dann hat er diese Situation überwunden. Wenn er weiter seine Übungen macht, wird er die Krücken bald zur Seite legen und ohne Hilfe laufen können."


Die richtige Behandlung

Hinter dem Jungen taucht eine Krankenschwester auf. Sie gibt ihm Tipps, wie er seinen Bewegungsablauf ändern kann, damit ihm das Laufen weniger Schmerz bereitet. Kisekka lächelt, als ihn die junge Frau anschaut. Es ist Cindy, seine Therapeutin. Sie erklärt: "Kisekkas Lähmung ist eine Konsequenz seines eigentlichen Leidens, der Spina bifida, ein offener Rücken. Diese Fehlbildung wirkt sich auf seinen gesamten Unterkörper aus."

Kisekka ist barfuss. Er trägt eine alte Schuluniform, die einzige, die er besitzt: gelbes Hemd, roter Pulli und kurze Hose. Am Tag zuvor hat der Auspuff eines Taxis die Haut an seinem Bein verschmort. Schwester Cindy nimmt das Pflaster ab und ersetzt es durch ein neues, sauberes. "Er hat keinerlei Gefühl in seinen Beinen. Man könnte sie in Feuer legen und trotzdem spürt er nichts. Nur mit den Augen sieht er das Problem, denn der obere Teil des Körpers ist gut mit dem Gehirn verbunden. Aber der untere Teil ist abgeschnitten."

Die junge Frau behandelt die feuchte Wunde auf Kisekkas Fuss. "Wenn sich andere Kinder wie er solche Verletzungen in ihren Dörfern zuziehen, werden sie meist nicht ordentlich behandelt. Meist kommen sie erst hierher, wenn die Wunden schon sehr gross sind. Dann dauert es sehr lange, bis sie heilen. Bei Kisekka ist das anders. Er wohnt jetzt in der Nähe von OURS. So können wir ihn schnell behandeln. Für die anderen Kinder ist es ein zusätzliches Trauma, wenn sie sehen, wie die Wunde ohne Behandlung immer grösser wird."

Kisekka ist ein Waisenkind. Als er neun Jahre alt war, starben seine Eltern an Tuberkulose. Zwei Jahre lang haben ihn sein älterer Bruder und seine beiden Schwestern ernährt, obwohl sie selbst noch Kinder waren. Die vier Geschwister wohnten zusammen in einer alten Hütte aus Holz und Lehm unter einem dicken Strohdach. "Ich hätte sterben können. Die Hütte war schlecht gebaut. In der Regenzeit hätte sie einstürzen können. Ich hatte keinen Rollstuhl und wäre nicht raus gekommen. Ich wäre gestorben."


Von Angst und Vorurteilen

Von den NachbarInnen bekamen die Kinder keine Hilfe. Die Dorfgemeinschaft hat sie nie richtig aufgenommen. Kisekkas Behinderung galt als Zeichen der Schande. Seine Stimme klingt traurig, wenn er von dieser Zeit erzählt: "Sie haben Angst vor Kindern wie mir. Sie halten uns für nutzlos, für verhext. Sie behaupten, Gott habe uns verflucht, er würde uns nicht akzeptieren. So ein Leben kann nicht gut sein."

Viele der Narben an seinen Beinen erinnern an diese Jahre, während der er sich nur kriechend bewegen konnte. Als Organised Useful Rehabilitation Service (OURS) auf ihn aufmerksam wurde, war er unterernährt und verwahrlost. Zuerst behandelten die ÄrztInnen seine Wunden und Deformationen. Schon bald ging es ihm deutlich besser. Dann bekam er seinen ersten Rollstuhl und ein Schulstipendium für das Internat der Ruharo-Berufsschule, keine fünfhundert Meter vom Krankenhaus entfernt.

Auf dem staubigen Weg vom Krankenhaus hinüber zum Internatsgebäude kennt Kisekka jedes Loch und jede Wurzel. Er rollt an einem kleinen Bolzplatz vorbei, auf dem einige Jungen mit einem selbstgemachten Ball aus zusammengebundenem Plastiktüten spielen. Die meisten sind barfuss, andere tragen Gummilatschen aus alten Autoreifen. Tor! Kisekka freut sich mit dem Schützen.

Nach dem Spiel bieten zwei Jungen Kisekka an, ihn zu schieben. Der vierzehnjährige Henry erklärt: "Früher war diese Schule ein Krankenhaus. Deshalb akzeptiert sie kranke Kinder. Im Unterricht sollten wir uns gegenseitig helfen, gute Leistungen zu bringen. Das fördert Freundschaft."


Eine Inklusionsschule

Der Direktor der Schule, Chinfred Matota, sitzt auf einem wackeligen Stuhl im fensterlosen Lehrerzimmer und frühstückt. "In unserem Land sind einige Schulen ausgewählt worden, behinderte Kinder zu unterstützen", erklärt er nicht ohne Stolz. "In Mbarara war das unsere Schule."

Mit kleinen Brotfetzen greift der Direktor festen Maisbrei aus einer Schüssel. Er berichtet, dass seine Berufsschule die einzige Inklusionsschule des Bezirks ist. "Das Bewusstsein aller Kinder hat sich verändert. Sie sehen, dass auch SchülerInnen mit Behinderung gute Leistungen bringen können. Und sie erzählen davon, wenn sie nach Hause fahren. Die Kinder fangen an, miteinander zu spielen. So merken alle, dass sie FreundInnen sein können."

Nachdem der Pädagoge sein letztes Stück Brot gegessen hat, giesst er etwas heisses Wasser in die Schüssel. Den restlichen Maisbrei trinkt er als Suppe. "Kisekka ist ein intelligenter Junge, einer der Besten in seiner Klasse. Im Vergleich zu anderen Kindern konzentriert er sich mehr auf das Lernen. Deshalb glaube ich, dass er eine leuchtende Zukunft hat. Vielleicht wird er mal zu einem bekannten Fürsprecher für Kinder mit Behinderungen."

Nachts schläft Kisekka in einem grossen Saal. Zwölf Doppelbetten stehen so eng beieinander, dass kein Platz für Schränke oder Stühle bleibt. "Die Betten sind gut", sagt er. "Es gibt eins oben, eins unten. Ich schlafe immer unten." Jedes Bett wird durch Netze vor Moskitos geschützt. Kisekka schläft gerne in dem Saal: "Ich könnte sowieso nicht allein in einem Raum schlafen. Es gibt viele Gefahren, vor denen die anderen mich beschützen können. Manchmal wollen Diebe etwas in der Schule stehlen. Dann machen sie ein Feuer und alle rennen raus. Wenn sowas passiert, können meine Kameraden mir helfen und meine Sachen aus dem brennenden Raum retten."

Im Alltag ist Kisekka oft auf die Hilfe seiner Kameraden angewiesen. "Mit dem Essen bekomme ich meist Hilfe. Aber manchmal vergessen sie, meinen Teller mitzunehmen, oder sie vergessen, mir ein Brot zu bringen. Wenn es dann nichts mehr in der Küche gibt, muss ich hungrig ins Bett gehen. So ist das halt."

Vor der Küche des Internats bildet sich jeden Mittag eine Warteschlange. In dem verrussten Verschlag aus Wellblechplatten kocht eine alte Frau Bohnen, Maisbrei und ein wenig Gemüse auf einer offenen Feuerstelle. Das Essen für Kisekka holt meist sein Freund Musimand Amon: "Ich bringe ihm auch das Wasser, mit dem er seine Kleider wäscht. Ich helfe ihm, weil er mein Freund ist. Er ist ein guter Mensch. Ich weiss, dass es ihm gut tut, in die Schule zu gehen. Er ist zwar gelähmt; aber eines Tages wird er einen Beruf ausüben und sein Leben organisieren können."


Neue Hoffnung durch Bildung

Mit Mädchen spricht Kisekka so gut wie nie. Im Süden Ugandas ist es nicht üblich, dass Jungen und Mädchen ausserhalb des Unterrichts Kontakt haben. Trotzdem weiss die Klassensprecherin Nyakado Sara gut Bescheid über Kisekkas Situation: "Es ist nicht leicht für ihn. Manchmal will er nachts raus aus dem Bett, um Pipi zu machen. Aber die anderen wollen schlafen und keiner hilft ihm. Dann macht er einfach ins Bett. Deshalb riecht er manchmal so komisch. Ausserdem fällt ihm das Baden schwer. Es tut mir wirklich leid, dass ich ihm nicht helfen kann. Ich würde gerne mit ihm sprechen, aber das geht nicht. Ich bin ein Mädchen und er ist ein Junge. Das würde falsch aussehen. Die Kinder würden anfangen zu reden."

In der Ruharo-Berufsschule ist der Sozialpädagoge Mana Djosam dafür zuständig, Kinder wie Kisekka unterstützend zu begleiten: "Früher haben die Eltern dieser Schule noch gedacht, ihre Kinder würden krank werden, wenn sie ein behindertes Kind berühren. Sie glaubten, es gäbe einen Fluch. Aber mit der Zeit glauben immer wenige Leute solche Sachen. Sie staunen, wenn sie sehen, dass Kisekka etwas bauen kann, am Computer arbeitet, etwas leistet, das dem Land nützt. Ich bin mir sicher, dass das Stigma überwunden werden kann, wenn alle sehen, welches Potenzial in diesen Kindern steckt."

Nachmittags steht Englischunterricht auf dem Stundenplan. Fünfzig Schülerinnen und Schüler drängen sich in den kleinen Klassenraum. Der Lehrer ist bemüht, möglichst viele Kinder am Unterricht zu beteiligen.

Obwohl Kisekka als Kind mehrere Schuljahre verpasst hat, ist er schon fast zu seinen Altersgenossen aufgeschlossen. Er will beweisen, dass auch Kinder, die im Rollstuhl sitzen, gute Leistungen bringen können: "Manche Leute sehen uns als nutzlos an. Es ist wirklich blöd, behinderten Kindern keine Ausbildung zu geben. Viele Jungen und Mädchen werden geopfert, obwohl man gar nicht weiss, was in ihnen steckt."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44/2016 - 72. Jahrgang - 2. Dezember 2016, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2016

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