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VORWÄRTS/1164: 100 Jahre Dadaismus


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 03/04 vom 29. Januar 2016

100 Jahre Dadaismus

Von Michi Stegmaier


Am 5. Februar werden Dada und das Cabaret Voltaire hundert Jahre alt. Und wenn es eine Kunstbewegung gab, die in Zürich ihren Ursprung hatte, dann ist es der Dadaismus. Entsprechend pompös und standortgerecht vermarktet, wird der Dadaismus dieses Jahr in Zürich abgefeiert.

Es war ein kalter Februarabend im Jahre 1916 als an der Spiegelgasse 1 im Zürcher Niederdorf sich Merkwürdiges tat, die erste Dada-Soirée das Publikum erheiterte und das völlig überfüllte Cabaret Voltaire geboren wurde. Damals tobte der Erste Weltkrieg mit seinem unbeschreiblichen Gemetzel, Giftgaseinsätzen und einer Vernichtungsmaschinerie, die die Menschheit zuvor nicht gesehen hatte. Zahlreiche Kulturschaffende, politisch Verfolgte und Intellektuelle flohen vor dem Krieg in die Schweiz, wo sie in Zürich Zuflucht fanden. Zusammen mit Hans Arp und anderen suchte Hugo Ball nach einer elementaren Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der damaligen Zeit heilen sollte.


BürgerInnen erschrecken für die Freiheit

Die DadaistInnen wollten dazumal dem Bürgertum einen gehörigen Schrecken einjagen, Hierarchien auflösen und gesellschaftliche Werte sprengen. Sie stellten die bisherige Kunst in Frage, indem sie deren Abstraktion und Schönheit durch satirische Überspitzung zu reinen Unsinnsammelsurien degradierten. Und Dada war eine Reaktion auf die Sinnlosigkeit und mörderischen Dimensionen des Ersten Weltkrieges, auch wenn der Dadaismus mit seiner semiotischen Abstraktion wohl zu radikal war, um als politische Waffe zu taugen.

Zwar war mit der legendären Künstlerkneipe nach vier Monaten schon wieder Schluss, doch der Dadaismus blieb und fand bald in vielen deutschen Städten, in New York, in Paris und gar in Japan seine Ableger. Und bis heute beeinflusst er mit seinem ewigen Narrenspiel zwischen Chaos und Ordnung, Sinn und Unsinn unbestritten den Situationismus, die Pop-Art und die zeitgenössische Kunst.

Trotzdem lässt sich nicht wirklich definieren, was genau Dada eigentlich ist. Avantgardistische Kunstströmung oder Antikunst? Ein politisches Statement und kritische Philosophie? So frotzelte schon 1919 der Aktionskünstler und Schriftsteller Johannes Baader, einer der frühen Anhänger der Bewegung: "Was Dada ist, wissen nicht einmal die Dadaisten, sondern nur der Ober-Dada, und der sagt es niemandem." Und im Dada-Handbuch des Cabaret-Voltaire-Direktors Adrian Notz ist zur Begriffsdefinition nachzulesen: "Dada hat alle damals bestehenden Avantgardeströmungen wie den Expressionismus, den Futurismus und den Kubismus in sich aufgenommen - und verdaut und unverdaut wieder von sich gegeben."


165 Feiertage für Dada

Und nun soll also ausgiebig gefestet werden mit 165 Feiertagen: Einen für jede und jeden der 165 DadaistInnen, die in der Dauerausstellung "Dada in Nuce" portraitiert sind. Dabei fokussiert sich das Cabaret Voltaire wieder verstärkt auf zeitgenössische KünstlerInnen, die sich mit dem Dadaismus auseinandersetzen.

Und trotzdem: Lange waren Dada und das Cabaret Voltaire in Zürich vergessen. Als im Jahr 2002 die Umnutzung des Gebäudes an der Spiegelgasse 1 in eine Apotheke und Eigentumswohnung drohte, wurde das Gebäude von der Zürcher KünstlerInnengruppe Kroesus kurzerhand besetzt. Erst durch diese illegale Besetzung rückten die Liegenschaft und seine kunsthistorische Bedeutung erstmals nach Jahrzehnten des Verdrängens überhaupt wieder ins öffentliche Bewusstsein. Zwar wurden die BesetzerInnen vertrieben und das Haus von der Polizei geräumt, doch gleichzeitig von der Stadt Zürich 1 aufgekauft, das Cabaret Voltaire institutionalisiert und professionalisiert. Heute ist der Geburtsort des Dadaismus nur noch schwer aus Zürichs kulturellem Angebot wegzudenken.

Dada Jubiläum im Cabaret Voltaire vom 5. Februar bis 18. Juli

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 03/04 - 73. Jahrgang - 29. Januar 2016, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2016

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