Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1141: Kobanê in Bern


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 39/40 vom 6. November 2015

Kobanê in Bern

Von Patricia D'Incau


Mit einem grossen Fest wurden in Bern für den Wiederaufbau von Kobanê Spenden gesammelt. Die Situation der KurdInnen in Syrien und der Türkei ist nach wie vor prekär.


"Der Widerstand in Kobanê ist der Widerstand der Menschheit", sagte Mehdi Öztüzün, als er am Samstag via Skype zu den BesucherInnen des Kobanê-Fests sprach. Der Anwalt des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan hätte an diesem Tag eigentlich selber in der Grossen Halle der Berner Reitschule sein sollen, wurde aber an der Ausreise aus der Türkei gehindert. Vor Ort sein konnte hingegen eine Vertretung der kurdischen Partei PYD, unter der im Jahr 2013 die Räterepublik in Rojava ausgerufen worden war.

Organisiert wurde der Solidaritätsanlass in Bern von mehreren kurdischen, türkischen und schweizerischen Organisationen mit dem Ziel, Geld für Kobanê zu sammeln. Die in Syrien gelegene Stadt, nahe der türkischen Grenze, wurde vor rund einem Jahr durch Angriffe des IS weitgehend zerstört. Nachdem es den kurdischen KämpferInnen der Frauenverteidigungseinheiten YPJ und Volksverteidigungseinheiten YPG nach monatelangen Gefechten gelungen war, Kobanê vom IS zu befreien, bemühen sich BewohnerInnen und internationale UnterstützerInnen um den Wiederaufbau der Stadt.

Die Veranstaltung in Bern fand am Vortag des "Internationalen Solidaritätstags mit Kobanê" statt, zu dem der "Exekutivausschuss des Kantons Kobanê" für den 1. November aufgerufen hatte. Am Tag, an dem in der Türkei die Wahlen abgehalten wurden, die über den Fortbestand des Erdoğan-Regimes entscheiden sollten. Die deutsche Zeitung "Neues Deutschland" meldete im Verlaufe des Wahlsonntags Behinderungen des Urnengangs. So hätten Polizisten und Soldaten die WählerInnen eingeschüchtert, vielfach seien Bewaffnete unmittelbar an den Wahlurnen positioniert gewesen. Am Ende stand die AKP als Siegerin da. Präsident Erdoğan bleibt an der Macht; die Hoffnung auf einen raschen Kurswechsel wurde vorerst zerschlagen.


Erdoğans Offensive

Seit diesem Sommer führt Erdoğan einen gewaltsamen Feldzug gegen KurdInnen und Oppositionelle in der Türkei sowie gegen die kurdischen KämpferInnen in Syrien. Nachdem am 20. Juli in der türkischen Grenzstadt Suruç bei einem Anschlag des IS auf ein kurdisches Kulturzentrum 32 Menschen getötet wurden, hatte die türkische Regierung militärische Schritte angekündigt. Vordergründig gegen den IS. Doch bald zeigte sich, wem die Offensive tatsächlich gelten sollte: nicht den Angreifern, sondern den Angegriffenen von Suruç.

Während in der Türkei bei einer Welle von Razzien hunderte Menschen verhaftet und kurdisch-dominierte Orte wie die Stadt Cizre tagelang abgeriegelt wurden, beendete die AKP-Regierung unversehens den Waffenstillstand mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK und begann mit dem militärischen Schlag gegen PKK- und YPG-Stellungen in Syrien. Seither haben sich die KurdInnen sowohl gegen den IS als auch gegen die Türkei zu verteidigen.

Druck wird mittlerweile aber auch von anderer Seite ausgeübt. Zuletzt sorgte etwa ein Bericht von Amnesty International für Aufsehen, in dem den kurdischen KämpferInnen "Kriegsverbrechen" vorgeworfen werden. So soll die YPG Dörfer niedergerissen und tausende Menschen vertrieben haben. Eine der wenigen Gegendarstellungen dazu lieferte der deutsche Journalist Nick Brauns. Es sei aus dem Bericht nicht ersichtlich, "wie viele Häuser im Kampf zerstört wurden und wie viele anschliessend aus Angst vor regelmässig vom IS zurückgelassenen Sprengfallen, die zahlreichen kurdischen Kämpfern das Leben gekostet haben, planiert wurden", schrieb Brauns in der Zeitung "junge Welt".

Ähnliches berichten AktivistInnen aus der Schweiz, die im Verlaufe des Jahres nach Kobanê gereist waren. "Der IS hat viele Häuser und Strassen vermint (...). Wir sahen vom IS gegrabene Schützengräben (...) Foltereinrichtungen und Hinrichtungsplätze. Wir fuhren durch vorwiegend von AraberInnen bewohnte Gebiete und sahen, wie zum Beispiel in Tel Abyad das gesellschaftliche und freie Leben Einkehr genommen hat. AraberInnen und KurdInnen leben dort ohne Hass miteinander, die YPG/YPJ ist nicht nur akzeptiert, sondern wird willkommen geheissen", schreiben sie in einem Beitrag, der kürzlich auf der Seite der Revolutionären Jugend Bern veröffentlicht wurde.


Repression gegen Proteste

Bereits seit langem wird hierzulande versucht, auf die Situation in der Türkei und in Syrien aufmerksam zu machen. Aufsehen erregte jedoch vor allem der Zusammenstoss zwischen den türkischen NationalistInnen und kurdischen DemonstrantInnen vom 12. September in Bern. An diesem Tag hatte die AKP-nahe Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) zu einer Kundgebung aufgerufen, die KurdInnen und AktivistInnen zu verhindern versuchten. Dabei waren mehrere Menschen schwer verletzt worden, als ein Auto absichtlich in eine Gruppe der GegendemonstrantInnen raste.

Dass es sich hierbei um einen gezielten Angriff auf (pro-)kurdische Kräfte gehandelt hat, wurde gemeinhin heruntergespielt; die Tatsache, dass sich unter der UETD auch AnhängerInnen der rechtsradikalen türkischen Gruppierung "Graue Wölfe" befanden, vernachlässigt oder kleingeredet. Und auch der Hintergrund, vor dem sich die Gegendemonstration ereignet hatte - die AKP-Offensive gegen kurdische Stellungen, die Razzien und Übergriffe sowie die erneute Abriegelung von Cizre - wurde grossflächig ausgelassen.

Zum Thema gemacht wurde stattdessen das "Gewaltpotenzial" auf Seiten der kurdischen DemonstrantInnen, mit dem die Polizei ihr rigoroses Vorgehen begründet hatte. Videoaufnahmen, die zeigen, wie die "Sicherheitskräfte" dabei mit Pfefferspray gegen ältere Männer und Frauen vorgehen, werfen indes ein anderes Licht auf das erwähnte "Gewaltpotenzial".


Im Visier des NBD?

Doch nicht nur die Augen der Polizei, sondern auch diejenigen des Nachrichtendienstes sind auf die Aktivitäten der KurdInnen und SympathisantInnen in der Schweiz gerichtet. Dies im Zusammenhang mit der PKK, die hierzulande nicht verboten, vom NBD jedoch "als gewaltextremistische und terroristische Gruppierung" angesehen wird, "deren Gewaltpotenzial nicht abgenommen hat", wie aus dem nachrichtendienstlichen Lagebericht "Sicherheit Schweiz 2015" hervorgeht. Der Geheimdienst beschäftigt sich dabei mit Verbindungen aus der Schweiz zu "linksextremen Gruppierungen aus der Türkei und zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)" und hält fest, dass "gemeinsame Aktionen möglich sind".

Dazu gehören nebst "Rekrutierungen" auch "Geldsammelaktionen zu Gunsten der PKK", wie aus einem kürzlich erschienenen Beitrag des Onlineportals "Swissinfo" hervorgeht. Auf die Nachfrage, ob das "Fest für Kobanê" in diese Kategorie fällt, wollte der NBD sich allerdings nicht äussern. Dass der Anlass vom Samstag unter Beobachtung stand, ist jedoch durchaus denkbar, zumal nicht nur Filmvorführungen und musikalische Unterhaltung auf dem Programm standen, sondern auch politische Beiträge. Von der PYD - und eben: vom Anwalt des PKK-Vorsitzenden Öcalan.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40 - 71. Jahrgang - 6. November 2015, S. 2
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang