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VORWÄRTS/1132: Ende der "Ehe 2. Klasse"?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 31/32 vom 11. September 2015

Ende der "Ehe 2. Klasse"?

Von Sabine Hunziker


Die parlamentarische Initiative "Ehe für alle" ist einen Schritt weiter gekommen.


Die Rechtskommission des Ständerates stimmte kürzlich der parlamentarischen Initiative "Ehe für alle" der Grünliberalen Fraktion zu. Nun kann an einem Erlass gearbeitet werden, über den dann das Parlament befinden wird. Das heisst auch für Paare mit LGBT-Lebensweise, dass sich etwas verändern wird. Neu sollen sie wie in Frankreich eine eingetragene Partnerschaft eingehen können. Die Initiative fordert, dass alle rechtlich geregelten Lebensgemeinschaften für alle Paare geöffnet werden, ungeachtet ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. Das würde ein Ende der "Ehe zweiter Klasse" bedeuten. In den Artikeln 14 und 38 der Bundesverfassung könnte der Begriff der Lebensgemeinschaft verankert werden. Lebensgemeinschaften wie die eingetragene Partnerschaft und das Konkubinat verdienten den gleichen Grundrechtsschutz wie die Ehe, heisst es in der Begründung zur Initiative. Menschen heiraten unter anderem, weil sie ihre Lebensgemeinschaft auf eine dauerhafte Basis stellen wollen, sich gegenseitig finanziell absichern und gegenüber der Gesellschaft ihre Verbundenheit ausdrücken möchten. Einem Teil der Gesellschaft in der Schweiz werden diese Rechte jedoch verweigert: Das heisst, ihnen steht nur eine Ehe zweiter Klasse in Form der eingetragenen Partnerschaft zur Verfügung. Diese Deklassierung aufgrund biologischer Unterschiede ist mit einem liberalen Gesellschaftsbild und einem modernen Rechtsstaat unvereinbar.

Die zivile Heirat von Paaren mit LGBT-Lebensweise soll zwar ermöglicht werden, allerdings wahrscheinlich ohne automatisches Recht zur Adoption. Damit soll die Vorlage mehrheitsfähig werden. Mit der parlamentarischen Initiative wird zudem nicht beabsichtigt, den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften vorzuschreiben, wer bei ihnen "vor den Altar" treten darf. Sie bestimmen dies weiterhin selber.

Lange hat es gedauert, bis sich diese Einsicht in der Schweiz entwickelte. Am 5. Dezember 2013 wurde die parlamentarische Initiative "Ehe für alle" durch die Nationalratsfraktion der Grünliberalen Partei eingereicht. Anderswo ist man aber weiter. In 19 Ländern weltweit dürfen nun zum Beispiel Lesben und Schwule heiraten - nicht nur ihre Partnerschaft eintragen lassen. Als EU-Land hat ausgerechnet das erzkatholisch geprägte Irland am 22. Mai in einer Volksabstimmung für die völlige Gleichstellung der Ehe gleichgeschlechtlicher Paare gestimmt. Weltweit haben auch andere Länder, darunter Frankreich, Spanien, Portugal, Belgien, die Niederlande, Norwegen, Schweden oder Dänemark, die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert.


Interview mit Margret Kiener Nellen, Nationalrätin SP

Vorwärts: Worum geht es bei der Initiative "Ehe für alle"?

Kiener Nellen: Es geht ganz einfach um die Beseitigung einer elementaren Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Eine Eheschliessung mit allen zivilrechtlichen Konsequenzen ist derzeit für gleichgeschlechtliche Paare in der Schweiz noch nicht möglich. Mehrere - auch konservative - Länder von Europa zeigen, dass diese Diskriminierung überholt ist und deshalb wird es auch in der Schweiz Zeit, die Ehe für alle zu öffnen.


vorwärts: Die Grünliberalen haben die Initiative eingereicht: warum hat diese Partei das Thema aufgegriffen und nicht die SP oder die Grüne Partei?

Kiener Nellen: Die SP ist deutlich länger an dem Thema dran als die GLP. Es ist für sie aber ein zu wichtiges Thema, um es für die parteipolitische Profilierung zu nutzen und damit das Anliegen Risiken auszusetzen. Wir sind zudem - im Einklang mit führenden FamilienrechtlerInnen - der Ansicht, dass es für die Einführung der Ehe keine Verfassungsänderung braucht, sondern dass dies auch über den Gesetzesweg, das heisst über eine Revision des Zivilgesetzbuches (ZGB), geschehen kann.


vorwärts: Wie sieht die Situation für die Möglichkeit für Menschen mit LGBT-Lebensweise in den Nachbarländern aus?

Kiener Nellen: Mit Irland und Spanien ist auch das konservative Ausland weiter als die Schweiz. Am grössten sind die Schwierigkeiten - leider mit zunehmender Tendenz - im osteuropäischen Raum.


vorwärts: Könnten neu auch gleichgeschlechtliche Paare den Bund der Ehe eingehen, wäre ihnen allenfalls erlaubt, Kinder zu adoptieren. Wie hoch ist mit diesem emotional aufgeladenen Thema die Chance, dass "Ehe für alle" erfolgreich sein kann?

Kiener Nellen: Die SP setzt sich klar für die Möglichkeit der Volladoption für gleichgeschlechtliche Paare (ob verheiratet oder in eingetragener Partnerschaft) ein. Aber natürlich ist mit einer Volksabstimmung über das Thema zurzeit noch ein gewisses Risiko verbunden. Das ist mit ein Grund, weswegen die SP die Einführung der Möglichkeit der Ehe für alle auf dem Gesetzesweg ohne obligatorisches Referendum bevorzugen würde.


vorwärts: Wie war die Situation bisher für homosexuelle Paare - wenn sie eine Lebensgemeinschaft eingingen?

Kiener Nellen: Mit dem Partnerschaftsgesetz wurde ein wichtiger Schritt getan. Trotzdem ist die eingetragene Partnerschaft nur eine "Ehe-light", weil eben zum Beispiel das Recht auf Adoption ausgeklammert blieb und auch der gesellschaftliche Status der eingetragenen Partnerschaft weniger verbindlich ist als jener der Ehe.


vorwärts: Der Ständerat sagte Ja zur "Ehe für alle" - wie geht es nun weiter? Wann kommt es zur Abstimmung?

Kiener Nellen: Bis zur Abstimmung dauert es noch Jahre. Zuerst geht jetzt die parlamentarische Initiative zurück an die Rechtskommission des Nationalrates, welcher eine konkrete Vorlage ausarbeiten muss. Diese muss anschliessend wie jede Gesetzesvorlage ordentlich von beiden Räten beraten werden. Dabei ist es übrigens immer noch möglich, dass auf eine Verfassungsänderung verzichtet wird und eine Regelung auf Gesetzesebene ausgearbeitet wird, die nur dann vors Volk kommt, wenn dagegen das Referendum ergriffen würde.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 31/32 - 71. Jahrgang - 11. September 2015, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2015

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