Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1128: Über das Bescheidwissen und seinen Inhalt


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 29/30 vom 28. August 2015

Über das Bescheidwissen und seinen Inhalt

Von Thomas Schwendener


Vor Kurzem ist das Buch "Der bürgerliche Materialismus und seine Gegenspieler" des Autoren Meinhard Creydt erschienen. Darin kritisiert der Psychologe und Soziologe die Vorstellungen des bürgerlichen Materialismus und seiner linken AnhängerInnen. Der folgende Text ist eine Besprechung der stärksten Momente des Buches: der Kritik an der "Marxistischen Gruppe" und ihrer Nachfolge-Zeitschrift "Gegenstandpunkt".


Das politische Internetverhalten junger Männer zeichnet sich in aller Regel dadurch aus, dass knapp Verstandenes mit grosser Geste und Vehemenz vertreten wird. Jeder, der sich ab und an in den entsprechenden Winkeln des Internets aufhält, kennt es: Irgendwann betritt einer den Raum, der sich durch besondere Prinzipienfestigkeit, hohe moralische Autorität oder das Bescheidwissen auszeichnet. Während die ersten beiden Eigenschaften im Spektrum des Schulbuchmarxismus beziehungsweise der Antideutschen anzutreffen sind und ihnen mittels Argumenten meist relativ einfach beizukommen ist - wobei die Betreffenden das selbstverständlich selber kaum mitkriegen - wird es bei den Anhängern der Zeitschrift "Gegenstandpunkt" (GSP) etwas schwieriger. Schliesslich ist das Mittel der Profilierung dieser Bescheidwissenden das "bessere Argument" und ihr proklamierter Zweck die Erklärung und Kritik eines Gegenstandes.


Schema und Denkbeschränkung

Selbstverständlich kann man längst nicht alle FreundInnen des GSP der Kategorie des profilierungsbegierigen Bescheidwissers zuschlagen, aber dennoch soll die Frage gestattet sein, warum unter seinen Anhängern dieser Typus recht weit verbreitet ist. Laut Creydt bedienen die AutorInnen des GSP die "Mentalitäten (...) Belehren und Rechthaben" (128), weil sie die "nichtintendierten, indirekten und latenten Effekte ihres Tuns" (129) keiner Aufmerksamkeit würdigen. In den theoretischen Urteilsverkündungen des GSP geht es "nicht darum, sich einer Position gewachsen zu zeigen, sondern abzufertigen und zu verreissen" (217). Statt sich auf einen Gegenstand einzulassen und ihn in seiner oftmals widersprüchlichen Realität theoretisch zu entwickeln, wird an ihm die eigene argumentative Überlegenheit demonstriert. Der intellektuelle Zentralismus des "Gegenstandpunktes" - bei einigen AdeptInnen existiert das Wissen gewissermassen in von den eigenen geistigen Potenzen getrennten (Lehr-)Personen - bringt dabei allerhand unerquickliche Phänomene hervor: Nur wenige AnhängerInnen der grauen Hefte kennen überhaupt eine andere politische Sprache als jene des GSP-Diskurses. Komplexe Problematiken werden "daraufhin durchfiltert, ob (...) axiomatische Grund-Sätze verletzt oder bestätigt werden" (187), was zu einer ganz eigenen Art der Aufmerksamkeit führt. Da das eigene "nicht bewusste Denknetzwerk" - das sich auch in seiner sprachlichen Reproduktion zeigt - nicht thematisiert wird, wird "die Aufnahme neuer Erkenntnisse (...) dann massiv beeinträchtigt, wenn sie zu den bestehenden Bewusstseinsinhalten nicht passen" (125) und damit im Denken isoliert bleiben. Damit wird eine produktive Auseinandersetzung mit anderem Denken unterlaufen und "es bleibt dann meist dabei, den Bekehrten zu predigen" (212). Einige der Vorhaltungen treffen bestimmt auf verschiedene theoretische Strömungen zu; aber es ist doch frappant, wie sprachlich und gedanklich uniform es in den betreffenden Milieus zu und her geht.


Subjekt, Interesse, Psychologie

Natürlich könnte man einwenden, dass das alles eigentlich keine Rolle spielte, wenn nur die Inhalte und Argumente richtig seien. Tatsächlich muss man dem GSP zumindest zugutehalten, dass er allerhand (linke) Illusionen und Dogmen richtig destruiert hat und damit die theoretische Erhabenheit seiner AnhängerInnen über die linke Szene zumindest im Ansatz in der Realität fundiert ist. Bloss sind die entwickelten Inhalte laut Creydt meist keineswegs korrekt. Vielmehr seien "viele der MG/GSP-Texte (...) ihrem Gegenstand wenig gewachsen" (130); was man zum Teil auch auf die theoretische Verfahrensweise, den endgültigen agitatorischen Urteilsspruch, beziehen kann. Im grössten und stärksten Teil des Buches widmet sich der Autor redlich und unaufgeregt der Theorieproduktion der MG/GSP und weist nach, wo sie sich irren.

Das Meiste davon weiss zu überzeugen: Der GSP macht die KapitalistInnen mit ihren Zwecken zum Subjekt des Kapitalismus, statt die ökonomische Eigengesetzlichkeit des Kapitals zu thematisieren und zu entwickeln, wie die Individuen in ihrem "Aufeinanderstossen" eine "über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht" (Karl Marx, MEW 42, 127) produzieren. Zudem fassen MG und GSP "die Arbeitnehmerinteressen nicht als das auf, was sie systemimmanent sind, sondern laden sie stillschweigend auf mit einem anderen Inhalt" (60). Da gibt es dann nicht mehr ein gültiges Interesse der LohnbezieherInnen sich gegen, aber auch mit dem Kapital zu reproduzieren, die ArbeiterInnen machen laut GSP schlicht einen Fehler, weil ihre Abhängigkeit vom Unternehmer nicht "ihr Mittel" (GSP 4/96, 82) sei. Hier müsste man die Kalkulation der Proletarisierten mal ernst nehmen, die sie in Hinblick auf Heimcomputer, Kleinwagen und Sommerferien vornehmen. Das rationalistische Weltwild der Propagandatruppe bleibt auch blind für psychologische Prozesse, die eben nicht einfach ein Resultat der gedanklichen Verarbeitung der Welt sind. "Gegen die kritikwürdige Position, Gefühle eines Individuums hätten nichts mit seinen Gedanken zu tun, wird die komplementär problematische Position gesetzt, Gefühle seien nichts anderes als das Resultat von Gedanken" (112). Demgegenüber entwickelt Creydt in einem eigenen Kapitel Beschaffenheit und Zusammenhang von Denkprozessen und psychischen Prozessen.

Doch nicht nur inhaltliche Fehler werden offengelegt, auch die Vorstellung der Aufklärung der Menschen durch gute Argumente wird einer Kritik unterzogen. Dabei thematisiert Creydt die Präformation des bürgerlichen Bewusstseins durch "objektive Gedankenformen", gegen die Aufklärung kaum ankommt. Zudem weist er auf den ganz und gar äusserlichen Standpunkt des "Gegenstandpunktes" hin: "Für MG/GSP existiert keine in der gesellschaftlichen Realität vorhandene Tendenz, auf die sie sich einlassen können als etwas, das es zu verstärken und entwickeln gilt. MG/GSP treten mit ihren Fensterreden der gesellschaftlichen Realität von aussen entgegen." (212)


Der Staat als Schöpfergott

Einen besonderen Stellenwert im Theoriegebäude des GSP nimmt der Staat ein. Auch diesbezüglich ist der MG-Agitator sich seiner Verantwortung gegenüber den AnhängerInnen bewusst und erklärt in Bezug auf die sogenannte Staatsableitungsdebatte der 70er Jahre vollmundig: Die vorliegende Analyse "ist (...) die Staatsableitung, beendet also jene unselige Debatte für all diejenigen, die ein Interesse an der Erklärung des Staates haben (...)" (Karl Held, der bürgerliche Staat, 1). In der Staatsableitungsdebatte wurde versucht, die Form Staat aus den ökonomischen Verhältnissen abzuleiten und zu zeigen, warum eine ausserökonomische Zwangsgewalt für die Reproduktion des Kapitalismus notwendig ist und wie diese mit den Produktionsverhältnissen verbunden ist. Bei MG/GSP nun gerät der Staat zum Demiurgen der bürgerlichen Gesellschaft, diese "gilt als Resultat des staatlichen Wirkens" (66). Was als komplexe wechselseitige Voraussetzung und Hervorbringung verstanden werden muss, wird beim GSP zur blossen Einbahnstrasse. Denn "aus den marktwirtschaftlichen Demokratien des Westens ist (...) zu lernen, dass sie mit ihrer Gewalt tatsächlich alles das schaffen, worauf sie sich wie auf eine vorfindliche 'Lage' (...) beziehen" (GSP 1/1994, S. 19). Es ist nun nicht von der Hand zu weisen, dass eine Gesellschaft die auf Tauschbeziehungen beruht etwa auch staatlich garantierte Rechtsbeziehungen kennen muss, damit die über den Tausch vermittelte Aneignung nicht gewaltsam gestört wird. Das Recht wird in der Theorie des GSP aber nicht als Notwendigkeit der bürgerlichen Gesellschaft verstanden, sondern die bürgerliche Gesellschaft gilt als Resultat staatlichen Wirkens. Damit stellt der GSP den Zusammenhang schlicht auf den Kopf. Es gälte gerade den notwendigen Zusammenhang von Staat und Ökonomie in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit zu entwickeln, statt die bürgerliche Gesellschaft schlicht aus dem Staat folgen zu lassen.

Hiess es beim frühen Marx noch, dass es ein Aberglaube sei, "dass das bürgerliche Leben vom Staat zusammengehalten werden müsse, während umgekehrt in der Wirklichkeit der Staat von dem bürgerlichen Leben zusammengehalten wird" (MEW 2, 127), wird beim Gegenstandpunkt nicht nur die Gesellschaft vom Staat geschaffen, sondern der Staat muss auch die Allgemeinheit gegen die reine Partikularität stiften. Die Staatstheorie des GSP kennt "keine dem ökonomischen Geschehen immanenten Motive für den Willkürverzicht der Bürger oder für den Verzicht auf ihren unmittelbaren Egoismus und für die Verfolgung der Interessen unter Anerkennung der Bedingungen des Systems der Privatinteressen" (65). Nein, laut MG handelt es sich beim Kapitalismus um "gewaltsam geschaffene und erhaltene soziale Verhältnisse" (Karl Held, Die Psychologie des bürgerlichen Individuums, 17). Man sollte aber weder am Selbstverständnis der BürgerInnen anknüpfen, die ihre Unabhängigkeit und ihr Sonderinteresse verabsolutieren, noch sollte man die Relativierung ihrer Partikularinteressen rein der staatlichen Sphäre zuschreiben. Denn im Gegensatz etwa zum Feudalismus sind die gesellschaftlichen Beziehungen und die Aneignung des Mehrprodukts im Kapitalismus gerade nicht notwendig mit ausserökonomischem Zwang verbunden, sondern mit der Gleichheit und Freiheit der Tauschenden in der Zirkulationssphäre. Die oben erwähnten Tauschbeziehungen sind Willensbeziehungen, die die Tauschenden freiwillig eingehen; wenn auch die staatliche Gewalt den Regelbruch im Ausnahmefall sanktionieren muss.


Eine Aussenansicht

Man kann an Creydts Buch den schwer zugänglichen Stil kritisieren, der sich bereits in der Formulierung der Untertitel zeigt. Zudem kann man bemängeln, dass das auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau Entwickelte an wenigen Stellen nicht so recht zum historischen Kurs des Kapitalismus passen will. Auch hat man etwas den Eindruck, dass der Autor an der einen oder anderen Stelle eine radikale Pointe verfehlt, wenn es etwa um das Verhältnis von Arbeit und Freizeit oder um die Menschenrechte geht. Das Buch ist aber auf jeden Fall lesenswert und die stärksten Passagen, nämlich die Kritik an MG/ GSP, sind gut informiert und sauber durchargumentiert. Das Buch sei an dieser Stelle unbedingt jenen GSP-LeserInnen empfohlen, die ihre Denkfabrik mal von aussen betrachten wollen; vielleicht leuchtet ja sogar das eine oder andere Argument ein.


Meinhard Creydt:
Der bürgerliche Materialismus und seine Gegenspieler.
Interessenpolitik, Autonomie und linke Denkfallen;
VSA-Verlag; Hamburg 2015; 244 Seiten

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 29/30 - 71. Jahrgang - 28. August 2015, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang