vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 27/28 vom 17. Juli 2015
Ukrainischem Antifaschisten droht Arbeitslager
Von Jonas Komposch
Im Mai 2014 entführte der russische Geheimdienst FSB mehrere Ukrainer und setzte sie in Moskau In Untersuchungshaft. Unter den Gefangenen ist auch der bekannte Krimer Antifaschist Alexander Koltschenko. Ihm wird vorgeworfen, Anschläge geplant zu haben und Mitglied des rechtsextremen Rechten Sektors zu sein.
Der Fall ist praktisch unbekannt. Doch immer mehr
MenschenrechtlerInnen und linke Organisationen schlagen Alarm:
Mindestens vier ukrainischen Staatsangehörigen droht derzeit in
Russland eine Verurteilung wegen angeblichen "terroristischen
Aktivitäten". Dafür könnten ihnen bis zu zwanzig Jahre Haft und
Arbeitslager bevorstehen. Die Ukrainer wurden Mitte Mai letzten Jahres
in verschiedenen Städten der Krim verhaftet - nicht von ukrainischen
Behörden, sondern vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB. Dieser
behauptete in einer Pressemitteilung, bei den Verhafteten handle es
sich um Mitglieder der rechtsextremen Vereinigung "Rechter Sektor".
Nur wenige Tage später wurden die Männer nach Moskau überführt und im
geheimdienstlich betriebenen Lefortovo-Gefängnis in Einzelhaft
gesteckt. Seither gab es zu diesem Fall keine offiziellen
Verlautbarungen mehr und auch von den AnwältInnen der Gefangenen ist
nichts zu vernehmen, sie unterzeichneten für den "Krimer Fall" eine
Geheimhaltungserklärung.
Die Strafandrohungen sind aber durchaus ernst gemeint. Bereits wurde der Jurist und Fotograf Gennady Afanasjew - ein Verhafteter, der sich im Verhör kooperativ zeigte und Aussagen über Dritte machte - zu sieben Jahren Haft strenger Vollzugsart verurteilt. Wohl zu Recht befürchten nun die Angehörigen des Antifaschisten Alexander Koltschenko, dass sein Urteil noch härter ausfallen wird. Koltschenko verweigert offenbar bis heute jedes Schuldeingeständnis und kann daher keine Milde erwarten.
Die politischen Hintergründe der angeblichen "Terroristen" sind unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen nur die Herkunft von der annektierten Krim-Halbinsel und die Teilnahme an Protesten gegen den ehemaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowytsch. Der bekannteste Gefangene ist der Filmregisseur Oleg Senzow. Ihm wird vorgeworfen, Chef der "Terrorzelle" zu sein, die unter anderem ein Lenin-Denkmal hätte sprengen wollen. Tatsächlich beteiligte sich Senzow aktiv am "Auto-Maidan", den motorisierten Strassenblockaden gegen das alte Regime, organisierte Proteste und trat für Bürgerrechte und die ukrainische Einheit ein. In der Filmszene bekannt durch den Streifen "Gamer" ist ihm die Unterstützung von internationalen Berufsverbänden und Filmakademien gewiss. Ken Loach, Roberto Benigni und andere berühmte CineastInnen wandten sich in einem Protestschreiben direkt an Putin.
Der 25-jährige Student Alexander Koltschenko hingegen gehörte während den Maidan-Protesten nicht zur liberalen-prowestlichen Opposition, sondern versuchte mit anderen Linksradikalen die Bewegung in eine emanzipatorische Richtung zu führen. Wie seine Angehörigen und die ukrainische "Autonome ArbeiterInnen Union" berichten, war Koltschenko als Anarchist bekannt und beteiligte sich intensiv an antifaschistischen, ökologischen und gewerkschaftlichen Kämpfen. Auch als Student und als Postangestellter sei Koltschenko stets politisch aufgefallen. In einem Interview vom letzten Oktober zeigte sich der Inhaftierte denn auch ungebrochen, er werde weiterkämpfen.
Die Anklagen gegen die liberalen bis linksradikalen Ukrainer mögen absurd erscheinen. In all ihrem Handeln bewiesen die angeblichen Rechtsterroristen ihre antifaschistische Grundhaltung, eine Verbindung zum "Rechten Sektor" ist daher völlig unrealistisch. Koltschenko war ausserdem im Jahr 2009 Ziel einer Messerattacke - ausgeführt von einer faschistischen Bande, die ihn für eine kritische Filmvorführung bestrafen wollte. Doch gerade das Absurde der Anklage macht die Einschüchterung umso effektiver. Subjekt der Einschüchterung ist die gesamte Bevölkerung der Krim. Im instabilen Annexionsgebiet zeigen die neuen Herren, was KritikerInnen und soziale AktivistInnen erwartet, wenn sie aufbegehren. An den Verhafteten wird ein Exempel statuiert. Die neuen mit Russland verbündeten "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk lehnt der Anarchist Koltschenko übrigens ab und kritisiert die russische und ostukrainische Linke, die - einem kruden Verständnis von Antifaschismus folgend - weitgehend unkritisch hinter den autonomen Gebieten stehe. Damit hätten sie die Klassenposition zugunsten des Imperialismus aufgegeben. Recht gibt ihm dabei etwa "Borotba" (dt. "Kampf"), eine sich "marxistisch-leninistisch" bezeichnende ukrainische Organisation, die in der Westukraine selbst von Staat und FaschistInnen verfolgt wird, doch in blinder Russlandtreue zum Fall der Verhafteten völlig schweigt.
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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 27/28 - 71. Jahrgang - 17. Juli 2015, S. 4
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2015
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