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VORWÄRTS/1062: Trauer, Proteste und Drohungen nach dem Massaker von von Iguala


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 41/42 vom 28. November 2014

Trauer, Proteste und Drohungen nach dem Massaker von von Iguala

Von Philipp Gerber



Am 20. November sind in Mexiko erneut Hunderttausende auf die Strasse gegangen. Anlässlich des 104. Jahrestags der mexikanischen Revolution bekundeten die Menschen ihre Solidarität mit den 43 Verschwundenen aus Iguala sowie deren Angehörigen und protestierten gegen die Diktatur der organisierten Kriminalität, die staatliche Korruption und die Straflosigkeit.


Versammelt in der pädagogischen Hochschule von Ayotzinapa, fünf Wochen nach den Ereignissen in Iguala, bei denen sechs Personen getötet wurden und 43 gewaltsam verschwunden sind, kommentieren die Eltern die Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft: "Die Regierung sagt zuerst, dass sie in den Massengräbern sind, dann, dass sie zerstückelt wurden und jetzt, dass sie zu unidentifizierbarer Asche verbrannt wurden. Sie haben unsere Söhne schon oft getötet und sie werden sie wieder töten". Die Verzweiflung der Angehörigen ist unbeschreiblich. Stunden zuvor hatte Staatsanwalt Murillo Karam in Mexiko-Stadt die neuen Indizien der Presse vorgestellt, mit Aufnahmen der Tatortrekonstruktion und Aussagen von drei geständigen Tätern. Danach sollen eine unbestimmte Anzahl von jungen Menschen, die von den Polizisten von Iguala am 26. September verschleppt wurden, der lokalen Mafiagruppe "Guerreros Unidos" bei der Müllhalde des Nachbarbezirks Cocula übergeben worden sein. Die noch lebenden Personen wurden dort getötet und alle Körper mit grossem Aufwand verbrannt. Karam betonte, dies seien nur Indizien für einen Massenmord; der wissenschaftliche Beweis, dass die Studenten getötet würden, fehle jedoch, da die in einem Fluss gefundenen Reste so stark verbrannt seien, dass eine Identifizierung über DNA-Spuren schwer möglich sei. Mit Hilfe der darauf spezialisierten Medizinischen Universität in Innsbruck solle dies versucht werden, Resultate würden frühestens in drei Monaten erwartet, so der Staatsanwalt.


Leere Versprechungen

Als die Angehörigen kurz vor der Pressekonferenz über die Ermittlungen in Kenntnis gesetzt wurden, versuchten sie, ihn von der Veröffentlichung der Indizien abzuhalten. Da keine stichhaltigen Beweise vorliegen, müsse die Suche sich auf das unversehrte Auffinden ihrer Kinder konzentrieren. Felipe de la Cruz, Lehrer aus Acapulco und Vater von einem der Verschwundenen, verurteilt den Bericht des Staatsanwalts mit den Worten: "Dies ist eine Form, uns Angehörige weiter auf brutale Weise zu foltern. Wir sagen ihm, dass wir diese Erklärungen auf keinen Fall akzeptieren, denn er selber gab zu, dass er keine Gewissheit habe". Die Angehörigen kritisieren zudem den Präsidenten Enrique Peña Nieto scharf. Dieser traf sich am 29. Oktober, also über einen Monat nach der Horrornacht von Iguala, mit Angehörigen und Überlebenden. Eine Übereinkunft mit zehn Punkten sollte die als defizitär kritisierte Arbeit korrigieren, der Präsident unterzeichnete sie nach anfänglichem Zögern. Zehn Tage später sehen die Angehörigen keinen einzigen Punkt dieses Abkommens als erfüllt. So versprach die Regierung, dass sie eine technische Unterstützung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission im Falle zulassen werde. Doch neuerdings schiebt sie juristische Argumente vor, um eine solche internationale Zusammenarbeit zu verhindern.

Die Familienangehörigen sind mit ihrer Kritik nicht alleine. Amnesty International betont, Karam habe vergessen zu erwähnen, dass der Staat Komplize dieser Verbrechen sei. Mexikanische Organisationen kritisieren die grausigen Details, die an der Pressekonferenz präsentiert wurden. "Dieser Bericht hat den politischen Zweck, die Unzufriedenheit im Land zu reduzieren. Und die Versuche, die tiefergreifenden Ursachen der Tragödie sichtbar zu machen, sollen unterbunden werden", meinte Vidulfo Rosales, Anwalt des Menschenrechtszentrums Tiachinollan. Allerdings haben die Proteste auf den Strassen Mexikos nach dem Auftritt von Karam an Heftigkeit zugenommen. Meistens verlaufen sie friedlich, in einer Atmosphäre der Trauer und Überdrüssigkeit. Einige Proteste, insbesondere in Guerrero und Mexiko-Stadt, sind auch militanter, so brannten in Guerreros Hauptstadt Chilpancingo mehrmals Regierungsgebäude.


Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Insbesondere in Guerrero ist die Lage äussert angespannt. Zwar musste der von der PRD gestellte Gouverneur Angel Aguirre Rivero seinen Rücktritt einreichen.. Und der Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca Velasquez, wurde nach vierwöchiger Flucht gefasst. Er sitzt im Hochsicherheitsgefängnis, allerdings aufgrund eines Haftbefehls wegen der Morde an drei Aktivisten im 2013. Abarca ging damals gegen parteiinterne KritikerInnen vor: Sechs führende Mitglieder der sozialen Organisation "Unidad Popular" wurden nach öffentlichen Protesten gegen die Korruption entführt, drei von ihnen hingerichtet. Der altgediente Linke Arturo Hernández Cardona war das bekannteste Opfer, er soll vom Bürgermeister persönlich erschossen worden sein:, "Ich werde mir den Gefallen tun, dich umzubringen" waren Abarcas Worte vor der Tat. Der Augenzeugenbericht wurde notariell beglaubigt und im November der Bundesstaatsanwaltschaft eingereicht, auszugsweise auch in der Lokalpresse veröffentlicht, doch die Untersuchungen verliefen im Sand. Diese Unterlassungssünde ermöglichte erst das Massaker vom September. Abarcas Ehefrau, Marfa de los Angeles Pineda Villa, befindet sich ebenso in Untersuchungshaft, wurde aber noch keines Delikts angeklagt. Deren Brüder führen die "Guerreros Unidos" an und ihre Mafia-Filiale, das sogenannte Beltran-Leyva-Kartell, schmiert seit Jahren die Behörden der Region.

Während die Regierung Peña Nieto auf Schadensbegrenzung macht und baldmögIichst einen Schlussstrich ziehen will, fordern Gesellschaft und oppositionelle ParlamentarierInnen weitere Untersuchungen. Die parlamentarische Untersuchungskommission im Fall Iguala hielt gegen den Willen der Vertreter der Regierungspartei fest, dass es sich im Fall der 43 um "gewaltsames Verschwindenlassen" handelt, also ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Abgeordnete Ricardo Mejía Berdeja, Vizekoordinator der Partei "Movimiento Ciudadano", informierte die Presse darüber, dass sich die Untersuchungskommission "vertieft mit der Untätigkeit des 27. Batallions" beschäftigen will. Die Rolle des in Iguala stationierten Militärs zur Tatzeit ist ungeklärt. Unglaubwürdig tönt die offizielle Version, dass die in Aufklärung und Undercover-Aktionen spezialisierten Einheiten in der Stadt von nichts gewusst hätten. Augenzeugen berichten einerseits von einer Militärsperre ausserhalb Igualas in den Stunden der Polizeiaktion. Nach Aussagen von überlebenden Studenten haben Soldaten fliehende "normalistas" angehalten, fotografiert, deren Telefongespräche behindert und die Hilfeleistung für Verletzte verweigert. In den Worten von Omar García: "Die Armee kam nach wenigen Minuten, die Soldaten nahmen uns die Handys weg. Wir baten die Soldaten, unserem Compañero Édgar Andrés Vargas, der einen Schuss ins Gesicht erlitten hatte, zu helfen, aber sie sagten, dass wir das Maul halten sollen und sie haben keine Ambulanz angerufen." Der Schwerverletzte kam mit zwei Stunden Verspätung in ärztliche Behandlung. Gemäss den Ärzten war Vargas aufgrund der Blutungen beim Eintreffen in das Spital kurz davor zu ersticken. Ein notfallmässiger Luftröhrenschnitt rettete ihm das Leben.


"Weil sie es können"

In Guerrero wird derzeit das politische Klima mit jedem Tag gefährlicher. Die Verhaftungen angeblicher Mafiamitglieder, die Besetzung von Regierungssitzen in 27 Bezirken, darunter Acapulco und Chilpancingo, sowie die täglichen Demonstrationen beherrschen die Medien. Zugleich ist festzuhalten, dass der "tiefe Staat" in Guerrero in keinster Weise in seiner Macht erschüttert ist. Wie weit diese geht, zeigten die Ereignisse im Dezember 2012, als bundesstaatliche und föderale Polizeieinheiten eine Demonstration der "Normalistas" beschossen. Über 500 Kugeln wurden abgefeuert, unter anderem aus G-36-Gewehren aus deutscher Produktion. Zwei Studierende starben, mehrere wurden schwer verletzt. Einige der tödlicher Schüsse verdächtigen Schützen kamen in Untersuchungshaft. Aus der Haft heraus bedrohten sie über ihre Mafiaverbindungen den Anwalt Vidulfo Rosales mit dem Tod. Dieser musste darauf mehrere Monate ins Exil. Der damalige Gouverneur Aguirre meinte in einer Sitzung, an der Menschenrechtsorganisationen teilnahmen, dass er nun einmal "unter uns" Klartext rede: Zwei konkurrenzierende Mafiagruppen stritten sich um die Vormachtstellung innerhalb des Polizeiapparates... Die Prozesse gegen die "Polizisten" verliefen im Sand, einer der Kommandanten der Aktion wurde inzwischen befördert. Die Straflosigkeit der Verbrechen ist der Hauptgrund für das Massaker. Auf die Frage der US-Presse, warum die Polizisten die Studenten erschiessen, antwortet der Analyst Luis Hernández Navarro lapidar: "Weil sie es können". Die Polizisten seien überzeugt, dass sie dafür nicht zur Rechenschaft gezogen würden.


Kriminalisierung der Proteste

Der ehemalige Rektor der Universität Guerreros, Rogelio Ortega Martínez, hat als neuer Gouverneur von Guerrero auf der ganzen Linie einen Fehlstart hingelegt. Politisch links, aber gleichzeitig Busenfreund seines Vorgängers Aguirre, ist seine Ernennung als Interimsgouverneur bis zu den Wahlen im nächsten Jahr nicht nur bei den Angehörigen auf Ablehnung gestossen. Angesichts der anhaltenden Proteste forderte er die Lehrergewerkschaft Ceteg und das Menschenrechtszentrum Tlachinollan dazu auf, sich von diesen Protesten zu distanzieren: "Wenn sie (Tlachinollan und Ceteg) daran teilnehmen, dann sind sie verantwortlich, wenn sie nicht daran teilnehmen, dann heisst das, dass andere die Gewalttäter sind, welche wir isolieren müssen". Das Menschenrechtsnetzwerk Red TDT reagierte umgehend und wies die Verunglimpfungen zurück.

In der Hochschule in Ayotzinapa und in den 16 weiteren Landlehrer-Ausbildungsstätten im Land herrscht weiter Ausnahmezustand. An eine Wiederaufnahme des Unterrichts ist nicht zu denken. Zahlreiche VertreterInnen von sozialen Bewegungen koordinieren sich mit den "Normalistas", gründen die "Populäre Versammlung Mexikos" und kündigten an, dass die Protestbewegung erst am Anfang stehe. Aber auch gegen sie nehmen die Drohungen zu. So überfielen am 5. November zwei Bewaffnete einen Studenten von Ayotzinapa in der nahegelegenen Stadt Tixtla. "Hört auf mit eurem Protest, oder ihr werdet euer blaues Wunder erleben", drohten die Männer, legten ihm einen Pistolenlauf an die Schläfe und schlugen ihn ins Gesicht. Auch die Kriminalisierung der Proteste ist in Mexiko weiterhin an der Tagesordnung.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 41/42 - 70. Jahrgang - 28. November 2014, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2014


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