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VORWÄRTS/1050: Staatsterrorismus in Mexiko


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 35/36 vom 17. Oktober 2014

Staatsterrorismus in Mexiko

Von Jonas Komposch



Das mutmassliche Massaker an über 40 Studierenden des Lehrerinnenseminars von Ayotzinapa muss im Kontext einer erstarkenden Bewegung verstanden werden. Die Bildungsarbeiterinnen sind eine elementare Kraft im mexikanischen Klassenkampf - und den Herrschenden ein Dorn Im Auge.


Was die Menschenrechtsorganisation "Comité Cerezo Mexico" in ihrer jüngsten Mitteilung schreibt, entspricht auch einer alten Wahrnehmung der kämpfenden Klassen Mexikos: "Die Attacke gegen die Studierenden von Ayotzinapa ist weder das Resultat einer Abwesenheit des Staates, noch ein isoliertes Ereignis oder ein Produkt von schlechten Funktionären, noch viel weniger rührt sie von der Infiltration der staatlichen Strukturen durch den Drogenhandel her, sondern sie ist die Konsequenz der Politik systematischer Menschenrechtsverletzungen und zeigt die repressive Strategie gegen die organisierten sozialen Bewegungen. Diese Strategie ist ein Abbild des Terrorismus des Staates." Angesichts der landläufigen Deutungsmuster ist diese Feststellung wegweisend. Denn die Nachricht des Massakers wird in bürgerlichen Medien so kolportiert, als ob die Drogenkartelle die Hauptschuld trügen. Staat und Kapital erscheinen in dieser Erzählung bloss als überforderte Opfer der kriminellen Infiltration.


"Auch die Linke tötet Studierende"

Soziale Bewegungen weisen hingegen schon lange darauf hin, dass sich die Interessen der Kartelle weitgehend mit jenen von Kapital und Staat decken. So hält etwa das dem Zapatismus nahestehende "Red Contra la Represión y por la Solidaridad" fest: "Es sind jugendliche Indigene der Amuzgos, Mixteken und Nahuas, die mehrheitlich das LehrerInnenseminar 'Raúl Isidro Burgos' in Ayotzinapa besuchen, und sie sind es, die in den letzten Jahren den Schlägen der Regierungen von PRI und PRD widerstehen mussten. So darf man die Mordanschläge nicht vergessen, welche die Regierung des Gliedstaates Guerrero und jene des Staates Mexiko im Dezember 2011 begangen haben." Damals erschoss die Polizei zwei Studenten bei einer Blockadeaktion. Weiter erinnert das Netzwerk an die Verantwortlichen für die jüngsten Gewaltakte: "Angel Aguirre Rivero, ja, jener Aguirre, der von Andrés Manuel López Obrador (ehemaliger Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen 'Partei der demokratischen Revolution' PRD, Anm. d. Red.) befördert und empfohlen wurde, jener Aguirre, der uns zeigte, dass auch die institutionelle 'Linke' Studierende tötet." Aguirre war einst Mitglied der klientelistischen "Partei der institutionalisierten Revolution" (PRI) und wechselte 2010 zur PRD. Den Gouverneursposten, den er noch immer inne hat, erhielt er 1996 nach dem Massaker von Aguas Blancas, wegen dem sein Vorgänger den Hut nehmen musste. Aber Aguirre folgte der Tradition und wurde 1998 verantwortlich gemacht für das militärische Abschlachten von Bauern in El Charco. Felipe Calderón von der rechten "Nationalen Aktionspartei" (PAN) und damals Präsident Mexikos deckte das Verbrechen.


Aufständische Pädagogen

Dass der Terror der Klassenherrschaft nun die Studierenden des LehrerInnenseminars von Ayotzinapa getroffen hat, ist kein Zufall. Die 1926 im postrevolutionären Mexiko gegründete Schule hat eine lange Tradition der emanzipatorischen Volksbildung und war schon früh wegweisend in sozialen Kämpfen. 1941 hissten Studierende statt der mexikanischen die schwarz-rote Flagge auf dem Campus. Und in den Sechzigern wirkte dort die linksradikale "Föderation der sozialistischen Studenten und Bauern Mexikos." Aber auch heute sind die LehrerInnen und Studierenden der südlichen Bundesstaaten eine Speerspitze im mexikanischen Klassenkampf. Erinnert sei etwa an den von LehrerInnen initiierten Volksaufstand in Oaxaca 2006 oder an die monatelange Belagerung von Mexico City durch streikende PrimarlehrerInnen im letzten Jahr. Und noch immer bekämpfen sie die neoliberale Bildungsreform, welche ihre Organisierungsmacht einschränkt, Privatisierungen Tür und Tor öffnet und die indigene Bevölkerung diskriminiert. Apropos Organisierung: Die staatstreue "Nationale Gewerkschaft der BildungsarbeiterInnen" (SNTE) hintergeht ihre Basis regelmässig, will jegliche Initiative institutionalisieren und abschwächen. Die Ex-Chefin, Elba Esther Gordillo, wurde jüngst wegen Korruption verurteilt. Die Schule in Ayotzinapa nennt auch sie einen "Hort von Guerilleros." Zählen können die Studierenden und Lehrenden nur auf sich selbst, sie wissen: Politik, Kapital und Mafia "harmonieren zusammen, um die Bevölkerung zu terrorisieren, Exekutionen von sozialen KämpferInnen zu erklären und um die Straflosigkeit der Kriminellen und Militärs zu garantieren."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36 - 70. Jahrgang - 17. Oktober 2014, S. 5
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2014