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VORWÄRTS/1023: Internationales Romafestival - "An einem Strang ziehen"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 19/20 vom 23. Mai 2014

"An einem Strang ziehen"

von Michi Stegmaier



Am 20. und 21. Juni findet in der Alten Kaserne in Zürich das erste Internationale Romafestival statt. Neben reichen Konzerten gibt es ein hochrangig besetztes Podium. Der vorwärts hat aus diesem Anlass mit dem Festivalorganisator und Roma-Aktivisten Christian Mehr gesprochen.


vorwärts: Kannst du kurz etwas zu deiner Person sagen?

Christian Mehr: Als Direktbetroffener und "Nachkomme" der Pro Juventute-Aktion "Kinder der Landstrasse" habe ich am eigenen Leib Diskriminierung erlebt und erlebe heute europaweit immer noch die gleich bedrückende Situation für uns Romas.

vorwärts: Was ist deine Motivation, ein solches Festival zu organisieren? Was sind die Ziele des Romafestivals?

Christian Mehr: Meine Motivation, das Festival zu organisieren, ist, dass ich als 47-jähriger Roma feststellen muss, dass die Situation für uns Romas immer noch gleich beschissen ist wie seit Jahrzehnten. Hinzu kam, dass ich im Oktober 2012 in Budapest war und einen Grossaufmarsch paramilitärischer Schlägertrupps des rechtsextremen ungarischen Präsidenten Orban miterlebte. Da wurde mir bewusst, wie ernst die Situation in Ländern wie etwa Ungarn ist und dass wir Romas uns besser vernetzen müssen. Für mich wiederholt sich die Geschichte heute wieder und wir müssen wachsam sein.

Das Hauptziel ist, uns besser zu vernetzen und überhaupt in den Kontakt miteinander zu treten, was mit der Organisation des Festivals schon erreicht ist. Ein erster Schritt ist gemacht. Man muss sich bewusst sein, dass verschiedene Roma-Gemeinschaften aus zehn Ländern am Festival vertreten sein werden. Und das ist für mich persönlich ein sehr schöner Erfolg.

vorwärts: Wie ist die aktuelle Situation der Romas in Europa?

Christian Mehr: Generell sehr schlecht. Gesellschaftlich werden wir in ganz Europa als minderwertig betrachtet und entsprechend behandelt und diskriminiert. Die Möglichkeiten, sich als Roma zu verwirklichen sind auf Grund der Marginalisierung und des allgegenwärtigen Rassismus auch heute praktisch unmöglich. Was bleibt, ist ein Schattendasein und ein Leben am Rande der Gesellschaft. Die Vorurteile gegen uns sind immer noch allgegenwärtig und wurden letztendlich nie durchbrochen in der Geschichte einer jahrhundertelangen Verfolgung. Und solange das nicht passiert, und wir Romas nicht als gleichwertige Menschen akzeptiert werden, die eben auch die gleichen Chancen wie alle anderen erhalten, wird sich nichts an unserer prekären Situation ändern. Man muss sich bewusst sein, dass Ungarn gerade das macht, was die Pro Juventute fünfzig Jahre lang mit uns Schweizer Romas gemacht hat. Unter der aktuellen Politik von Orban werden Romas umgesiedelt und aus Budapest vertrieben. Zwangssterilisierungen von Romas, Männer und Frauen, sind in Ungarn trauriger Alltag. Darüber haben ja die Medien ausführlich berichtet. Doch nicht nur in Ungarn ist das Leben als Roma elendlich, sondern in ganz Europa fühlen wir uns stark unter Druck.

vorwärts: Gab es für dich in den letzten Jahren auch positive Entwicklung?

Christian Mehr: Es ist sicher positiv, dass sich heute mehr AktivistInnen und PolitikerInnen für die Rechte von uns Romas stark machen und mehr Bewusstsein für die Lage der Romas vorhanden ist. Grundidee ist für mich aber, dass es eben nicht nur um die Lage von uns Romas gehen sollte, sondern generell um die Menschenrechte von allen. Wir hoffen, mit dem Festival ein deutliches Zeichen setzen zu können. Dass unsere Arbeit und der Widerstand, den wir heute leisten, irgendwann überflüssig wird.

vorwärts: In der Schweiz gab es in den vergangenen Wochen Proteste der Jenischen. Wie beurteilst du diese Aktion?

Christian Mehr: Die Besetzung der Berner Allmend selber fand ich den Hammer! Jedoch einzelne Aussagen der Sprecher sowie die generelle Abgrenzung gegenüber Romas fand ich problematisch und nationalistisch. Es zeigt die Intoleranz unter uns selbst und - obwohl ich selber ein Jenischer bin - waren gewisse Aussagen schon Rassismus pur. Ich will da nichts beschönigen.

vorwärts: Was ist eigentlich der genaue Unterschied zwischen Romas, Sintis und Jenischen?

Christian Mehr: Also eigentlich gibt es überhaupt keinen Unterschied und alle sind für mich Romas. Den Sintis und Jenischen ist aber wichtig zu betonen, dass sie eigenständige Völker seien. Ich persönlich finde das falsch, da wir eigentlich alle unter dem gleichen Dach leben, diese Selbstbezeichnung ist vor allem eine Abgrenzung gegenüber "fremden" Romas und eigentlich damit auch eine Diskriminierung unter uns selbst. Mit dem Romafestival wollen wir gerade auch unter Romas ein Bewusstsein schaffen, dass wir alle im gleichen Boot sitzen.

vorwärts: Was sind eure Forderungen an die Politik und die Gesellschaft?

Christian Mehr: Eine der wichtigsten Forderungen ist, dass wir als Volk anerkannt werden und deshalb im EU-Parlament auch mit eigenen ParlamentarierInnen vertreten sind. Man darf nicht vergessen, dass heute in Europa rund 15 Millionen Romas leben - und das schon seit Jahrhunderten. Deswegen ist es uns ein Anliegen, dass wir im Europaparlament vertreten sind und unsere Stimme gehört wird. Momentan sind wir nur als Delegierte vertreten, können zwar beobachten, aber eben nicht mitbestimmen.

Daneben würde ich mir aber auch wünschen, dass wir Romas auch untereinander mehr an einem Strang ziehen und es letztendlich keine Rolle spielt, in welchem Land du lebst. Grundsätzlich geht es effektiv in einem ersten Schritt darum, dass wir uns vernetzen und miteinander gegen Faschismus und Diskriminierung kämpfen. Viele Sippen grenzen sich ganz klar von der Bezeichnung "Roma" ab und man sieht ja, dass es schon bei der Definition, wer wir überhaupt sind, schwierig und problematisch wird. Das hat die Besetzung der Berner Allmend durch die Jenischen einmal mehr gezeigt und es war für mich der Klassiker schlechthin, wie es eben nicht funktioniert sollte. Ich denke, es ist zentral zu begreifen, dass wir Romas nur miteinander - und länderübergreifend - etwas an unserem Dilemma ändern können. Und wenn Romas in der Slowakei, Ungarn, Frankreich oder Tschechien verfolgt und diskriminiert werden, dann betrifft uns das als ganzes Volk und damit eben auch die Schweizer Jenischen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 19/20/2014 - 70. Jahrgang - 23. Mai 2014, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2014