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VORWÄRTS/909: Gegen Austerität auf der Strasse


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 11/12 vom 29. März 2013

Gegen Austerität auf der Strasse

von Maurizio Coppola



Am Samstag, 16. März 2013, demonstrierten 20.000 Kantonsangestellte unter dem Motto "Stopp Abbau - Perspektiven für den Kanton Bern. Gefordert wurden "anständige Arbeits- und Lohnbedingungen. Unisono wird die Kundgebung als "Grosserfolg" bezeichnet. Jetzt wird auf eine Reaktion des Grossen Rates gehofft.


Der Grund der Grossdemonstration in Bern ist in der Abbaupolitik des Kantons zu finden, mit der die Regierung das "strukturelle Defizit" der Kantonskasse von 450 Millionen Franken ausgleichen will. Wie in den Kantonen St. Gallen, Tessin und Luzern, wo in den letzten Monaten ähnlich breite Demonstrationen gegen die geplante Austeritätspolitik die Pläne der PolitikerInnen teilweise und zumindest vorübergehend stoppen konnten, zielt der Berner Grosse Rat auf die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen des Staatspersonals. Gespart werden soll bei den Löhnen der Kantonsangestellten und vor allem bei der "Sanierung" der Pensionskassen, unter anderem über die Erhöhung des Rentenalters von 63 auf 65 für das Kantonspersonal und von 60 auf 62 für die PolizistInnen.


Arbeitsbedingungen im Service Public

Lange Zeit galten Stellen beim Kanton als "sichere und gute" Jobs. Doch die Austeritätspolitik, deren Wurzeln nicht in der aktuellen Krise, sondern in der seit drei Jahrzehnten andauernden Restrukturierung des Service Public zu finden sind, hat zu einer Angleichung der Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst an die Privatwirtschaft geführt. So erzählte eine Pflegefachfrau an der Demo, sie könne ihre Aufgaben aufgrund des Zeitdrucks nur noch mit Mühe und Not ausführen. Auch leide die Versorgungsqualität in den Spitälern aufgrund mangelnder Zeit und Ressourcen. Ein Lehrer meinte, es sei nicht mehr möglich, Vollzeit zu arbeiten, wenn man gesund bleiben wolle.


Der Gesundheitssektor unter Beschuss

Gerade im Gesundheits- und Pflegebereich häufte sich der Protest gegen die Degradierung der Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren. Zu erinnern ist an die breiten Streikbewegungen in den Unispitälern Genf (HUG) und Lausanne (CHUV), bei "La Providence" in Neuchâtel und im Alten- und Pflegeheim Vessy bei Genf. Im Zentrum dieser Bewegungen stand die Forderung einer Anerkennung der Berufe über den Aufstieg auf der Lohnskala und das Beibehalten der Gesamtarbeitsverträge (GAV). Im Kantonsspital Fribourg konnte nach langen Auseinandersetzungen die Nachtzuschlagsregelung zugunsten der Angestellten verbessert werden.

Doch der soziale Konflikt konnte an diesen Orten auch nach der Beendigung der Streiks nicht "befriedigt" werden - die Angriffe von Regierungen und Direktionen werden weitergeführt. Am Unispital Genf zum Beispiel werden AktivistInnen der damaligen Bewegung heute noch stark unter Druck gesetzt, Angestellte gesetzeswidrig entlassen, Schichteinsätze kurzfristig und ohne Konsultation des Personals verändert. Wie ein Laborant und Betriebsaktivist des HUG erklärt, stellte der Streik zwar einen wichtigen Moment für die Erlangung von Verbesserungen dar, doch das Kräfteverhältnis hätte sich damit nicht zugunsten des Personals verschoben. Noch heute sind Strukturen der BetriebsaktivistInnen notwendig, um sich gegen die ständigen Angriffe zu wehren - sowohl kollektive, wie auch individuelle - und Verbesserungen zu erkämpfen.


Mit Pistole und Pfefferspray an der Demo

Auf dem Waisenhausplatz versammelten sich am Samstag auch PolizistInnen, die in Vollmontur - also mit Pistole und Pfefferspray (sic!) - an der Demo mitmarschierten. Sie hielten ein Poster mit der Aufschrift "Jetzt längts". Und ein Polizist rief durchs Megafon: "Der Marsch auf dem Bundesplatz ist ein Zeichen gegen die Respektlosigkeit, die hohe Arbeitsbelastung und gegen die Erhöhung des Rentenalters".

DemoteilnehmerInnen, die sich im antirassistischen Kampf engagieren und kämpfende ArbeiterInnen unterstützen, scheinen einige PolizistInnen wiedererkannt zu haben, die in ihrem Berufsalltag auf der anderen Seite der gesellschaftlichen Ordnung stehen. Die PolizistInnen, die am Samstag PolitikerInnen und ein System als "respektlos" anklagten, haben in ihrem Berufsalltag die Aufgabe, genau diese PolitikerInnen und diese "respektlose" bürgerliche Ordnung zu verteidigen. Ob die PolizistInnen bei ihrer Mobilisierung daran gedacht hatten? Haben sie Pistole und Pfefferspray mitgenommen, um sie gegen allfällige PolizistInnen, die an diesem Tag unter hoher Arbeitsbelastung für die Sicherheit sorgten, einzusetzen? Oder forderten sie eine Verringerung der Arbeitsbelastung - also bessere Arbeitsbedingungen -, um die Jagd auf die MigrantInnen noch intensiver zu führen, die Räumung der Streikposten kämpfender ArbeiterInnen noch sauberer durchzuführen und antikapitalistische AktivistInnen noch repressiver anzugehen?


Auf die Politik hoffen?

Die Demonstration richtete sich in erster Linie an die PolitikerInnen des Kantons Bern. Die Demonstrierenden erleben, wie sie selbst erklären, einen "Vertrauensbruch" der Politik: "Können wir uns auf unsere Politiker verlassen?", fragte ein Vertreter der Lehrergewerkschaft. Die Reaktion liess nicht lange auf sich warten, die bürgerlichen zeigten sogleich "Gesprächsbereitschaft". Gespräche haben auch die AktivistInnen der bestreikten Spitäler mit der Direktion und den PolitikerInnen geführt, die Situation hat sich deswegen nicht verändert. So wird sich der Grosse Rat auch in Bern nicht von einer Grossdemo beeindrucken lassen und die Sparpolitik, auch wenn in veränderter Form, durchboxen. Oder aber die Angestellten werden den Beispielen aus der Romandie folgen, den Konflikt an die Arbeitsplätze und in den Alltag tragen und sich mit den anderen Bewegungen gegen die Austeritätspolitik verbinden. Erst dann besteht tatsächlich die Möglichkeit, die Abbaupläne zu stoppen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 11/12/2013 - 69. Jahrgang - 29. März 2013 , S. 2
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. April 2013