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VORWÄRTS/875: Terrorist hält den USA den Spiegel vor


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.43/44 vom 23. November 2012

Terrorist hält den USA den Spiegel vor

Von David Hunziger



Obama hat sich dafür eingesetzt, den Ballast der Bush-Ära aus den jüngsten Guantánamo-Prozessen herauszuhalten. Dennoch spielen Zensur und Folter eine entscheidende Rolle. Auch wenn nicht mehr davon gesprochen wird, dauert der Krieg gegen den Terror weiter an.


Vor einem Militärgericht im Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba werden sich in nächster Zeit fünf Männer für die Terroranschläge vom 11. September 2001 verantworten müssen. Nach einem vierjährigen Unterbruch wurde das Verfahren fortgeführt, das wohl mit Todesurteilen enden wird. Als Drahtzieher der Anschläge gilt der Pakistaner Khalid Sheikh Mohammed, der alle Taten gesteht, die ihm vorgeworfen werden. Nun nutzt der Angeklagte, der sich als politischer Gefangener versteht, das Verfahren als letzte Möglichkeit, sich öffentlich mitzuteilen.

Das Mass dieser Öffentlichkeit wird durch die Zensur jedoch strikt reguliert: JournalistInnen sind durch eine schalldichte Glasscheibe vom Gerichtssaal getrennt, hinter die der Ton mit einer Verzögerung von 40 Sekunden übertragen wird. Dennoch gelangen Teile seiner Reden durch die Zensurbarriere. Teilt man die Kritik am US-Imperialismus nur schon im Ansatz, sind Mohammeds Worte nicht in erster Linie Ausdruck von religiösem Fanatismus, sondern die Wahrheit. Darin liegt die Ambiguität dieses Verfahrens.


Anklageschrift drückt auf die Tränendrüse

Mohammed sagt etwa, dass er von diesem Gericht keine Gerechtigkeit erwarten könne, und beschuldigt die USA, im Namen der nationalen Sicherheit zu foltern und zu töten. Er mahnte den Richter auch, sich nicht von den "Krokodilstränen" der Anklage beeinflussen zu lassen, wenn diese auf die Toten von "9/11" verweise und nicht gleichzeitig auch die Toten beklage, die durch US-Soldaten und Drohnen in Kauf genommen werden. Tatsächlich wird nicht zurückhaltend mit den US-Verlusten umgegangen: Von den 88 Seiten der Anklageschrift werden allein auf 67 Seiten die Namen aller 2936 Todesopfer der Anschläge aufgelistet.

Gerade nach einem rein politischen Prozess sollte es aber nicht aussehen. Eigentlich hatte Obama versprochen, das Verfahren vor ein ziviles Gericht in New York zu bringen - gegen den Widerstand der Stadt liess sich dieses Versprechen aber nicht durchsetzen. Kurz nach Amtsantritt hat er ausserdem die Folter verboten und unabhängige Anwälte für die Angeklagten zugelassen. Aus den CIA-Dokumenten, die sich auf der Plattform "Wikileaks" einsehen lassen, wird ersichtlich, wie systematisch gefoltert wurde. Jede Minute, die Gefangene unter der kalten Dusche stehen mussten, und die genaue Position der Hand, die bei Ohrfeigen einzunehmen war, wurden reglementiert und durch juristische Berater legitimiert.


Geständnis unter Folter

Auch Mohammeds Geständnis hat eine Vorgeschichte: In einem Geheimgefängnis der CIA wurde er noch vor seinem Aufenthalt in Guantánamo mindestens 183 Mal dem "Waterboarding" ausgesetzt, einer Foltermethode, die beim Opfer das Gefühl eines Erstickungstods auslöst. Auf einen Vorstoss der DemokratInnen im Parlament hatte Ex-Präsident Bush einst noch gedroht, mit der Foltermethode würden die USA eines ihrer effektivsten Mittel zur Terrorbekämpfung verlieren.

Davon hat sich Obama distanziert. Aussagen, die unter Folter erzwungen wurden, werden im laufenden Prozess aber dennoch verwendet. Diese Widersprüche sind auch dann nicht aufzulösen, wenn dem Verfahren ein rechtsstaatlicher Anstrich verliehen wird. So etwas wie Transparenz oder verlässliche Informationen gibt es nicht, die meisten Beweise bleiben geheim. Doch selbst völlige Transparenz würde am ideologisch-politischen Charakter des Verfahrens nichts ändern.


Wie George Washington

Mohammed versucht gar nicht erst, das Gericht von seiner Unschuld zu überzeugen. Entweder verweigert er die Kooperation mit dem Gericht oder er brüstet sich mit den Anschlägen. Provokativ vergleicht er seinen "Freiheitskampf" mit dem von George Washington. Dieser hätte sich in einer ähnlichen Lage wiedergefunden, wäre er von den britischen Kolonialtruppen gefasst worden. Mohammed hat auch für weitere 30 durchgeführte oder geplante Terroranschläge die Verantwortung übernommen. Darunter befinden sich Pläne zur Ermordung der Ex-Präsidenten Carter und Clinton oder des ehemaligen Papstes Johannes Paul II.

Juristisch gesehen ist das Verfahren eine Farce, da auf beiden Seiten kein Interesse an der Wahrheit besteht. Gerade darum ist es politisch aber umso interessanter, indem neue Einsichten in die toten Winkel und Widersprüche der US-Perspektive auf die Welt ermöglicht werden. Aus dieser Perspektive war "9/11" eine Kriegserklärung des islamischen Terrorismus an die USA und das Verfahren zeigt, dass dieser Krieg weiter andauert.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44/2012 - 68. Jahrgang - 23. November 2012, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Dezember 2012