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VORWÄRTS/787: Interview mit Turan Ridvan - "In der Türkei muss man damit rechnen"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.01/02 vom 13. Januar 2012

"In der Türkei muss man damit rechnen"

Von Siro Torresan


Warum kehrt ein Mann in sein Land zurück, wenn er durch eine Lüge der Staatsmacht 30 Jahren Haft riskiert und ohne Schuld bereits mehrere Monate im Gefängnis verbringen musste? In einem Interview mit dem vorwärts gibt Genosse Turan Ridvan, Präsident der marxistischen SDP, die Antwort und erzählt, wie seine Partei auf die Verhaftungswelle im September 2010 reagiert hat.


Rückblick: Am 21. September 2010 führte der türkische Staat einen Schlag gegen die legale Opposition im Lande durch. Maskierte und bewaffnete Spezialeinheiten der Polizei stürmten die Büros von verschiedenen linken Organisationen sowie die Wohnungen von führenden Genossen. Sämtliches Material wurde beschlagnahmt oder zerstört, darunter auch die Computer und weitere Arbeitsmittel der Organisationen. 55 Genossen wurden verhaftet und angeklagt, mit bewaffneten Untergrundorganisationen zusammen zu arbeiten. Eine grosse Lüge wie sich sehr schnell zeigte. Einer der Verhafteten war der Präsident der marxistischen "Socialist Democracy Party" (SDP), Genosse Turan Ridvan. Ab Mitte Dezember weilte er für einige Tage in der Schweiz und der vorwärts sprach mit ihm.


VORWÄRTS: Genosse Turan, du bist nun frei. Ist alles vorbei?

TURAN RIDVAN: Nein, überhaupt nicht! Ich sitze zurzeit einfach nicht im Gefängnis. Doch in der Türkei muss ich jederzeit damit rechnen, dass sie mich wieder verhaften. Der eigentliche Prozess beginnt im Februar 2012 und wir rechnen mit einer Dauer von mindestens vier Monaten. Die Staatsanwaltschaft verlangt eine Haftstrafe von 30 Jahren.

VORWÄRTS: Du gehst Ende Dezember zurück. Warum bleibst du nicht hier und verlangst politisches Asyl?

TURAN RIDVAN: Ich habe politische Aufgaben in der Türkei übernommen. Ich trage somit eine Verantwortung gegenüber unseren Genossinnen und Genossen, sprich der Basis der Partei und auch gegenüber den Kurdinnen und Kurden. Diese Verantwortung will und muss ich wahrnehmen. Wenn du in der Türkei in einen sozialen, gerechten Kampf einsteigst, musst du damit rechen. Ich meine damit die gewaltige und ständige Repression des Staates.

VORWÄRTS: Wurden Du oder die anderen Genossen im Knast misshandelt?

TURAN RIDVAN: Körperliche Gewalt gab es keine, aber die Psychofolter ging weiter. Als wir gleich nach der Verhaftung in den Knast kamen, verlangten die Polizisten, dass wir uns nackt ausziehen. Wir haben uns natürlich geweigert. Dann haben die Polizisten versucht, uns die Kleider vom Leib zu reissen. Dies scheiterte an unserem entschlossenen Widerstand. Sie haben uns sämtliche Kommunikation nach Aussen verboten. Die ersten 15 Tage war ich in Isolationshaft, genauso wie alle anderen verhafteten Genossen. Dann kam ich in eine Zelle mit drei Genossen. Ausserhalb der Zelle wurden uns die Handschellen nie abgenommen. Wir haben keine Zeitungen und keine Post bekommen. Leute, die uns besuchten, wurden immer beschimpft und beleidigt. Das Essen war sehr schlecht, oft fanden wir Insekten oder anderes Ungeziefer drin. Unsere Zelle wurde immer wieder durchsucht und die privaten Gegenstände wurden uns weggenommen. Wenn wir uns wehrten, wurden wir bestraft: Der Besuch oder der Hofspaziergang wurde uns dann gestrichen.

VORWÄRTS: Wie hat die Partei auf die Verhaftungswelle reagiert?

TURAN RIDVAN: Es war eine sehr schwierige Zeit, doch die Reaktion war auch eindrucksvoll: Andere Genossen des Zentralkomitees haben den Platz eingenommen. Es gab eine starke Solidarität innerhalb der Partei und unter den GenossInnen. Durch den Eintritt von verschiedenen, vor allem jungen GenossInnen hat die Partei zahlenmässig Mitglieder gewonnen. Es entstanden Sektionen in Provinzen, in denen wir vor den Verhaftungen noch nicht präsent waren. Auch strukturell hat unsere Partei zugelegt, denn die jungen GenossInnen haben aktiv Aufgaben innerhalb der Partei übernommen. Interne Differenzen wurden zweitrangig. Die Parole "Solidarität und Mobilisierung" machte uns stärker.

Es entstand innerhalb der Partei die "Arbeitsgruppe Solidarität". Sie hat eine hervorragende Arbeit geleistet, auch weil sie sich mit dem Inhalt des Worts Solidarität auseinandergesetzt hat. Dies führte unter anderem dazu, dass andere linke Parteien, Organisationen und Gruppen auf verschiedenen Ebenen ihre Solidarität mit uns bekundet und aktiv an Aktionen teilgenommen haben. Auch die ODP, von der wir uns vor einigen Jahren abgespaltet haben, hat sich sehr solidarisch gezeigt: Sie hat mehrmals im Parlament gegen die Verhaftungen protestiert und in ihrer Presse darüber berichtet. In den Monaten, in denen wir in Haft waren, haben sich viele Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler und andere wichtige Persönlichkeiten mit uns solidarisiert. Das war sehr wichtig, genau so wie die internationale Solidarität. Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen in der Schweiz bedanken, die sich solidarisch mit uns gezeigt haben.

VORWÄRTS: Kann man sagen, dass die Partei durch die Verhaftungen gar stärker geworden ist?

TURAN RIDVAN: Ich sage es so: Die Partei hat sehr gut reagiert. Sie hat sich nicht zurückgezogen, wie es sonst bei Verhaftungswellen üblich ist. Ganz im Gegenteil hat sie die Aktivitäten verstärkt und den Kampf auf die Strasse getragen, sprich in der Öffentlichkeit verstärkt. Wir haben klare Positionen gegenüber dem Staat und der Repression vertreten und diese nie aufgegeben. Dies hat überzeugt und dazu geführt, dass - wie bereits erwähnt - junge Menschen in die Partei eingetreten sind und den Kampf unterstützt haben. Eine weitere Tatsache ist, dass die Mitglieder und die Sympathisanten im täglichen Kampf viel aktiver geworden sind, ihre Verantwortung stärker wahrgenommen haben. Wir haben im Knast die Situation analysiert und die Partei darauf eingestellt, dass unsere Verhaftung drei bis vier Jahre dauern würde. Ich glaube, dass eine so lange Haftdauer die Partei geschwächt hätte. Doch nach zehn Monaten waren wir ja wieder draussen.

VORWÄRTS: Warum doch wieder so "schnell"?

TURAN RIDVAN: Es gab eine grosse nationale und internationale Solidarität. Das hat zu einem enormen Druck auf die Regierung und die Justiz geführt. Und die Anklagen waren an den Haaren herbei gezogen. Daher gibt es keine Beweise, die Verteidigung konnte vor Gericht sämtliche Anklagen widerlegen. Wir haben mehrmals bewiesen, dass wir eine legale Partei sind und unseren Kampf auch weiterhin auf eine legale Weise führen werden. Dies gilt auch für die 55 Mitglieder von anderen linken Organisationen, 15 von ihnen befinden sich aber heute noch im Knast.

VORWÄRTS: Wie geht es nun mit der Partei weiter?

TURAN RIDVAN: Die Türkei hat 81 Provinzen, ohne die kurdischen sind es 60. Wir wollen uns mittelfristig in mindestens 42 Provinzen organisieren. In den kurdischen Provinzen unterstützen wir den Kampf der kurdischen GenossInnen. Wir sind Mitglied des "Demokratischen Volkskongress". Dies ist die Dachpartei von verschiedenen türkischen und kurdischen linken Parteien und Organisationen. Wir streben eine Volksfront an für die Demokratisierung des Landes, gegen Kriege und den Neoliberalismus. Weitere wichtige Punkte sind die Frauenrechte und der ökologische Kampf. Der "Demokratische Volkskongress" führt unter diesen Punkten einen wichtigen Kampf für soziale Gerechtigkeit. Dann wird im 2012 unsere Partei zehn Jahre alt und es findet im Mai oder Juni der fünfte Kongress statt, an dem über verschiedene Themen diskutiert werden wird.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 01/02/2012 - 68. Jahrgang - 13. Januar 2012, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2012