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VORWÄRTS/711: Ist das Schweinchen Schweiz zu retten?


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 07/08/2011 vom 25. Februar 2011

Ist das Schweinchen Schweiz zu retten?

Von Siro Torresan


In Bern und Brüssel gibt man sich alle Mühe dieser Welt, ein harmonisches Bild der guten Nachbarn zu vermitteln. Der Schein trügt, denn der Druck der EU auf die Schweiz wird zunehmend und spürbar stärker. Die EU verlangt, dass die Schweiz automatisch EU-Rechte übernimmt. Für die Löhne in der Schweiz wäre dies fatal. Was kann und soll die Linke tun?


EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sagte im Vorfeld des kürzlich erfolgten Besuchs von Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey in Brüssel, dass er "der Besucherin aus der Schweiz nicht die Leviten" lesen wolle. Vielmehr gehe es um "die Vertiefung der Beziehungen" zwischen der EU und der Schweiz. Doch genau diese Beziehungen sind angespannt. Der Hauptgrund dafür ist schnell erklärt: Der bilaterale Weg ist für die EU am Ende, da zu aufwendig und zu wenig flexibel. Sie fordert mit immer heftigerer Vehemenz, dass die Schweiz automatisch EU-Recht übernimmt. Auf Fachchinesisch heisst dies "institutionelle Reformen".

Was für die Eidgenossenschaft auf dem Spiel steht, lässt sich am einfachstem am Beispiel des Schweinefutters erklären. Wegen einer EU-Order dürfen Schweizer Bauern ihren Schweinen keine Speisereste aus Restaurants mehr füttern. Hätte die Schweiz die Regel nicht übernommen, könnte sie heute kein Schweinefleisch mehr in die EU exportieren. Schweinchen Schweiz friss was die EU will oder stirb. Was mit Schweinefutter möglich ist, kann beliebig auf sämtliche Industrieprodukte und Dienstleistungen übertragen werden. Die Frage ist somit, von welchem Futternapf in Zukunft das Schweinchen Schweiz essen darf. Und das der EU-Napf ein grosser und wichtiger ist, beweisen folgende Zahlen: 60 Prozent der Schweizer Exporte gehen in die EU und gar 80 Prozente der Importe der Schweiz kommen aus EU-Ländern.


Der Schüler darf referieren

Die von der EU geforderte "institutionelle Reform" macht selbstverständlich nicht vor der Lohnfrage halt. Sie würde die Schweizer Löhne mit einem Panzer überrollen und platt walzen. Denn in Sachen Löhne bedeutet EU-Recht, dass neu nicht mehr das sogenannte Leistungsorts-, sondern das Ortsprinzip gelten würde. Konkret: Bekommt eine Firma aus einem EU-Land einen Auftrag in der Schweiz, muss sie sich nicht an die Minimallöhne der Schweiz halten, sondern kann die ortsüblichen Löhne aus dem Herkunftsland bezahlen. Im Westen Deutschlands liegt der höchste festgelegte Minimallohn für BauarbeiterInnen bei 12.75 Euro (knappe 17 Franken) die Stunde. Im Osten ist er gerade mal bei 9.50 Euro (knappe 13 Franken). Zum Vergleich beträgt der Minimallohn für BauarbeiterInnen in der Deutschschweiz 28.50 Franken.

Eine Tatsache, welche die Alarmglocken bei den Schweizer Gewerkschaften auf Stufe Tsunami läuten lässt. Der Gewerkschaftsbund gab Calmy-Rey folgende Botschaft auf ihrer Reise nach Brüssel mit: "Die Gewerkschaften würden ein künftiges Verhandlungspaket mit aufgeweichtem Lohnschutz resolut bekämpfen." Dieses Verhandlungspaket, das den Namen "Bilaterale III" trägt, schlägt der Bundesrat als Basis der Verhandlungen mit der EU vor. Dazu sagt Laurent Goetschel vom Europainstitut der Universität Basel in einem Interview mit dem Tagesanzeiger vom 27. Januar: "Es würde mich sehr überraschen, wenn die EU auf diesen Vorschlag einginge. Wenn sie nun einem weiteren bilateralen Abkommen ohne institutionelle Reformen zustimmen würde, wäre das eine Abkehr von ihren bisherigen Positionen." Wenige Tage später wundert sich die gleiche Zeitung über die "beharrliche Zuversicht" des Schweizer Wirtschaftsminister Schneider-Ammann, der "offenbar unverzagt hofft, mit den eigenen Positionen durchzukommen." Die Aussage von Schneider-Ammann, dass die Schweiz ihren "ganzheitlichen und koordinierten Ansatz" bei der EU vorstellen darf, kommentiert der Tagesanzeiger spottend mit den Worten: "Der Schüler darf ein Referat vortragen."

In der Tat gleicht die Verhandlungsbasis immer mehr einem Boxkampf, dessen Ausgang wenig Zweifel offen lässt. In der blauen Ecke das Schwergewicht EU. Eine Wirtschaftsmacht bestehend aus 27 Staaten, mit 495 Millionen EinwohnerInnen und einer Fläche von mehr als vier Millionen Quadratkilometer. Auf dem Palmares stehen rund 20 Millionen Unternehmungen, die gut 85 Millionen Menschen beschäftigen und mit einer Wertschöpfung von mehr als drei Billionen Euro jährlich. In der roten Ecke das Fliegengewicht Schweiz mit 41.300 Kilometer Fläche und 7.7 Millionen EinwohnerInnen. 313.000 Unternehmen beschäftigen knapp 3.5 Millionen Menschen, mit einer jährlichen Wertschöpfung, die mehr als das tausendfache kleiner ist und mit einem Bankgeheimnis, das immer mehr einem Emmentaler Käse gleicht. Wer ist bereit, auf die Schweiz zu wetten?


Ein Dilemma...

Und die Linke in der Eidgenossenschaft? Wie bereits erwähnt, haben die Gewerkschaften klar gesagt, dass sie jegliche Schwächung der flankierenden Massnahmen (was den Druck auf die Löhne erhöhen würde) bekämpfen wird. Dies heisst, dass die Gewerkschaften das Referendum ergreifen werden. Sicher, sie müssen es tun. Sicher ist auch, dass sie vom Gewerbe Unterstützung erhalten und wie die SVP gegen eine automatische Übernahme des EU-Rechts kämpfen werden. Für einmal kann diese unheilige Allianz geschluckt werden. Doch auf die Länge wird der Druck der EU zu gross sein, um ihn mit Referenden abzuwehren. Auch dies ist sicher.

Die SP steckt im Dilemma. Sie war und ist eine Befürworterin der EU. Sie weiss aber auch, dass "die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sich in den letzten drei Jahren katastrophal arbeitnehmerfeindlich entwickelt hat", um es mit den Worten von Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und SP-Nationalrat, auszudrücken. Doch wird sich die SP konsequent hinter die Forderungen der Gewerkschaften im Sinne der ArbeitnehmerInnen in diesem Lande stellen?


...und eine Alternative dazu

Und die radikale Linke in der Schweiz? Eine wichtige Aufgabe ist, ein "linkes Nein" zur EU-Frage zu entwickeln und in die Diskussion einzubringen. Sie muss den Kampf der Gewerkschaften ohne Wenn und Aber unterstützen, diesen aber in eine längerfristige Perspektive einbinden. Das Ziel muss ein soziales, friedliches Europa sein, dessen Wirtschaft dem Interesse der Menschen dient und sich auf der Basis von Demokratie und Solidarität entwickelt. Und dieses Europa kann nur entstehen, wenn die Frage nach einer grundsätzlichen anderen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung gestellt wird. Es geht um die Überwindung des Kapitalismus hin zu einer Gesellschaft, die nun mal mit dem Begriff "Sozialismus" definiert ist.

Auch die SP und die Gewerkschaften müssen sich mit dieser Tatsache auseinandersetzen. Sicher, von heute auf morgen und auch übermorgen ist ein revolutionärer Umbruch nicht möglich. Doch die kapitalistische und neoliberale Entwicklung der EU ist mit Referenden und Parlamentarismus nicht zu bremsen. Vielmehr ist diese Entwicklung davon abhängig, in wieweit es der gewerkschaftlichen und politischen ArbeiterInnenbewegung, der globalisierungskritischen Bewegung und den demokratischen Kräften gelingt, im gemeinsamen Handeln die Vorherrschaft des Grosskapitals einzuschränken, die EU-Institutionen zu demokratisieren und einen grösseren Einfluss "von unten" zu gewinnen. Die Stärkung dieser hauptsächlich ausserparlamentarischen Bewegung ist daher eine zentrale Aufgabe und Verantwortung der radikalen Linken - in Europa und in der Schweiz. Zugegeben keine einfache Aufgabe in der heutigen Zeit, aber die einzige mögliche Alternative zur heutigen und künftigen EU!


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 07/08/2011 - 67. Jahrgang - 25. Februar 2011, S. 3
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2011