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VORWÄRTS/688: 10 Rappen mehr


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 37/38/2010 vom 9. Oktober 2010

10 Rappen mehr

Von Alexandra Takhtarova


99 Prozent der Markenfirmen weigern sich einen existenzsichernden Lohn zu zahlen. Es braucht aber nicht viel: 10 Rappen mehr Lohn pro T-Shirt machen den entscheidenden Unterschied, ob eine Näherin in Armut oder in Würde leben kann.


Haben Sie sich schon mal gefragt, wie viel eine Näherin arbeiten müsste, um von ihrem Lohn leben zu können? 52 Stunden in Bangladesch. 26,5 Stunden in Sri Lanka. 13 Stunden in Indien. Nein, nicht pro Woche, PRO TAG! Ein Rechnungsfehler? Nein, das ist die knallharte Realität. Die Erklärung von Bern (EvB) hat im August eine Kampagne zum Thema Existenzlohn in der Kleiderbranche lanciert. Dazu entstand auch eine Website, auf der man jede Woche neuen Markenfirmen eine Protestbotschaft schicken konnte. Diese reagierten mit wunderbar ausformulierten Antworten. "Leider gibt es noch kein Existenzlohn-Modell, nach dem wir die Löhne richten könnten", so die Migros. Die meisten Markenfirmen behaupten, dass ein Existenzlohn nicht umsetzbar sei, weil es keine breit abgestützte Definition gebe. Sie irren sich. Die Asia Floor Wage Campaign (AFW), eine breite asiatische Allianz aus GewerkschafterInnen, NGOs und WissenschaftlerInnen erarbeiteten ein kleines Meisterwerk: Ein Modell zur Berechnung eines existenzsichernden Lohnes, der über Länder hinweg verglichen werden kann.


Die wahren Opfer

Bei den Modefirmen und bei den Kleiderfabriken herrscht nach wie vor das Motto des "Survival of the Cheapest", ein knallharter Kampf um Billigarbeitskräfte und Wettbewerbsvorteile. Um Investoren anzulocken, setzen die Regierungen der meisten Produktionsländer den gesetzlichen Mindestlohn viel zu tief an. Ein gutes Beispiel ist Bangladesch, wo die Regierung nach massiven Protesten angekündigt hat, einen neuen Mindestlohn einzuführen. Doch selbst mit diesem neuen Mindestlohn müssten die ArbeiterInnen immer noch täglich 29 Stunden arbeiten, um über die Runden zu kommen. Vergleich oben: 52 Stunden. Ein gesetzlicher Mindestlohn in Asien deckt also gerade 20-60 Prozent der Lebenserhaltungskosten einer Näherin. Die Folgen sind klar: die NäherInnen leisten unzählige Überstunden, nur damit sie sich und ihre Familien halbwegs versorgen können. Gerade mal 0,5-3 Prozent vom Verkaufspreis des Kleidungsstücks kommen bei der Näherin wirklich an, dies entspricht wenigen Rappen pro T-Shirt. Wo bleiben die restlichen 99,5 beziehungsweise 97 Prozent? Der grösste Teil, also 60-65 Prozent sind Kosten des Detailhändlers plus Gewinne und Verkaufssteuern. 14-18 Prozent sind Kosten der Markenfirma plus Gewinne, 4-5 Prozent gehen für Verladung, Verzollung und Transport drauf. Dann kommen indirekte Kosten und Gewinn der Fabrik, also 5-7 Prozent, und die restlichen 9-13 Prozent sind Materialkosten. Gewinne über Gewinne, aber die Näherin gewinnt nichts.


Existenzlohn Berechnung

Eine Arbeiterin in Indien hat einen durchschnittlichen Tageslohn von 3,40 Franken. Ein Kilo Linsen kostet aber 2,90 Franken, Ein Kinoticket 2,90 Franken und das Schulgeld für einen Monat 9,30 Franken. Die Asia Floor Wage Allianz will diesen Hungerlöhnen ein Ende setzen und definierte einen Existenzlohn für ganz Asien, deren Berechnung in fünf Schritten erfolgt. Um einen asiatischen Grundlohn zu berechnen, müssen zuerst die Grundlagen und die verschiedenen Komponenten, auf denen er basiert, definiert werden. Die Definition richtet sich unter anderem nach dem Ernährungsbedarf der Näherinnen, also cirka zwischen 2000 und 3000 Kalorien pro Person/Tag. Der Existenzlohn soll für zwei Erwachsene und zwei Kinder ausreichen. Es hat sich auch gezeigt, dass Menschen an der Armutsgrenze 50 Prozent ihrer Gesamtausgaben für Essen brauchen. Der Betrag, der für einen Warenkorb mit 3000 Kalorien pro Person/Tag benötigt wird, muss also verdoppelt werden. Diese Verdoppelung soll dann die übrigen Ausgaben wie Freizeit, Schulbildung, Miete, Transport und weitere abdecken. Der Existenzlohn der AFW garantiert allen asiatischen Ländern den gleichen Gegenwert an Gütern, weil er die unterschiedlichen Preisniveaus der Länder einberechnet und keinen kurzfristigen Währungsschwankungen unterliegt. Das Fazit ist, dass Firmen sich nicht mehr hinter der Ausrede verstecken können, da es kein breit abgestütztes Berechnungsmodell gäbe. Die gesamte Firmenpolitik muss sich ändern, damit aus den Modeopfern fair bezahlte ArbeiterInnen werden. Erst dann wird Mode richtig inspirierend.


Die gesamte Berechnung des Existenzlohnes kann in der nächsten Ausgabe des vorwärts nachgelesen werden oder auf www.saubere-kleidung.de/downloads/2009-11-23_afw_report_dt.pdf Weitere Infos auf der EvB Website: zehn rappen.ch


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 37/38/2010 - 66. Jahrgang - 9. Oktober 2010, S. 10
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2010