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VORWÄRTS/663: Blickpunkt Palästina - "Langfristig optimistisch"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 24/25/2010 vom 25. Juni 2010

BLICKPUNKT PALÄSTINA
"Langfristig optimistisch"


luk. Jochi Weil hat vom 7. bis zum 27. Mai seine alljährliche Projektreise nach Israel und Palästina unternommen, insbesondere in den Gazastreifen. Ein Interview über Lage und Eindrücke im beziehungsweise aus dem Gazastreifen.



VORWÄRTS: Lieber Jochi, kannst du dich kurz vorstellen?

JOCHI WEIL: Mein Name ist Jochi Weil. Seit 1981 arbeite ich in verschiedenen Funktionen bei "medico international schweiz", vormals Centrale Sanitaire Suisse (CSS) Zürich. Seit 2001 bin ich weiterhin Projektverantwortlicher für Palästina und Israel.

VORWÄRTS: Aus welchen Gründen hast du die Reise in den Gazastreifen unternommen?

JOCHI WEIL: Es ist eine Projektreise, die ich jedes Jahr mache, um einen Überblick über die basismedizinischen Projekte zu gewinnen sowie zu sehen, ob die Spendengelder sinnvoll und zielgerichtet eingesetzt werden. Dabei geht es auch darum, unsere PartnerInnen und FreundInnen zu besuchen.

VORWÄRTS: Welche Partnerorganisationen habt ihr in Palästina?

JOCHI WEIL: Zum einen wäre dies die "Palestinian Medical Relief Society" (PMRS), der Hauptprojektpartner seit Ende der Achtzigerjahre. Es ist eine medizinische Organisation, welche in Palästina zum Beispiel mithilfe einer "mobile clinic", einer mobilen Klinik, die medizinische Versorgung in abgelegenen Gebieten sicherzustellen versucht.

Andere Schweizer Organisation, wie die Kinderhilfe Bethlehem und die Caritas Schweiz, unterstützten die PMRS via medico. Beide haben sich an medico gewandt und Geld für die medizinische Unterstützung nach dem Krieg im Gazastreifen letztes Jahr, der über 4.000 Verwundete gefordert hatte, bereitgestellt.

Schliesslich ist da noch das "Gaza Community Mental Health Programme" (GCMHP). Das Center bildet seit 2003 im Gazastreifen durch die Fachfrauen Ursula Hauser, Psychoanalytikerin, und Maja Hess, Oberärztin, beide von "medico" aus der Schweiz Fachkräfte im Bereich "Psychodrama" aus, welche den durch Krieg und Blockade traumatisierten Menschen helfen sollen. Sie benutzen eine Methode, welche, vereinfacht gesagt, Gruppentherapie mit szenischer Darstellung verbindet.

VORWÄRTS: Was ist dein Eindruck von der Reise in den Gazastreifen?

JOCHI WEIL: Generell kann man Folgendes sagen: Wir sind überall sehr herzlich empfangen worden und sind zufrieden mit dem Verlauf der Projektarbeiten der PMRS und der GCMHP. Als wir in den Gazastreifen kamen, sind uns die vielen zerstörten Häuser in der Nähe der Grenze aufgefallen, dies sind Spuren des Gaza-Krieges vom 27. Dezember 2008 bis 23. Januar 2009.

In Gaza-Stadt herrscht hingegen eine vordergründige Normalität. Es hat viele Menschen, viel Verkehr, und es sind fast keine zerbombten Häuser mehr erkennbar. Drei Ministeriumsgebäude sind jedoch immer noch zerstört stehen gelassen worden, vermutlich als Mahnmale in Erinnerung an den Krieg.

In den Gesprächen mit den verschiedenen Partnern hat sich bald einmal die zunehmende Armut der Bevölkerung gezeigt - so waren die Menschen, welche nicht einmal den symbolischen Beitrag für die medizinische Behandlung von drei Schekel aufbringen konnten - von fünf Prozent vor dem Krieg auf 30 Prozent nach dem Krieg gestiegen. Es gibt einen erwiesenen Zusammenhang zwischen der Armut und Krankheiten. Zu erwähnen sind die "flächendeckenden" Depressionen von Menschen im Gazastreifen. Dies will ich nicht pathologisch verstanden wissen, sondern als eine psychische Reaktion auf die dreijährige Blockade.

VORWÄRTS: Was wird von den Partnerorganisationen und der Bevölkerung dagegen unternommen?

JOCHI WEIL: Beim GCMHP haben wir an einem Psychodrama-Workshop teilgenommen. Dort wurde eine Szene bearbeitet, an der ein junger Palästinenser und zwei Kollegen beobachtet hatten, wie vier Kinder durch israelische Geschosse getötet worden sind. Was natürlich bei den drei jungen Männern Hilflosigkeit, Wut und Trauer ausgelöst hat.

Wir haben gesehen, wie der eine Mann seine Wut gegen die israelischen Soldaten, symbolisch zum Ausdruck gebracht hat, indem er mit einem Besenstil mit voller Kraft gegen einen Stuhl geschlagen hat. Das Erlebte zeigt mir, dass bald anderthalb Jahren nach dem Krieg die Traumata noch nicht bearbeitet sind, dass viel noch da ist. Von vollständiger Bearbeitung kann keine Rede sein. Ich finde, dies festzuhalten sehr wichtig.

Was uns beide, meine Frau und mich, tief beeindruckt hat, ist der Besuch von zwei Institutionen für Kinderbetreuung in Khan Yunis; eine für kleinere Kinder und eine für Teenager. Den Kindern werden verschiedene Freizeitaktivitäten angeboten, wie Malen, Theater, Tanz, eine Bibliothek, und natürlich Spiele wie Fussball. Uns ist insbesondere das friedliche pädagogische Klima dort - und das sagen wir als Berufspädagogen - aufgefallen. Der Sinn dieser Einrichtungen ist, dass man auf die Zukunft hinarbeitet, dass man den Kriegs-, Besatzungs- und Absperrungstraumata etwas Konstruktives entgegenhalten kann.

Weiter ist die Doppelstrategie zu erwähnen, die mir beim Kontakt mit fortschrittlichen Kräften in Palästina aufgefallen ist: Einerseits wird zwar klar und unmissverständlich gegen die israelische Besatzung und Blockade gekämpft. Hier herrscht Konsens, beim Kampf durch zivilen Widerstand. Aber was auch sehr interessant ist, ist die kritische Haltung, in der man beobachtet, was sich innerpalästinensisch abspielt. Diese Doppelstrategie, also auch die Kritik gegen innen, halte ich für einen befreienden Weg als sehr wichtig.

VORWÄRTS: Wie verändert die israelische Blockade das Leben?

JOCHI WEIL: Der Einlass vieler Güter nach Gaza wird von den israelischen Behörden verweigert. Es werden zum Teil Güter nicht in den Gaza-Streifen reingelassen, welche überhaupt keine Gefahr für Israel darstellen, aber die Bevölkerung treffen, so zum Beispiel Schokolade, getrocknete Früchte, Spielzeug oder Musikinstrumente. Auch Baumaterial wäre nötig. In ganz Gaza-Stadt habe ich keine Baustelle gefunden, obwohl ich darauf geachtet habe. Dabei wäre es notwendig, die Wasserleitungen zu restaurieren und auch Schulen wiederherzustellen.

Aber man muss sagen, so mein Eindruck, dass die Bevölkerung mit dem Allernotwendigsten versorgt wird. Wenn jedoch die Flüchtlingshilfe der UNO, die UNWRA, die Bevölkerung nicht mit Lebensmitteln versorgen würde, gäbe es wohl Hunger. Mangelernährung ist allerdings verbreitet.

Was die Situationen auch erleichtert, sind die vielen Tunnels. Durch diese kommen viele Güter aus Ägypten, man kann durch sie fast alles importieren. Die Qualität dieser Waren ist jedoch oftmals nicht gut. Ebenfalls problematisch ist, dass sich eine kleine Schicht in Rafah an der Tunnelwirtschaft bereichert. Was man auch sagen muss: Bei der Tunnelwirtschaft haben bis anhin 141 Menschen ihr Leben verloren, darunter vier Kinder. Zehn sind durch Israelis umgekommen. Man muss hervorheben, dass die Kinderarbeit ein grosses Problem in Gaza ist. Häufig werden Kinder zum Arbeiten geschickt, damit sie irgendetwas verdienen. Man kann sich vorstellen, was das für die Schulbildung bedeutet...

Die Blockade betrifft aber auch die See: Fischer können nur noch drei Seemeilen ins Meer hinausfahren. Dadurch ist es unwahrscheinlich schwierig geworden, dass sie noch genügend Ertrag erzielen können. Zum Vergleich: Nach dem Oslo-Abkommen 1993 war die Zone 20 Meilen gewesen, nach Beginn der Zweiten Intifada noch zwölf, nach dem einseitigen Rückzug aus Gaza 2005 noch sechs, und nach dem Gazakrieg eben noch drei. Dies ist nicht nur existenzbedrohend für die Fischer, sondern auch für die Versorgungslage der Bevölkerung.

VORWÄRTS: Wie ist die Auswirkung der Hamas auf die Situation im Gaza-Streifen?

JOCHI WEIL: Bei der Einreise nach Gaza wurden - erstmals - durch Hamasfunktionäre unsere Daten im Computer abgespeichert. Wir wurden fotografiert, und unser Gepäck wurde einer recht genauen Kontrolle unterzogen. Sie scheinen von der Gegenseite zu "lernen"...

Mit der Hamas habe ich keinen Kontakt. Jedoch verliert sie an Einfluss in der Bevölkerung, so zum Beispiel weil sie hohe Steuern und Gebühren erhebt. Für eine Schachtel Zigarette zahlt man eine Steuer von drei Schekel. Das bei einer solch grossen Armut. Sogar Nichtregierungsorganisationen müssen eine gewisse Gebühr zahlen, wogegen sie sich jedoch gemeinsam zur Wehr setzen.

Ein weiterer Grund für die abnehmende Zustimmung der Hamas - sie liegt gemäss Umfragen nur noch bei 16 bis 17 Prozent in der Bevölkerung - ist die Erinnerung an die schweren Auseinandersetzungen zwischen der Fatah und Hamas 2007. Rund 700 Personen wurden dabei im Gazastreifen getötet. Radikale wandern zum Teil zu "Selefi" ab, einer noch radikaleren islamistischen Bewegung.

Was uns von der Al-Mesan, einer Menschenrechtsorganisation im Gazastreifen, gesagt wurde, dass sie seit 2007 nicht mehr wegen Menschenrechtsverletzungen in Gaza vor Gericht gehen, sondern die Fälle nur noch aussergerichtlich begleiten. Die Gerichte seien vollständig von der Hamas kontrolliert. Eine Zeit lang haben Anwälte Gefangene der Hamas nicht besuchen dürfen. Später wurde diese Regelung aber wieder aufgehoben. Was man anmerken muss zur eigentlichen Belagerung von Gaza: Sie hat nicht erst mit der Machtübernahme der Hamas 2007 angefangen, sondern schon viel früher.

VORWÄRTS: Wie reagieren die Menschen im Gaza mental auf die Blockade? Worin sehen sie die Perspektive?

JOCHI WEIL: Ich denke, dass die Zunahme von Depressionen eine Antwort darauf ist. Die Ohnmacht ist sehr viel grösser geworden gegenüber der gesamten Situation.

Wir wurden jedoch mit sehr viel Herzlichkeit empfangen. Ich denke, das liegt daran, dass wir seit Jahrzehnten aktiv sind, und so etwas wie Botschafter sind. Es ist deshalb wichtig, denke ich, auch wirklich herzukommen. Bei der Bevölkerung, bei welcher die Mehrheit noch sehr jung ist, ist es bemerkenswert, dass nicht nur die Alten resigniert sind, sondern zum Teil schon die Jungen. Es herrscht eine allgemeine Resignation. Eine Perspektive sehe ich höchstens langfristig, in dem man sich Stück für Stück dem Ziel nähert. Die Kräfte des zivilen Widerstands gegen die israelische Blockade und Besatzung sollte man unterstützen, eine Verständigung zwischen den dazu willigen Kräften ermöglichen.

Ein palästinensischer Partner sagte mir: Die Kommunisten akzeptierten die Teilung Palästinas schon vor Jahrzehnten, andere nicht, weil sie die Geschichte nicht berücksichtigten und deshalb immer wieder die gleichen Fehler begehen. Er sei realistisch, jedoch langfristig optimistisch.


Verbotene Produkte

Die folgende Liste gibt ein Teil derjenigen Produkte wieder, deren Einfuhr in den Gaza-Streifen im Rahmen der Blockade unterbunden wird.

Die israelischen Behörden verweigern, genaue Angaben bekannt zu geben, welche Produkte nicht eingeführt werden dürfen. Deshalb handelt es sich nur um eine ungenaue Liste.

Salbei
Koriander
Ingwer
Marmelade
Essig
Schokolade
Obstkonserven
Samen und Nüsse
Gebäck und Süssigkeiten
Chips
Trockenfrüchte
Frischfleisch
Teer
Bauholz
Zement
Stoff (für Kleidung)
Angelruten
verschiedene Fischernetze
Musikinstrumente
DIN-A4-Papier
Schreibutensilien
Notebooks
Zeitungen
Spielzeug
Rasierer
Nähmaschinen
Heizungen
Pferde
Esel
Ziegen
Küken

QUELLE: GISHA.ORG


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 24/25/2010 - 66. Jahrgang - 25. Juni 2010, S. 6
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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vorwärts erscheint 14-täglich,
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Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2010