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VORWÄRTS/630: Zürich - Papierlose Menschen protestierten gegen unmenschliches Nothilferegime


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 11/12 vom 19. März 2010

Nothilfe oder Sterbehilfe?

Von Michi Stegmaier


Rund hundert papierlose Menschen marschierten am 9. März bei eisiger Kälte vors Zürcher Sozial- und Migrationsamt. Mit der Demonstration "Nothilfe abschaffen - Lösungen statt Lügen" protestierten sie lautstark und kämpferisch gegen das unmenschliche Nothilferegime, dem sie unterworfen sind.


Alleine im Kanton Zürich leben derzeit mehr als 1000 Asylsuchende in Notunterkünften im so genannten Nothilfe-Programm. Diese Unterkünfte befinden sich ausserhalb der Städte und sind für einen grossen Teil der Bevölkerung nicht sichtbar. Im Januar 2008 wurde das Asylgesetz noch weiter verschärft. Seit diesem Zeitpunkt werden auch Menschen mit einem negativen Asylentscheid von der Sozialhilfe ausgeschlossen und so bewusst und gezielt aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Die unweigerlichen Folgen sind Perspektivlosigkeit, Armut, Kriminalität und Gewalt. Und es ist klar und offen deklariert, dass diese Massnahmen genau diesem Zweck dienen sollen. Diese grobschlächtige und brutale bürokratische Verfahrensweise hat aber erwiesenermassen nicht funktioniert. Das hindert die Behörden aber nicht daran, an dieser unsinnigen Praxis weiterhin festzuhalten.


Dummes Volk und dummes Gesetz

Doch die Spatzen pfeifen es schon lange von den Dächern, das anfangs von den Fremdenfeinden hochgelobte neue Asylgesetz zeigt immer weniger Wirkung und ist längst zu einem Bumerang geworden. Statt die Situation im Asylbereich zu entschärfen, ist in der Zwischenzeit exakt das Gegenteil eingetroffen. Die Unterbringungssituation ist äusserst angespannt und beim Bundesamt für Migration soll es deshalb mächtig hinter der Kulisse rumoren. Viele Kantone sehen sich gezwungen, neue Nothilfezentren am Fliessband zu eröffnen, weil der "Abfluss" (Beamtenjargon) nicht wie angedacht funktioniert. Oder anders formuliert: Es kommen mehr Flüchtlinge als gehen. Vor allem die Schaffung des so genannten NEE-Status erweist sich immer mehr als Rohrkrepierer. Doch überraschend kommt das nicht und genau vor diesem Szenario wurde seitens der Gegnerschaft des revidierten Asylgesetzes eindringlich gewarnt. Seit 2004 erhalten Menschen, auf deren Asylgesuch nicht eingetreten wird, keine Sozialhilfe mehr, sondern nur noch eine so genannte Nothilfeleistungen. In der Nothilfe zu leben bedeutet für die Betroffenen, unter der Armutsgrenze leben zu müssen, keine richtige Bleibe zu haben, hin und hergeschoben zu werden, medizinische Versorgung nur im äussersten Notfall zu erhalten und sozial isoliert zu sein. Etwas gebracht hat diese ganze Übung nicht wirklich was. Viele der Betroffenen leben nun seit Jahren mit der Nothilfe, die eigentlich ursprünglich als provisorisches Druckmittel, aber nie als Dauerlösung, gedacht war. Das Nothilfe-Regime hat nicht nur versagt, sondern quält die Menschen und produziert depressive, aggressive und kranke isolierte Individuen am Fliessband.


Ohne Chance auf ein faires Verfahren

Welche absurden Folgen diese irrationale Politik hat, zeigt das Beispiel eines afghanischen Asylsuchenden exemplarisch. Der Flüchtling Hamid(*) hätte durchaus Chancen auf Asyl - oder mindestens ein faires Verfahren - gehabt, hätte er einen Pass anstelle seines Identitätsausweises abgegeben und wäre er mit einem fliegenden Teppich in der Schweiz angekommen. Einen Pass hat er nie besessen und fliegende Teppiche gibt es nur in "1001 Nacht". Gemäss neuem Asylgesetz hätte Hamid in Griechenland als Schengen-Erstland sein Asylgesuch einreichen müssen. Das Griechenland, welches kurz vor dem Staatsbankrott steht und kein geregeltes Asylverfahren kennt, weshalb verschiedene europäische Länder unterdessen auf Rückschiebungen verzichten. Nun sitzt Hamid seit rund eineinhalb Jahren in der Schweiz fest. Zweimal schon wurde er früh morgens von der Polizei abgeholt und versucht ihn in einen Flieger nach Kabul zu setzen. Beides Mal weigerte er sich einzusteigen. Bis im Frühjahr 2007 lebte er während rund zehn Jahren in Pakistan. Dann kehrte er zurück nach Afghanistan, wo er für ein paar Monate als Lehrer arbeitete. Dann wurde es ihm zu gefährlich. "Das Leben in Afghanistan ist schlimm, sehr schlimm. Die Taliban sind immer noch allgegenwärtig. Dazu kommt die grassierende Korruption, sowie, dass es immer mehr kriminelle Banden gibt, die sich auf Entführung und Erpressung spezialisiert haben. Gerade, wenn du aus dem Ausland zurückkehrst, musst du jederzeit damit rechnen, entführt zu werden", beschreibt Hamid die afghanische Realität.

Zurück nach Pakistan wollte er nicht, da dort der Druck gegen seinesgleichen stetig steigt und Hunderttausende afghanischer Flüchtlinge das Land verlassen müssen. Hamid folgte dem Beispiel vieler seiner Landsleute; er machte sich auf den Weg in Richtung Westen, denn schlimmer konnte es nicht mehr kommen.

In der Schweiz hat er jedoch keine Chancen auf ein geregeltes Verfahren. Was ihm bleibt, ist ein Leben in der Illegalität, Schwarzarbeit und die Hoffnung auf nichts. Bleiben wird er trotzdem, weil er keine andere Wahl hat.

(*) Name geändert


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 11/12 - 66. Jahrgang - 19. März 2010, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2010