Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

VORWÄRTS/619: Über Schweizer in der DDR


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 43/44 vom 13. Nov. 2009

Über Schweizer in der DDR

Von Tristan P. Dzikowski


Das Gedenken um die Wende nimmt kein Ende. Was bei allem fehlt ist ein Blick auf die DDR von jenen, die an das sozialistische Deutschland glaubten. Das "sogar theater" in Zürich füllt diese Lücke. Es bringt eine Text-Bild-Musik Collage auf die Bühne. Das Stück widmet sich dem Thema "Schweizer in der DDR" und trägt den Titel "Der rote Faden.


In einem relativ kleinen Raum spielt sich alles ab: Das "sogar theater" liegt an der Josephstrasse, gleich in der Nähe jener Beiz, in der die Partei der Arbeit Zürich ihre Versammlungen abhält. Im Theater selbst windet sich eine Handvoll Stuhlreihen um die Bühne. Auf der Bühne steht ein langgezogener Tisch bereit. Zwei Leselampen und zwei mit Wasser voll eingeschenkte Gläser sind zu erkennen. Die Schauspieler betreten die Bühne, das Stück beginnt. Regula Imboden nimmt Platz, und mit ihr Martin Hamburger. Die erste Strophe der DDR-Hymne erklingt, "Auferstanden aus Ruinen". Links von der Bühne wird ein Video an die Wand projiziert. Bilder aus einer vergangenen Zeit sind zu sehen. Zerschossene Hausfassaden, ausgebrannte und zerbombte Ruinen - die noch nicht gegründete DDR. Portraits werden eingeblendet, Menschen in ihrem Wirken, später auch DDR-Werbung. Das Stück beschreibt nicht nur das Leben der Schweizer, die nach Osten gingen. Zugleich erzählt "Der rote Faden" ein Stück Geschichte der DDR.


Richtung Osten

Das Video verstummt, die Sprecherin beginnt: "Wir gehörten sozusagen zu den ersten, die nach Ostdeutschland gezogen sind. Wir waren nicht die Einzigen." Dies sind die Worte von Aenne Goldschmidt. Sie ist eine von jenen aus der Schweiz, die woanders leben wollten - in der (späteren) DDR. Die Sprecherin nennt ihren Namen, und im Jahre 1948/49 war es nicht ganz einfach "über die Sowjetbehörden in der Berner Gesandtschaft ein Visum für die sozialistische Besatzungszone zu bekommen". Die Schauspielerin Verena Zimmermann zählte zu den Eingereisten, mit ihrem Mann, dem Regisseur Denys Seiler. Oder auch Heinrich Strub, der sich als Grafiker und Buchillustrator einen Namen machte. Hans Schmid, der Architekt, der Regisseur Benno Besson, und auch Professor Arthur Baumgartner, der Rechtswissenschaftler. Viele Intellektuelle und Künstler sind Richtung Osten gegangen.

Fotos werden eingeblendet, Portraits von Aenne und Harry Goldschmidt-Michel aus dem Jahre 1948. Der Sprecher, Martin Hamburger, liest jetzt ruhig und weniger emotional als die Sprecherin Regula. Hier lesen Schauspieler, die nicht nur einen Text vortragen, sondern zugleich in Rollen schlüpfen. Imboden spielt Hamburger. Letzterer brilliert mit einer noch selten zu hörenden, versachlichten Vortragsart, die das Gegenteil von dem erzeugt, was man vermuten möchte: emotional zurückgenommener Stil legt den Inhalt des Gesagten wirkungsvoll offen. Mann will man zuhören. Doch was ihm - vielleicht auch ganz bewusst -, ein wenig Emotionen, das steuert Regula bei. Die Vortragenden ergänzen sich ideal. Das Stück setzt sich intensiv mit dem Leben der Portraitierten auseinander. Hier nur einige Aspekte...


Aenne Goldschmidt

Aenne Goldschmidt-Michel, 1920 geboren, verheiratet mit dem Schweizer Musikwissenschaftler Harry Goldschmidt. Bis zum Verbot der KPS 1940 ist sie Parteimitglied. 1942 wird sie Mitbegründerin der Sozialdemokratischen Jugend Bern, 1944 wird Aenne Mitglied im Zentralkomitee der PdAS. Die Künstlerin geniesst eine Tanzausbildung und siedelt 1949 mit ihrem Mann nach Ostberlin über. Sie ist Autorin des mittlerweile zum Klassiker gewordenen "Handbuch des deutschen Volkstanzes", einer systematischen Darstellung der gebräuchlichsten deutschen Volkstänze, mit separatem Text-, Noten- und Bildband.

Für Aenne war die DDR, die den Sozialismus entwickeln wollte, ein Ziel. Hamburger beschreibt die ersten beruflichen Schritte ihres Mannes. Er wirkt am Berliner Rundfunk, wird jedoch nach einem Jahr gefeuert. Begründung: Seine Musiklinie sei zu "westlich" und berücksichtige zu wenig die "Musik der Völker der Sowjetunion".

"Berlin war unerhört zerstört, als wir ankamen. Da wo später die Stalin-Allee lag und jetzt die grosse Frankfurter Allee ist, vom Alexander Platz nach Osten hinaus, da waren die ganzen Häuserreihen rechts und links nur noch Trümmerhaufen", so Imboden in der Rolle der Aenne. Im April 1994 kehrt sie zurück in die Schweiz. In der DDR lebt sie nach eigenen Angaben in einem sehr schönen Haus. Auf dem Nebengelände hatte ihr Mann einen Studio-Bungalow bauen können. "Das Gebäude diente als Arbeitsstätte und es fanden dort die Zusammenkünfte der DDR-Sektion der PdA statt", so Imboden. Als einzige westeuropäische Partei unterhielt die PdA eine Sektion in der DDR. Der nächste Schweizer, der in die DDR ging, war Marcel Brun, alias Jean Villain. Geboren 1920 in Zürich, gestorben 2006 in Dreesch in der Uckermark. Er stammt aus grossbürgerlichem Haus. Villain wird Reporter. 1949 tritt er der PdA bei. Villain arbeitet in Ost-Berlin unter anderem als Korrespondent des Schweizer "vorwärts".

Oder: Zimmermann und Denys Seiler. Verena, geb. 1935 in Zürich, ist Schauspielerin und verheiratet mit dem Regisseur und Schauspieler Denys Seiler. Beide leben heute in Zürich. Neben ihrer schauspielerischen Tätigkeit arbeitete sie in der Buchhandlung von Theo Pinkus, der sie politisiert und bei ihr das Interesse an der DDR weckt. 1960 Übersiedlung in die DDR. Dabei gilt ihr Interesse unter anderem dem Berliner Ensemble um Helene Weigel.


Theo Pinkus

Der Büchernarr beginnt 1927 eine Lehre als Verlagsbuchhändler bei Ernst Rowohlt in Berlin, die er erfolgreich beendet. In Schöneberg tritt er dem Kommunistischen Jugendverband bei und wird 1929 von Wilhelm Pieck in die KPD aufgenommen. Seinem Mitgenossen Willi Stoph - dem späteren Vorsitzenden des Ministerrats der DDR - bringt er nach Feierabend auf der Verlagspresse das technische Handwerkzeug zur Herstellung von Flugblättern bei. Im Februar 1933 wird er kurzzeitig von der SA verhaftet. Nach seiner Freilassung rät ihm der Schweizer Gesandte Hans Fröhlicher: "Jude, Kommunist und Ausländer - das ist ein bisschen viel. Fahren Sie weg." Zurück in der Schweiz heiratet er 1939 Amalie De Sassi und gründet 1940 mit 1000 Franken Startkapital den "Büchersuchdienst". Pinkus besuchte 1948 die Leipziger Buchmesse und engagierte sich für den Austausch von Büchern aus der Schweiz in die sozialistischen Länder und umgekehrt. "Ich identifizierte mich wirklich stark mit der DDR. Viele meiner früheren Bekannten wurden, soweit sie die Nazi-Verfolgung überlebt hatten, zu führenden Politikern oder Intellektuellen in der DDR", so Hamburger alias Pinkus.

Das ausführliche Wirken der hier aufgeführten Personen wird - wie schon erwähnt - im Stück immer wieder über gelungene Video-Einspielungen und Fotos ergänzt. "Der rote Faden" ist dringend für alle zu empfehlen, die über das Leben von Schweizer KommunistInnen in der DDR, sowie über ihre Einschätzung zu diesem Teil Deutschlands mehr wissen wollen.


Nächste Aufführung:
6. Dezember 2009. 17 Uhr, sogar theater, Josefstr. 106, 6005 Zürich

Zum 100. Geburtstag von Theo Pinkus siehe auch die Ausstellung und die Veranstaltungen der zentralbibliothek Zürich, http://www.ze.uzh,ch/


*


Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 43/44 - 65. Jahrgang - 13. Nov. 2009, S. 12
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch

vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-
reduziert (AHV, Studenten): Fr. 110.-


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Dezember 2009