Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


STREIFZÜGE/036: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 63, Frühling 2015


Streifzüge Nummer 63, Frühling 2015
Magazinierte Transformationslust

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde



INHALTSVERZEICHNIS

Petra Ziegler: Einlauf

Tomasz Konicz: Generation Sarrazin.
Eine kurze Skizze der Genese der neuen deutschen Rechten

Emmerich Nyikos: Windmühlengefechte.
Warum die "Tauschwertgesellschaft" die Welt von "Schurken" befreit

Franz Schandl: Im Bannkreis der Gewalt.
Überlegungen zu einem elementaren Problem und seinen Facetten

G. M. Tamás: Innocent Power. Oder: Die unschuldige Macht und ihre Effekte

Nikolaus Dimmel: Gewalt - ein Verhältnis

Karin Wachter: Sexualisierte Gewalt.
Aspekte eines gesellschaftlichen Problems

Martin Scheuringer: Freundliche Gewalt

Meinhard Creydt: Bürgerliches und kriminelles Handeln

Ilse Bindseil: Die Gewalt des Faktischen.
Ein anderer Blick auf einen alten Gegner

Uwe von Bescherer: Grenzen der Körperbeherrschung

Andreas Exner: Und was wäre dann Befreiung?
Geschlechterrollen zwischen Zuschreibung und Machtressource

Dieter Braeg: Arbeitslose und Jobkiller.
Arbeit in der Science-Fiction (Teil III)

Lorenz Glatz: Den Kapitalismus vor sich selber retten?

Kolumnen

Dead Men Working: Maria Wölflingseder
Immaterial World: Stefan Meretz
Rückkopplungen: Roger Behrens

Rubrik 2000 abwärts
Lorenz Glatz: "Nous sommes Charlie"?
Dominika Meindl: Rauch- und Gewaltfreiheit

Petra Ziegler: Auslauf

*

Einlauf

von Petra Ziegler

Die täglichen Schreckensbilder eskalierender Gewalt und Zerstörung geben Zeugnis von der chaotischen Zersetzung staatlicher Strukturen im Nahen Osten und nicht nur da. Brutale Gewalt macht Angst, lähmt unmittelbar oder entlädt sich nicht selten wiederum in Gewalt - eine Negativspirale. Für die strukturellen Mechanismen am Grund fehlen vielfach die Antennen. Deren Auswirkungen werden oftmals erst schleichend spürbar, ohne dass sie richtig geortet und gedeutet werden können.

Mit dem Ende der integrativen Kraft des warenproduzierenden Systems selbst in den kapitalistischen Zentren äußert sich die porös werdende staatliche Macht zunehmend in Form von Repression, wird der Konkurrenzdruck stärker, die Furcht vor sozialem Abstieg massiver. Einfache Lösungen und Sündenböcke scheinen wieder gefragt.

Gewalt steht im Zentrum dieser Frühjahrsausgabe. Keine angenehme Lektüre, doch bemühen sich unsere Autorinnen und Autoren, verschiedene Facetten der Gewaltproblematik auszuleuchten.

*

Kurz noch zu den kleinen Erfreulichkeiten des redaktionellen Alltags: der Abwärtstrend bei den Abos ist gestoppt, das Interesse an den Artikeln online ungebrochen hoch. Auch der Ruf nach praktischer Unterstützung unseres Tuns blieb nicht ungehört - allem voran freut uns die Verstärkung für Lektorat und Redaktion.

Nicht nur Interesse, auch organisatorische, infrastrukturelle und jedwede anderweitige Hilfe ist willkommen. Auch Geld, solange es das noch geben wird. Insbesondere möchten wir auf die Möglichkeit des Streifzüge-TRANSponsoring hinweisen: Wer es sich leisten kann, zögere bitte nicht länger und überweise uns per Dauerauftrag z.B. 10 Euro im Monat, im Vierteljahr oder im Halbjahr. Auch höhere Beiträge nehmen wir gerne. Mehr Infos unter
www.streifzuege.org/trans-trafo-abo

*

Generation Sarrazin

Eine kurze Skizze der Genese der neuen deutschen Rechten

von Tomasz Konicz

Es sind quälende 70 Minuten, die jeder Youtube-User über sich ergehen lassen kann, der "Pegida: Die Interviews in voller Länge" in das Suchfeld dieser Videoplattform eintippt und sich das ungeschnittene Rohmaterial mit Interviews von Pegida-Anhängern anschaut, das ein Reporterteam des NDR-Politmagazins Panorama ins Netz stellte. Panorama entschloss sich zu diesem ungewöhnlichen Schritt, nachdem ein als Provokateur agierender Undercover-Mann von RTL sich unter die Interviewpartner des Reporterteams mischte und Vorwürfe einer manipulativen Darstellung dieser Aussagen in einer Panorama-Reportage laut wurden. Bei Durchsicht des Materials wird aber offensichtlich, dass die Aussagen des RTL-Provokateurs zu den zurückhaltendsten und vorsichtigsten xenophoben Äußerungen gehören, während viele der "echten" Pegida-Anhänger offensichtlich Mühe haben, ihren Hass und ihre Wut überhaupt noch im Zaum zu halten.

Von daher stellen die Interviews eine der wenigen Gelegenheiten dar, Einblicke in das Weltbild einer rechtsextremen Bewegung zu erhalten, deren Gefolgschaft sich für gewöhnlich jeglicher Analyse ihrer Wahnvorstellungen verweigert - frei nach dem Motto: "Mein Wahn gehört mir." Zwei ressentimentgeladene Argumentationsstränge fallen bei den Interviews sofort auf: einerseits die Klagen über zu niedrige Löhne und Renten, über die zunehmende Prekarisierung und soziale Zerfallstendenzen, für die ausnahmslos "die Ausländer" verantwortlich gemacht werden, und anderseits die felsenfeste Überzeugung, Deutschland sei ein okkupiertes und ferngesteuertes Land.

Das reicht von der unwillig gemurmelten Bemerkung, dass "Deutschland kein souveränes Land" wäre, bis zum offen antisemitischen - und mit frenetischem Applaus der umstehenden Kundgebungsteilnehmer bedachten - Elaborat, dem zufolge die Befehle für die Politelite der BRD "aus Washington und Tel Aviv" kämen. Haarsträubend die Offenheit, mit der von Hungerrenten lebende Rentner sich über gut gelaunte "Ausländer" empören, die sie auf Bahnfahrten zu ihren mies bezahlten Jobs, mit denen sie sich über Wasser halten müssen, anzutreffen glauben. Zivil und bürgerlich wirkende Frauen im mittleren Alter brüllen unter Beifall, die Grenzen müssten endlich "dichtgemacht" werden, da einem sonst die Haare vom Kopf geklaut würden. Die Klagen über die sich verschlechternden sozioökonomischen Bedingungen gehen nahtlos in das xenophobe oder antisemitische Ressentiment über.

Alles Böse und Schlechte kommt von außen, während die Nation - oder, bei fortgeschrittener Wahnbildung, wieder die Volksgemeinschaft - als potenziell harmonisch und widerspruchsfrei imaginiert wird. Und wenn dieser neuen deutschen Rechten - die selbstverständlich ihre fixen Ideen und Obsessionen mit dem Interesse "Deutschlands" gleichsetzt - die Regierungspolitik nicht passt, dann muss eben auch die Politelite von außen gelenkt sein.


Mobilisierung von Ressentiments

Woher kommt diese anscheinend so urplötzlich auftretende rechtsextreme Bewegung, die sich in rebellischer Pose über die "Lügenpresse" empört und mit dem politischen Establishment der BRD abzurechnen gedenkt? Dem Großteil der Funktionseliten der BRD kommt diese Entwicklung - zumindest derzeit - offensichtlich ungelegen. Vom wenig erfolgreichen Ignorieren reichen deren uneinheitliche Reaktionen über Einbindungsversuche und Diskussionsangebote bis hin zu mehr oder minder eindeutigen Verurteilungen dieses neurechten Anlaufs, wieder die Straßen und die gesellschaftliche Hegemonie zu erobern.

Ein Blick in die Archive der als "Lügenpresse" titulierten Mainstreammedien kann erste Anhaltspunkte zur Genese der neuen deutschen Rechten liefern. Die Berliner Republik erlebte nach der Wiedervereinigung vier große, durch die Massenmedien gezielt forcierte Mobilisierungen von Ressentiments, mit denen spezifische politische Ziele verfolgt wurden. Als ein informeller Gründungsakt der Berliner Republik kann die weitgehende Einschränkung des Asylrechts Anfang der 90er Jahre bezeichnet werden, die mit einer Pogromwelle, rassistisch motivierten Morden und einer durch Politik und Medien forcierten Hetzkampagne gegen "Asylmissbrauch" einherging. Das war die hassgeschwängerte Zeit, in der Flüchtlingsunterkünfte und Migranten brannten, während Massenmedien - allen voran der Spiegel, dessen Ausgabe vom 9. September 1991 ein überfülltes, von einer Menschenflut bedrohtes, schwarz-rot-goldenes Boot illustrierte - und weite Teile der Politelite, hier vor allem die CDU, eine "Das Boot ist voll"-Rhetorik pflegten, um Widerstände bei der Erringung der für eine Grundgesetzänderung notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit zu brechen. Dass auch die deutsche "Linke" Ressentiments mobilisieren kann, zeigte der von Rot-Grün geführte Kosovo-Krieg 1999, als eine wüste antiserbische Hetze - die mit Menschenrechtsrhetorik angereichert wurde - den ersten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begleitete.

Den entscheidenden Einschnitt, der die BRD in einen regelrechten Untertanenstaat verwandelte, markierte aber die Durchsetzung der Agenda 2010 und der Hartz-Arbeitsgesetze. Die drakonische Verschärfung der Arbeitsgesetze und die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die zu massiver Reallohnabsenkung, dem Aufbau des europaweit größten Niedriglohnsektors und einer allgemeinen Verschärfung der Arbeitsregimes führten, wurden mit einer beispiellosen Hetzkampagne gegen marginalisierte Bevölkerungsschichten erkauft: Die BILD-Kreation "Florida-Rolf", die massenmediale Suche nach "Deutschlands frechsten Arbeitslosen", des Kanzlers Ausspruch, es gebe "kein Recht auf Faulheit", und Münteferings Todesdrohung "Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen" bilden den braunen Ausfluss dieser Kampagne.

Während der Eurokrise, als die BRD der restlichen Eurozone ihr verhängnisvolles Sparregime oktroyierte, musste dieser eingespielte ideologische Mechanismus - bei dem die Krisenverlierer zu Krisenverursachern gestempelt werden - nur noch nach "außen", auf Südeuropa projiziert werden. Die ideologische Personifizierung der Krisenursachen erfolgte nun nicht mehr anhand schmarotzender Arbeitsloser, sondern durch das Konstrukt des faulen und verantwortungslosen Südeuropäers. Berüchtigt etwa das Titelbild des Focus vom 22. Februar 2010, auf dem eine griechische Statue dem deutschen Leser den Mittelfinger zeigt.

Bei all diesen Kampagnen wurden die zunehmenden krisenbedingten Verwerfungen - Flüchtlingselend, Kriege, Armut, Massenarbeitslosigkeit, soziale Desintegration, Wirtschaftskrisen - auf ein "Außen" jenseits der als widerspruchsfrei imaginierten deutschen Arbeitsgesellschaft projiziert. Genau dieser kulturindustriell eingeübte Mechanismus des "Outsourcings" der Krisenursachen und ihrer Personifizierung wird in den eingangs erwähnten Aussagen von Pegida-Demonstranten offensichtlich. Und selbstverständlich reproduziert auch der alltägliche Betrieb der Kulturindustrie zwecks Steigerung der Auflage diese Ressentiments. Der Spiegel etwa warnte noch im März 2007 in einer Titelstory vor der "stillen Islamisierung Deutschlands". Hetze gegen Flüchtlinge und Asylbewerber ist in Deutschlands Massenblättern, etwa der BILD-Zeitung, alltäglich. Insofern gewinnt hier der Begriff des Extremismus der Mitte an Kontur: Die Demonstranten treiben nur die massenmedial zwecks Durchsetzung bestimmter politischer Ziele ausgeformte Ideologie ins Extrem, sie verlangen eine permanente Hetzkampagne von der "Lügenpresse", wie es etwa das zentrale Transparent bei der Dresdner Demo nach den Pariser Attentaten offenkundig machte: "Wir trauern um die Opfer der Fairständnispresse!"


Verselbstständigung der Ressentiments

Und dennoch wäre es verfehlt, die Anhängerschaft der neuen deutschen Rechten als bloß "verführte" Mitläufer zu betrachten, die sich bei ihrer konformistischen Rebellion von "Rattenfängern" instrumentalisieren ließen. Die dem Kapitalismus eigene fetischistische Form der Vergesellschaftung befördert gerade in der breiten Masse die Ausbildung einer Charakterstruktur, die für rechte Ideologien empfänglich ist. Die Krise lässt diese latent vorhandene Nachfrage manifest werden - und deswegen bedienen die Massenmedien diese Nachfrage. Die Sarrazin-Debatte, in der das bei der Durchsetzung der Agenda 2010 etablierte Bild des Sozialschmarotzers mit rassistischen und sozialdarwinistischen Ressentiments angereichert wurde, deutete bereits eine solche "Verselbstständigung" der Ressentiments an, die gerade nicht mehr zur Erringung spezifischer politischer Ziele instrumentalisiert wurden. Sarrazins millionenfach abgesetzter Bestseller "Deutschland schafft sich ab", in dem der seit der Einführung der Hartz-Gesetze rasant anwachsenden Unterschicht sowie arabischen Migranten genetische Mängel unterstellt wurden, bediente gerade dieses insbesondere in der Mittelschicht anwachsende Bedürfnis nach einer Legitimierung von Exklusion und Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten. In dieser Debatte, die gerade nicht zur Durchsetzung eines spezifischen Ziels initiiert wurde, sondern von dem krisenbedingt zunehmenden ideologischen Druck in den Mittelschichten und Teilen der Funktionseliten getragen war, gelang es der neuen Rechten erstmals, die Enttabuisierung öffentlich geäußerter Ressentiments durchzusetzen. Dieser Sieg Sarrazins, mit dem sich etliche Promis aus Politik und Kultur solidarisierten, ermöglichte erst die gegenwärtige Pegida-Bewegung, die letztendlich den damals etablierten Diskurs nur weitertreibt und zuspitzt.

Wir haben es mit einer Generation Sarrazin zu tun, die sich umgehend als eine kleine verfolgte Minderheit artikuliert, sobald Widerspruch gegen ihre Ressentiments erhoben wird. Damit übernehmen die Rechten selbstverständlich nur die Haltung der von ihnen verhassten politischen Korrektheit - sie glauben fest daran, unter einem "antirassistischen Rassismus" zu leiden, wie es ein französischer Karrikaturist treffend beschrieb. Zudem ist es gerade die nahezu abgeschlossene Durchdringung der Gesellschaft mit den neuen Kommunikationsformen und -möglichkeiten des Internets, die diese Verselbstständigung der Ressentiments ermöglicht. Diese können nicht mehr massenmedial kontrolliert und nach Bedarf vom Mainstream ein- oder ausgeschaltet werden, sie entwickeln im Netz ein Eigenleben, sie wandeln sich, zerrieseln in den unzähligen internetbasierten Informationskanälen, Diskussionsgruppen und Foren in eine unübersichtliche Fülle von Variationen des Wahns. Es findet eine Individualisierung des Ressentiments statt, die charakteristisch ist für die gegenwärtige "Doppelherrschaft" im Hirn des spätkapitalistischen Metropolenmenschen, die die an Deutungshoheit verlierenden Massenmedien und die freie Informationsbeschaffung sowie Kommunikation im Netz konstituieren: Übernommene, "traditionelle" Ressentiments werden nun in Eigenregie weitergeführt und modifiziert.


Legitimierung von Exklusion und Krisenkonkurrenz

Dabei weisen diese wirren und vielfältigen Hirngespinste der neuen Rechten, die kaum noch zu einer konsistenten Ideologie zusammenfließen, durchaus eine gemeinsame binnenkapitalistische Logik auf. Sie dienen der Legitimierung des Krisenverlaufs. Die objektiv durch den Krisenprozess beförderte Exklusion immer größerer "überflüssiger" Teile der Menschheit aus der Arbeitsgesellschaft findet ihre ideologische Legitimierung in den entsprechenden extremistischen Diskursen, die den Arbeitslosen, Südeuropäern und "Arabern" eine rassistisch oder kulturalistisch grundierte Minderwertigkeit andichten. Die Krise ist für die neue Rechte kein gesellschaftlicher Prozess zunehmender Widerspruchsentfaltung, sondern die Folge des unabänderlichen, rassisch oder kulturalistisch begriffenen Wesens der betroffenen Individuen oder "Völker". Mit dem Abschirmen der eigenen Volksgemeinschaft, mit der Schließung der Grenzen gegenüber Flüchtlingen, will die neue Rechte auch die Krise ausschließen.

Zugleich legitimiert die neue Rechte die zunehmende Krisenkonkurrenz: Denn selbstverständlich haben Rechtspopulismus wie Rechtsextremismus in all ihren Spielarten das Konkurrenzprinzip schon immer begeistert aufgenommen und auf vielfältige Art und Weise modifiziert und zugespitzt. Diesem Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaftsweise verleihen rechte Ideologien einen "höheren", zeitlosen Sinn, indem sie die Konkurrenz als ein ewiges Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens imaginieren: Die ideologische Spannbreite reicht hier von sozialdarwinistischen Vorstellungen eines Sarrazin bis zum manichäischen Wahnsystem des deutschen Nationalsozialismus, der einen ewigen Konkurrenz- und Überlebenskampf zwischen unterschiedlichen "Rassen", insbesondere den Ariern und Juden halluziniert.

Letztendlich weisen alle rechtspopulistischen und rechtsextremen Ideologien der menschlichen Ungleichwertigkeit einen tatsächlich gegebenen materialen Kern auf. Sie folgen - auch in ihren "nationalsozialistischen" Varianten - einem Kosten-Nutzen-Kalkül, das auf der Verinnerlichung kapitalistischer Rentabilitätskriterien und Vergesellschaftungsformen beruht und insbesondere in Krisenzeiten an Anziehungskraft gewinnt. Die Marginalisierung, die Vertreibung oder gar Ermordung von Bevölkerungsgruppen ("Ausländer", Roma, Juden, Muslime, Schwule etc.), die von der Rechten unterschiedlichster Couleur propagiert werden, sollen mit handfesten materiellen Vorteilen für die Mehrheitsbevölkerung einhergehen. Mit der Versagung von sozialen Leistungen für die zu Feindbildern aufgebauten Minderheiten, mittels ihrer offenen Diskriminierung auf dem "Arbeitsmarkt" oder durch ihre Vertreibung und Enteignung soll die soziale und materielle Stellung der Mehrheitsbevölkerung verbessert werden. Die Krisenfolgen sollen nun vermittels konkreter rassistischer Politik auf stigmatisierte Minderheiten abgewälzt werden, was abermals nur einer Zuspitzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik entspricht - und somit von dem Begriff Extremismus der Mitte gut erfasst wird.


Hegemonie der Unterwürfigkeit

Einen weiteren wichtigen Faktor und Brutstätte rechter Ideologien stellen die zunehmenden Verzichtsforderungen und die damit verbundene Triebversagung dar, die zu einer - mit zunehmendem Aggressionspotenzial einhergehenden - autoritären Identifikation mit dem System führt. Mit den eskalierenden Widersprüchen steigt auch der ökonomistische Druck auf alle Gesellschaftsbereiche und Gesellschaftsschichten; sei es in Form gesteigerter Arbeitsintensität, gekürzter Sozialleistungen oder wegbrechender Lebenschancen. Die der kriselnden Kapitalverwertung geschuldeten zunehmenden Belastungen lassen den meisten Lohnabhängigen eigentlich nur zwei Optionen: Rebellion gegen den Krisenwahnsinn oder gesteigerte irrationale Identifikation und Unterwerfung. Spätestens mit der Durchsetzung der Hartz-Arbeitsgesetze ist im "Untertanenstaat" BRD die Haltung der Unterwerfung unter die ins Absurde gesteigerten "Sachzwänge" der kollabierenden spätkapitalistischen Verwertungsmaschinerie hegemonial geworden.

Der durch eine autoritäre Charakterstruktur gekennzeichnete Träger rechtsextremer Ideologie verinnerlicht die sich verschärfenden Anforderungen und Vorgaben der Kapitalverwertung. Er geht in dem Gefühl der Heteronomie, das einer fetischistischen Gesellschaftsformation wie der kapitalistischen eigen ist, voll auf. Mit zunehmender Krisenintensität verschärft sich somit auch die Identifizierung des autoritären Charakters mit dem bestehenden System, wie Erich Fromm im berühmten Sammelband "Autorität und Familie" schon 1936 feststellte: "Je mehr ... die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft anwachsen und je unlösbarer sie werden, je mehr Katastrophen wie Krieg und Arbeitslosigkeit als unabwendbare Schicksalsmächte das Leben des Individuums überschatten, desto stärker und allgemeiner wird die sadomasochistische Triebstruktur und damit die autoritäre Charakterstruktur, desto mehr wird die Hingabe an das Schicksal zur obersten Tugend und Lust."

Dieser Sadomasochismus resultiert aus den genannten ungeheuren Versagungen, die den sich fügenden, autoritären Charakteren seitens der Krisendynamik auferlegt werden. Auch hier stauen sich immer größere Aggressionen an, die nach einem Ventil suchen. Je größer die Triebversagung, desto größer das Bedürfnis nach Triebabfuhr; der Masochismus verlangt nach sadistischer Satisfaktion. In ekelerregender Vollkommenheit ist diese Fixierung in der deutschen Krisenpolitik zu besichtigen, die ja explizit die Grausamkeiten, die nun der südeuropäischen Peripherie von Berlin angetan werden, damit begründet, dass man hierzulande im Verlauf der Agenda 2010 eben Ähnliches erduldet und überstanden habe. Das unterwürfige Ertragen von Versagungen und Schmerzen berechtigt dazu, nun selber Schmerzen zuzufügen - dies ist eigentlich der sadomasochistische, pathologische Kern aller sozialdarwinistischen rechten Parolen von "Stärke", "Durchsetzungsvermögen" und "Härte".

Adorno hat diesen psychischen Mechanismus, der zur "Entladung" der angestauten psychischen Spannung in Gewaltakten drängt, schon in seiner Schrift "Erziehung nach Auschwitz" in allgemeiner Form dargelegt, als er feststellte, dass die "Wut gegen die Zivilisation" sich nach einem Schema entlädt, wonach diese "Wut gegen die Schwächsten sich richtet, vor allem gegen die, welche man als gesellschaftlich schwach und zugleich - mit Recht oder Unrecht - als glücklich empfindet." Deswegen empören sich unglückliche deutsche Rentner, die im Alter noch arbeiten müssen, gegen Migranten, die sie als glücklich imaginieren. Nichts ist dem unglücklichen autoritären Charakter verhasster als das Glück von Menschen, die in der kapitalistischen Hackordnung unter ihm zu stehen haben.

Ähnlich argumentierte Adorno in "Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit". Der Nationalsozialismus habe den "kollektiven Narzissmus" und somit die "nationale Eitelkeit ins Unermessliche" gesteigert, um angesichts der zunehmenden Versagungen des Alltags Ersatzbefriedigung zu verschaffen: "Die narzisstischen Triebregungen des Einzelnen, denen die verhärtete Welt immer weniger Befriedigung verspricht und die doch ungemindert fortbestehen, solange die Zivilisation ihnen sonst so viel versagt, finden Ersatzbefriedigung in der Identifikation mit dem Ganzen." Problematisch sind diese durchaus zutreffenden Diagnosen Adornos nur deswegen, weil er die fetischistischen Zwänge und Absurditäten kapitalistischer Vergesellschaftung - hier durchaus analog zu Freud und seinem berühmten "Unbehagen in der Kultur" - zu einer allgemeinen Tendenz des Zivilisationsprozesses erklärt.

Der Sozialpsychologe Oliver Decker hat diesen buchstäblich irrsinnigen "autoritären Kreislauf" hingegen spezifisch in Bezug gesetzt zu der totalitären Ökonomisierung der krisengeschüttelten spätkapitalistischen Gesellschaften: "Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele - präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen - verstärkt einen autoritären Kreislauf. Sie führt zu einer Identifikation mit der Ökonomie, wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht." Die neoliberale Verzichtspolitik aus der "Mitte", die nun europaweit umgesetzt wird, fördert somit die extremistische autoritäre Aggression gegen die Krisenopfer, auf der rechtspopulistische wie rechtsextremistische Ideologien gleichermaßen beruhen. Je strikter das Spardiktat, je heftiger die hierdurch hervorgerufenen sozioökonomischen Verwerfungen, desto größer der Hass auf die Opfer dieser Krisenpolitik, der unter all den Gesellschaftsmitgliedern wütet, die die entsprechenden autoritären Dispositionen aufweisen.

Letztendlich, und hierauf verweist Adorno in der besagten "Erziehung nach Auschwitz", bildet das durch die lückenlose kapitalistische Vergesellschaftung konstituierte "verdinglichte Bewusstsein" den innersten Kern rechtsextremer, potenziell eliminatorischer Ideologiebildung. Das verdinglichte Bewusstsein sei "vor allem eines, das gegen alles Geworden-Sein, gegen alle Einsicht in die eigene Bedingtheit sich abblendet und das, was so ist, absolut setzt." Träger des verdinglichten Bewusstseins halten ihre Identität, ihr "So-Sein - dass man so ist und nicht anders - fälschlich für Natur, für ein unabänderlich Gegebenes", anstatt es als ein durch Sozialisation "Gewordenes" zu begreifen. Die oben dargelegten ideologischen Mechanismen der Personifizierung von Krisenursachen - wie der diesem ideologischen Prozess korrespondierenden Naturalisierung des Kapitalismus - entsprießen gerade dieser pathogenen psychischen Konstitution. Hieraus entspringt eben jene Unfähigkeit zur Selbstreflexion, die für nahezu alle Pegida-Anhänger charakteristisch ist, ihre Weigerung, mit Medienvertretern zu sprechen oder selbst anonym an Erhebungen und Studien teilzunehmen. "Mein Wahn gehört mir" - eben weil ich so und nicht anders bin und schon immer war.


Das automatische Subjekt und die schale Imitation von Subjektivität

Vollauf verständlich wird die Genese des verdinglichten Bewusstseins aber nur bei gleichzeitiger Reflexion des fetischistischen Charakters kapitalistischer Vergesellschaftung und der gesamtgesellschaftlichen Funktion des Kapitals als automatisches Subjekt, das zwar von den konkurrierenden Marktsubjekten alltäglich buchstäblich erarbeitet wird, aber marktvermittelt "hinter dem Rücken der Produzenten" (Marx) eine Eigendynamik entwickelt und diesen als eine äußerliche und fremde Macht in der Form krisenbedingt zunehmender Sachzwänge, Marktvorgaben, Verwerfungen und Widersprüche entgegentritt. Diesem allgegenwärtigen Gefühl der Heteronomie, der "Fremdbestimmung", entspringen gerade die ganzen gegenwärtig blühenden Verschwörungsideologien, die im Antisemitismus kulminieren. Adorno deutet dies zumindest an, indem er bemerkt, dass der Typus des verdinglichten Bewusstseins "sich selber gewissermaßen den Dingen gleichmacht", um hiernach nach Möglichkeit "die Anderen" den Dingen gleichzumachen.

Was hier aufscheint, ist die absurde Stellung des Marktsubjekts innerhalb des Automatismus der Kapitalverwertung. Das automatische Subjekt macht die Menschen einerseits zu Objekten seiner Verwertungsbewegung, zu Dingen, zu Waren, die auf dem Arbeitsmarkt gehandelt werden - und die sich dieser vermittelten Form der subjektlosen Herrschaft wie einem menschengemachten Naturgesetz mit einem unterschwelligen Gefühl von Ohnmacht anzupassen haben. Zugleich besteht die einzige Chance, noch eine schale Imitation von Subjektivität auszuleben, darin, dass man als ökonomische Charaktermaske (Marx) daran mitwirkt, diesen Automatismus uferloser Kapitalverwertung "subjektiv" zu perfektionieren, - und hierbei wiederum "die Anderen" zu Objekten degradiert und "den Dingen gleichmacht". Innerhalb des nur zu realen Fetischismus, den das automatische Subjekt perpetuiert, sind die Insassen der kapitalistischen Tretmühle immer beides zugleich: Subjekt der Akkumulation und deren ohnmächtiges Objekt. Alle Insassen der globalen kapitalistischen Tretmühle fungieren als Subjekt-Objekte der verselbstständigten Verwertungsbewegung, die sie selber perpetuieren, wobei das konkrete Verhältnis zwischen diesen beiden Polen von der konkreten hierarchischen Stellung im Reproduktionsprozess des Kapitals abhängt. Erst die Überwindung dieses Fetischismus würde dem Rechtsextremismus den Nährboden entziehen.

*

2000 Zeichen abwärts

"Nous sommes Charlie"?

Die Zivilgesellschaft steht auf gegen den Terror. Auch im Theater. Der katholische Dompfarrer, der evangelische Bischof, der Oberrabbiner, die Sprecherin der Muslime, ein Maler und Sänger, ein dekorierter Autor und noch eine Anzahl anderer vips. Alle lesen, ein paar singen auch. Nathan des Weisen Ringparabel ist ein Fixstarter, wörtlich vom Doyen der Schauspieler, Lessings Anregung durch den Koran von der Muslimin, auch Voltaire, Satiren, Bekenntnisse, Mahnungen, es geht um Toleranz, Freiheit, ja Liebe.

Der Terror ist die Negation von uns und allem, was uns heilig ist, das völlig Andere. Keinen aus der Runde plagt anscheinend eine Ahnung, dass der Terror aus unserer Mitte kommen könnte. Aus unserer Art zu leben, aus dem wachsenden Unbehagen, dem steigenden Stress, der grassierenden Demütigung, der Depression, der Verzweiflung und der eruptiven Wut. Aus dem Unvermeidlichen in einer Welt, wo eins nur hat, was anderen genommen wird, die nehmen wollen, was eins hat usw. Ist nicht der Amok, der aus allen Stellen der Gesellschaft läuft, der Grundstoff organisierten Terrors? Ein -ismus, ein -tum ist dann leicht zur Hand.

Aber nein: "Nous sommes Charlie, nous sommes Achmed, nous sommes David, wir sind Menschen", sagt der Theaterdirektor dann zum Schluss. Wir sind die Opfer, soll das heißen. Wir sind der Beweis, dass man diese Lebensweise in Zurückhaltung, Verdrängung, Disziplin und notfalls in der Bereitschaft, sich und jede, jeden, jedes zu opfern, ertragen, weiterführen, gutheißen und schützen kann.

L.G.

*

Windmühlengefechte

Warum die "Tauschwertgemeinschaft" die Welt von "Schurken" befreit

von Emmerich Nyikos

1.

Man wird sich vermutlich erinnern (und wenn man es nicht tut, dann hat man zumindest ein literarisches Vergnügen versäumt), dass Miguel Cervantes seinen Quijote gegen Windmühlen antreten lässt, nicht etwa, weil sich jene dem "Ritter von der traurigen Gestalt" gegenüber feindlich verhielten - als Windmühlen fiele ihnen dies eher schwer -, sondern weil dieser der Einbildung ist, es wären bizarr-befremdliche Riesen, welche es gilt, von der Erdoberfläche mit Stumpf und Stiel zu vertilgen. Und er bildet sich eben dies ein, weil ein Held, welcher als Ritter handelt und lebt - als ein fahrender Ritter, bien entendu, wie all die Amadís aus den Ritterromanen -, offenbar in einer Welt leben muss, welche nun einmal von Ungeheuern bewohnt und bedroht ist. Das "Bild von der Welt", das Don Quijote so vorschwebt, ist, wie überhaupt sonst, ein Resultat seines Tuns.

2.

Betrachtet man heute das globale Geschehen, so hat es den Anschein, als ob die "Wertegemeinschaft", als die sich der Klüngel der Staaten des Weltsystemzentrums geriert, als post-moderner Quijote agierte: Auch sie, welche sich als Apostel der droits de l'homme geben, fechten furchtlos gegen "Giganten", also das, was an der Peripherie des Systems als "Machthaber", "Diktatoren", "Despoten" firmiert, die, wenngleich keine "Lamperl", was ihr Gebaren bei sich zuhause betrifft, eine Bedrohung der "Guten" allerdings nur - in deren Einbildung sind. Sie fechten mithin gegen phantasmagorische, imaginierte Gestalten - deren reales Substrat freilich bisweilen von der "Tauschwertgemeinschaft" höchstselbst hofiert und finanziert worden ist -, kurz: gegen Trugbilder, gegen Chimären ihrer überbordenden Einbildungskraft.

3.

Im Rahmen des Globalsystems kapitalistischer Provenienz wird Kapital exportiert auf zweierlei Weise:

1. aus den Metropolen in die Peripherien des globalen Systems, wo dieser Kapitalexport über die massive Durchdringung der lokalen Produktionsapparate die Dependenz der peripheren Zonen begründet (sobald direkte koloniale Gewalt nicht mehr im Spiel ist);

2. aus einem Zentrum in andere Zentren und dann vice versa, wodurch mit der Zeit die zentralen Bourgeoisien zu einer transnationalen Klasse verschmelzen, zu einer Weltbourgeoisie, die sich darüber hinaus, in der Epoche des Krieges, der nicht heiß, sondern kalt, trotzdem aber ein Krieg war, durch einen gemeinsamen Feind, den Sowjetblock, geeint sah - einen Feind, der die Frechheit besaß, sich vom kapitalistischen Weltsystem abzukoppeln, d.h. den Status als Peripherie (oder angehende Peripherie) abzustreifen, ein Sakrileg, das man nicht so ohne weiteres hinnehmen konnte. Daraus ergab sich unmittelbar, dass die Weltmetropolen seither gegeneinander keine Kriege mehr führen, obgleich sie dem Krieg gegen die Peripherien (sei es ein heißer oder kalter Krieg) durchaus nicht abgeneigt waren und sind.

4.

Schon vor einiger Zeit hat Eric J. Hobsbawm einen wichtigen Satz formuliert: "Die angenehmste Welt für multinationale Giganten ist eine Welt von Zwergstaaten oder eine, in der es keine Staaten mehr gibt." (E. J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, Hanser (1995), S. 355)

Aus diesem Grund eben haben die Systemmetropolen sich nicht nur befleißigt, die Regime sowjetischen Typs zu zerstören - weil sich diese, lange Zeit wenigstens, gegen den Einfluss des Metropolkapitals abgeschirmt hatten -, sondern darüber hinaus auch diese Gebilde in ihre membra disiecta auseinanderzulegen, sie zu zerstückeln, wobei sie sich lokaler Kollaborateure bedienten, die nur darauf sannen, zu einer Elite zu werden, die frei von "Einmischung" anderer ist. Frei von "Bevormundung" freilich, die sich als nicht lukrativ für diese Elite erwies, während, wenn die Aussicht besteht, als "Lumpenbourgeoisie", wie sie von A. Gunder Frank treffend genannt worden ist, am Profit des Weltkapitals (wie bescheiden auch immer) zu partizipieren, man sogleich sich beeilt, Juniorpartner des "Westblocks" zu werden: Tudjman im Schachbrett-Kroatien, Izetbegovic in Bosnien-Herzegowina, Taçi und die Uçk im Kosovo-Protektorat und, last but not least, Jelzin in Russland.

Dabei spielte es gar keine Rolle, welche ehrenwehrten Gestalten dies waren: Ustascha-Sympathisanten, Ex-Mitglieder der "Jungen Muslime", die sich nicht entblödet hatten, mit den von der SS aufgestellten Handschar-Divisionen gemeinsame Sache zu machen, Mafia-Bosse (in Drogen-, Organ- und Mädchenhandel verstrickt) oder schlicht solche, die dem Suff sich ergaben. - Das sind nun einmal die "Helden" der Bourgeoisie.

5.

Nun, mit der Implosion der Sowjetunion und des "Ostblocks" sowie der "Bekehrung von China" (und Vietnam) gibt es auf globalem Niveau keinen Widerstand mehr, kein Gebiet, das durch "Unbotmäßigkeit" glänzt. Die "letzten Mohikaner", Nordkorea und Kuba, sind, alles in allem, eine quantité négligeable. (Und auch hier ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis auch diese "gallischen Dörfer" sich schließlich "ergeben".)

Die Peripherien liegen demnach der Bourgeoisie der Weltmetropolen zu Füßen. Ja noch mehr: Sie tun es von sich aus, ganz ohne Zwang. Oder sie würden es tun, wenn man sie ließe.

Dennoch: Überall auf der Welt stürzt die "Wertegemeinschaft" (wenigstens halbwegs) stabile Staaten ins Chaos, indem sie "Non-Government-Organizations" mit ihren "bunten Revolutionen" finanziert und trainiert (sei es direkt, sei es indirekt über "Stiftungen" wie die von George Soros), "Rebellen" ausbilden lässt und mit Waffen versorgt oder schlicht wochenlang flächendeckend das betreffende Land bombardiert, wenn sie am Ende nicht überhaupt gleich mit eigenen Truppen interveniert: Afghanistan, Serbien, Georgien, Irak, Syrien, Libyen, die Ukraine (und diese ein ums andere Mal) - und das Ende der Liste dürfte noch lang nicht erreicht sein.

Aber warum? Nun, eine Notwendigkeit, diese "Regime" zu stürzen, besteht, wie wir sahen, vom Standpunkt der Kapitalverwertung aus nicht. Denn selbst wenn Gaddafi und Saddam (wie man behauptet) mit dem Gedanken gespielt haben sollten, sich ihr Öl nicht mehr in Dollar bezahlen zu lassen, so lag es ihnen vollkommen fern, das Öl am Ende nicht zu verkaufen. Im Gegenteil, all diese "Regime" waren bereit, weitestgehend zu kollaborieren. Gaddafi hatte sogar kurz vor Sturz und Ermordung den Wahlkampf von Sarkozy (mit-)finanziert; Assad seinerseits war gerade dabei, sich vom Baath-Programm loszusagen, während Saddam über Jahre hinweg sich als treuer Vasall der Vereinigten Staaten gegen die iranischen Mullahs erwies. - Und alle drei sind sie schon vor ihrem "Fall" geschworene Feinde der islamistisch-dschihadistischen Rowdys gewesen, deren Präsenz und Agieren vor Ort, nebenbei sei's gesagt, die Brutalität dieser "Despoten" sich zu einem Gutteil verdankt. - Und was Putin betrifft, der neulich zum Hitler des Tages ernannt worden ist, so würde er liebend gerne kooperieren (nur nicht als Schoßhund), wenn man ihn ließe. Ist er doch aus keinem anderen Holz als das seiner "Feinde" geschnitzt.

6.

Warum also dann? Aus ideologischen Gründen. "Ideologie" hier freilich verstanden als ideologische Praxis, die stets danach strebt, die Oberfläche der Realität dem "Bild von der Welt" anzugleichen, also dem "Bild", das man sich von der Welt machen muss, wenn man so und nicht anders agiert. Dieses "Bild von der Welt" ist also seinerseits nichts als der (negative) Reflex der Praxis des Alltags, dergestalt, dass alles aus dem Bewusstsein eliminiert werden muss, was diese Praxis anfechten könnte. Oder mit anderen Worten: Das "Bild von der Welt", das Bewusstsein, muss dem Handeln angepasst sein, denn wenn nicht, wenn Bewusstsein und Handeln auf Dauer auseinanderklaffen, dann ist es kaum zu vermeiden, dass der moralische Haushalt durcheinandergerät - mit fatalen Folgen für das Subjekt, wie man sich unschwer ausmalen kann. Kommt es zu einem "Konflikt" zwischen Praxis und Denken, dann ist aber auch klar, dass es das Denken ist, das schlussendlich nachgibt; denn im Gegensatz zum Alltagsverhalten, das durch die Umstände weitgehend in vorgegebene Bahnen gelenkt wird, besitzt das Bewusstsein ein Merkmal, das manchen sogar als göttlich erschien: Es ist, kurz gesagt, der Einbildung fähig, also weitaus flexibler als jegliches Handeln.

7.

Warum also führt man das Chaos herbei? Weil man offenbar dahin tendiert, stabile (weil "starke") Regime, "die anders als wir sind" (da sie freedom and democracy eben nicht comme il faut praktizieren), als Bedrohung, als Affront wahrzunehmen - eben als "Monster", als Feinde der "Guten", wenn nicht überhaupt der Menschheit an sich. Oder genauer: als Beleidigung der hehren Idee, des Inbegriffs dessen, was man selber zu sein glaubt. Und sie werden auf diese Weise wahrgenommen, weil die Alltagspraxis der "Humanitären", die profan nur die Verwertung im Sinn hat, die Profitmaximierung, und die deswegen auch einer Legitimierung entbehrt, da sie auf allen Niveaus zerstörerisch wirkt - weil das Alltagshandeln mithin eines "Bildes" bedarf, das diesen Umstand konterkariert, das also, mit anderen Worten, dem Alltagstun angepasst ist: Gibt es "Schurken", welche die anderen sind, dann muss es die "Guten" ebenso geben, die dann aber "wir" sind, weil wir offenbar nicht die anderen sind. Kurz: Wo ein Schatten, da ist auch das Licht.

Und man zerstört diese "Regime" schließlich auf praktischem Wege - man boykottiert, sanktioniert und bombardiert sie -, weil das profane Handeln im Alltag (die Profitmaximierung) sich letztlich moralisch nur dann "retten" kann, wenn das "Bild von der Welt" praktisch verankert, "sichtbar" gemacht, im Weichbild der Realität ausgeführt wird - oder genauer: in ihrer Oberflächendimension, in der Welt der Erscheinung -, und das heißt: wenn es durch den "humanitären" Krieg gegen "Monster", gegen die "Schurkenstaaten" überall auf der Welt, die (in der Scheinwelt) als neue Hitler die "Guten" bedrohen (und mit ihnen alle hehren Ideen, die da sind: Human Rights und freedom and democracy), faktisch realisiert, wenn es bestätigt und in seinen Konturen bestärkt wird.

Und noch mehr: Freedom and democracy, die erhabensten Ideale, das "Idealische" katexochen der Bourgeoisie, sind nichts als Illusionen, weil die Menschheit, das bürgerliche Subjekt, überall auf der Welt in Wirklichkeit den sachlichen Mächten, die den Personen gegenüber (isoliert und fragmentiert, wie sie sind) als übermächtige Sachen erscheinen, die das Leben aller unter der Hand anonym kontrollieren, unterworfen, ihr unbewusster Untertan ist. Das Nicht-Existente (von dem man ahnt, dass es nicht existent ist, weil es als sinn-lose Form, nur als Ritual existiert) gewinnt aber stets einen Anschein von Sein, wenn es bedroht ist, und noch mehr schließlich dadurch, dass man es mit Zähnen und Klauen "verteidigt", ja es als "Exportgut" anderen, wie weiland das Evangelium, "bringt".

Da spielt es dann überhaupt keine Rolle, wenn dieser "Export" mit Feuer und Schwert das Land der "Beglückten" in Schutt und Asche verwandelt. Denn was im Grunde nur zählt, das ist, die Oberfläche der Realität ideologisch dem "Bild von der Welt" anzugleichen. - Als "Kollateralfrucht" hat man dann allerdings auch Miniatur- oder überhaupt keine Staaten.

8.

Das also ist der tiefere Sinn des humanitären Getues post-moderner Provenienz, dessen "Humanität", wie es scheint, im Maß der Zerstörung seinen Gradmesser findet. Denn auch hier gilt offenbar das Verwertungsprinzip: je mehr, desto besser.

*

Im Bannkreis der Gewalt

Überlegungen zu einem elementaren Problem und seinen Facetten

von Franz Schandl

Fragwürdig ist es, auf Gewalt zu setzen und
ebenso fragwürdig ist es, Gewalt auszuschließen.

Potent ist die Gewalt, weil sie zerstören kann. Darin liegt ihre Kraft. In der Schaffung hingegen ist die Gewalt impotent. Das mag zwar eine Binsenweisheit sein, aber sie ist doch extra zu betonen. Gewalt erntet keine Felder, sie baut keine Häuser, sie schreibt keine Gedichte und sie errichtet keine Freundschaften. Aber Gewalt setzt Menschen mächtig unter Druck. Sie vermag alles Mögliche und auch Unmögliche zu verhindern, ja auszuschalten. Von der Gewalt kann zwar niemand leben, aber mit ihr kann man aufräumen, verletzen, töten. Offene Gewalt ist das schärfste Mittel jeder Drangsalierung.

Aufgabe des folgenden Beitrags ist es, gesellschaftliche Verhältnisse als Gewaltverhältnisse zu dechiffrieren. Er ist ein Versuch, Konditionen zu nennen, sich vor vorschnellen Bekenntnissen zu hüten, ohne allerdings auf Stellungnahmen zu verzichten. Die Kategorie ist extensiv ausgelegt, der Gewaltbegriff von der eindimensionalen Fixierung auf den direkten physischen Übergriff gelöst, ohne diese Zuspitzung freilich zu unterschlagen, denn zweifellos ist sie der Kern gewalttätiger Konsistenz. Gewalt ist nicht nur, wenn einem weh getan wird, sondern, wenn einem weh getan werden kann. Gewalt ist nicht das Andere, sondern bloß das Besondere.

In der aktuellen Vorgeschichte spielt Gewalt eine vorrangige Rolle in der Strukturierung menschlicher Sozietät. Das soll man nicht gutzuheißen, aber man sollte es doch begreifen. Die Dominanz ist, schauen wir genau hin, bestechend. Gewalt ist ein, wenn nicht der zentrale Faktor (nicht zu verwechseln mit Grund!) von Herrschaft, egal, ob sie angewendet und angedroht wird oder nur als Möglichkeit sich zusammenbraut, weil in den Eingeweiden der Macht schlummernd. Der politische Wettbewerb ist ja (wie auch die ökonomische Konkurrenz) nichts anderes als domestizierter Krieg. Dem obligaten Kampf der Interessen ist die Gewalt stets beigegeben. Politik entschärft die Kampfarena der Konflikte nur scheinbar, essenziell ändert sie nichts. Durch Politik wird Gewalt nicht sistiert, sondern lediglich substituiert. Gewalt bleibt das erste und das letzte Mittel von Herrschaft.

Gewalt ist subjektive Willensform, weil sie aufgeherrschte Kommunikationsform ist. Leute sind nicht gewalttätig, weil sie instinktiv aggressiv sind, sondern weil sie implizit wie explizit angeleitet werden, sich gewalttätig zu verhalten. "Das gewaltsam hergestellte Bedürfnis nach Gewalt wird als deren natürliche Bedingung hingestellt", schreibt Friedrich Hacker in seinem lesenswerten Buch Aggression. Die Brutalisierung der modernen Welt (Wien-München-Zürich 1971, S. 17).


Staat und Recht

Der bis dato fortgeschrittenste Ausdruck der Gewalt ist das Gewaltmonopol des Staates. In ihm ist Gewalt nicht verschwunden, vielmehr hat sie sich in höchstem Maße konzentriert. Ganz unverblümt hält Max Weber fest: "Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt. (...) Aber ihre Androhung und, eventuell, Anwendung ist allerdings ihr spezifisches Mittel und überall die ultima ratio, wenn andre Mittel versagen." (Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt am Main 2005, S. 39) "Man kann daher den 'politischen' Charakter eines Verbandes nur durch das - unter Umständen zum Selbstzweck gesteigerte - Mittel definieren, welches nicht ihm allein eigen, aber allerdings spezifisch und für sein Wesen unentbehrlich ist: die Gewaltsamkeit. (...) Ferner aber: dass es 'legitime' Gewaltsamkeit heute nur noch insoweit gibt, als die staatliche Ordnung sie zulässt oder vorschreibt." (S. 40)

Gewalt ist (zumindest im demokratischen Rechtsstaat) nicht vorrangiges Mittel, aber letztlich doch das entscheidende. Die Gewalt lässt das Recht allein walten, solange dieses ohne jene auskommt. Ist das nicht mehr der Fall, tritt das Wesen wieder in Erscheinung. Im Recht ist die Gewalt die Ausnahme von der Regel, die aber ihrerseits von der Gewalt erzeugt wurde. Kondition von Recht und Konstitution von Gewalt sind so engstens verwoben. Herrschaft ist dort am vollzogensten, wo Gewalt inaktiv bleibt, aber jederzeit reaktivierbar ist. Wir leben in einem Gewaltverhältnis, egal ob dieses darauf angewiesen ist, Gewalt direkt auszuüben oder nur damit drohen muss, sie im Ernstfall anzuwenden.

Da die Staatsbürger geheißenen Herrschaftsglieder sich in den westlichen Zentren so bereitwillig unterwerfen, wäre es wahrlich nicht sinnvoll, sie mit offener Gewalt zu malträtieren. Im Regelfall ziehen die Leute es vor, sich vor dem Übergriff (Strafe, Sanktion) zu schützen, klein beizugeben, um nicht lädiert zu werden. Der mündige Bürger findet im hörigen seine Grenzen. Und nicht wenige überschreiten diese Grenzen nie, da sie ihnen als natürliche Schranken erscheinen. Es ist nicht selten die Angst vor der Gewalt, die dazu führt, dass diese nicht praktisch werden muss, weil die potenziell Bedrängten sich vorab beugen. Gewalt steht immer im Raum. Unterwerfung ist die vorrangige Möglichkeit, der Gewalt auszuweichen. Man entgeht ihr, ohne ihr wirklich zu entgehen. Im bürgerlichen Staat ist es evident, dass Herrschaft sich über Recht und Gesetz auszuüben versteht. Bestimmend ist also weniger eine personale Beziehung als eine sachliche. Indes findet auch jede sachliche Abhängigkeit ihren Ausdruck in der Hierarchie ihrer Exponenten.

Recht und Gewalt verdeutlichen sowohl Identität als auch Differenz. Identisch sind sie als Wesen der Herrschaft, different sind sie in ihren konkreten Äußerungsformen. Im Recht ist die Gewalt nicht abgelöst, aber doch befriedet. Nirgendwo kann Gewalt so gut versteckt werden wie im Recht. Schon der Begriff alleine rechtfertigt sie. Raffinerierte Gewalt tritt als raffiniertes Recht auf. Des öfteren fällt sie als solche gar nicht mehr auf. Diese Befriedung ist stets eine begrenzte. Recht ist gestockte Gewalt. Dass sich jede Ordnung als endgültig verstehen will, liegt auf der Hand. Dass das nicht anerkannt werden soll, sollte ebenso selbstverständlich sein, zumindest dann, wenn Kritik und Perspektive sich als solche ernst nehmen wollen, mehr sein möchten als ein Appendix bürgerlichen Daseins.

Bisher wurde Gewalt nicht überwunden, sondern bloß geschlichtet. In ihrer Verpuppung des Rechts tut sie freilich so, als wäre sie gar nicht erst vorhanden. Im Recht versucht die Gewalt als Vorläufer desselben sich gegen mögliche Nachfahren abzusichern. Privateigentum ist, wie der Name richtig sagt, Geraubtes. Aber ist der Raub einmal als legal beleumundet, will er keiner neuen Gewalt zugestehen, was ihm Voraussetzung gewesen ist. Recht ist akkumulierte Gewalt. Es pocht daher auch auf seine aktuelle Gesetzlichkeit, die ihm nicht nur gegenwärtig, sondern ehern erscheint. Worauf könnte das Recht auch sonst verweisen? Gültig ist, was gilt, und zwar endgültig. Im Recht ist seine ursprüngliche Gewalt jedenfalls konservativ geworden. Als Erwachsenes will es fortan verteidigen, was es einst, in seiner wilden Jugend, eroberte. Schlussendlich ist es die "Gewalt, welche das Recht alleine garantieren kann" (Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1922), Gesammelte Werke I, Frankfurt am Main 2011, S. 358).


Tabus und Fangfragen

Herrschaft setzt sich aber nicht nur selbst ins Szene, sie bestimmt auch den Charakter jeder radikalen Opposition. Wie das? - Nun, auch diese muss, will sie relevant werden, implizit mit Gewalt drohen, ob sie das nun sieht oder nicht. Die Regelverletzung, d.h. der kleine Ausnahmezustand, ist Voraussetzung ihrer Bedeutsamkeit. So zwingt das System die Systemopposition zu etwas, was diese laut jener gar nicht haben darf: Gewalt. Doch die Lage ist noch komplexer: Womit der Rechtsstaat sich selbst legitimiert, damit delegitimiert er wiederum fundamentale Kritik. Was Verbrechen ist und was Strafe zu sein hat, darüber befindet heute der Staat, der die Gewalt hat, die die anderen nicht haben dürfen. "Gewalt als Delikt verboten, wird als Sanktion geboten, umbenannt und gerechtfertigt", heißt es in der 6. These zur Gewalt von Friedrich Hacker (Aggression, S. 15).

Unsere Debatten über Gewalt sind religiös aufgeladen. Sie geben Prämissen vor, die einfach hingenommen werden müssen. Erstens ist das ein verbindliches Bekenntnis zum Gewaltmonopol des Staates, was meint, nur die von ihm ausgeübte oder zugelassene Gewalt gilt als erlaubt, ja erwünscht. Hier haben wir Gläubige zu sein, die gerade aufgrund ihrer Zivilität gehorchen. Das nennt sich leider nicht, obwohl es richtig wäre: ziviler Gehorsam.

Ziviler Gehorsam meint zweitens eine ständige Verpflichtung und Festlegung praktischer Kritik auf Gewaltlosigkeit. Bevor jene aktiv wird, ist Selbstfesselung angesagt. Aus Befreiung wird Behinderung. Die, die die Gewalt haben, lehnen die Gewalt jener, die diese nicht haben, ab. Und die letztgenannten tun das Gleiche. Es gibt nicht wenige, die das geradezu frenetisch tun. Das abgefeimte Spiel läuft so, dass die Spielregeln stets den Ausgang bestimmen: Gewalthaber verlangen von Gewaltnichthabern Gewaltverzicht. Deren Bejahung des Gewaltmonopols ist aber schlicht eine Kapitulationserklärung. Schon jede kleine Haus- und Aubesetzung, ja jede Straßenblockade straft diese Anforderung als Lüge. Sobald eine Auseinandersetzung sich auf dem Leim fetischistischer Werte bewegt, haftet sie fest am bürgerlichen Grund. Kapital und Staat werden somit, obwohl kritisiert, legitimiert.

Die herrschenden Fragen sind die Fragen des Herrschenden. Wir stellen andere. Solange wir in gewalttätigen Kontexten leben, ist Gewalt eine optionale Größe. Allseits. Der Rechtsstaat ist zweifellos ein Kriterium des Handelns, aber er ist nicht dessen Leitplanke. Gerade die Frage nach der Gewalt sollte eins nicht als Fangfrage durchgehen lassen, wo einem nur übrig bleibt, sich zum Gewaltmonopol zu bekennen oder der Gewalttätigkeit bezichtigt zu werden, weil man eben nicht Willens ist, apriori abzuschwören und sich zu distanzieren. Das herrschende Nein zur Gewalt ist zuvorderst ein Nein zu jeder Gegengewalt. Die Ursache will eine ihrer Wirkungen verbieten. Das Verhältnis zur eigenen Gewalt wird nicht thematisiert. Man hat sie, und damit hat es sich. Man will sie behalten und außerdem ist sie ein zivilisatorischer Fortschritt, so die verordnete Übereinkunft demokratischer Staatsbürgerschaftskunde. Ächtung der Gewalt und Achtung des Gewaltmonopols gehen jedoch nicht zusammen. Wer für das Gewaltmonopol ist, ist für Gewalt und nicht für Gewaltfreiheit.


Dilemma der Gewaltfreiheit

Emanzipation steht also vor der schier unlösbaren Herausforderung, sich von der Gewalt zu lösen, ohne sie wegzaubern zu können. Diese Aufgabe ist viel eminenter als die Zerstörung der herrschenden Gewalt. Nicht bloß die staatliche Gewalt ist zu überwinden, der Bannkreis herrschaftlicher Gewalt überhaupt ist zu durchbrechen. Denn sollte Gewalt stets zu Gewalt führen, dann wird immer Gewalt sein. Das allerdings darf nicht sein und das kann auch gar nicht mehr sein, soll überhaupt eine Zukunft der Menschheit jenseits militärischer, ökologischer und sozialer Katastrophen möglich werden.

Ein bekannter Satz von Marx lautet: "Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie ist selbst eine ökonomische Potenz." (MEW 23, S. 779) Diese Aussage ist richtig, aber auch falsch. Wahr ist sie, weil sie Dynamik und Gesetzlichkeit der Vorgeschichte gut analysiert; dem war und ist zweifelsfrei so. Unwahr wird sie, wenn sie dies für alle Ewigkeit weiterschreibt. Denn dann wird es keine Perspektive, die diesen Namen verdient, geben, sondern abermals eine Reproduktion von Herrschaft unter veränderten Bedingungen. Wer heute noch an die Macht will, kann es nur falsch machen. Freilich ist es nicht ganz auszuschließen, dass wir auch an einen Punkt geraten, wo wir uns auf die Seite einer weniger schlechten Herrschaftsvariante zu schlagen haben. Aber dies ist keineswegs anzustreben. Wir können uns, nehmen wir Emanzipation ernst, das kleinste Übel eigentlich gar nicht mehr leisten. Auch das kleinste Übel multipliziert das Üble immerfort. Die Altlasten werden größer und größer.

Der Zweck heiligt die Mittel, die den Zweck nicht schädigen. Doch trifft das nicht gerade und insbesondere auf die Gewalt zu? Nimmt an ihr nicht jede Absicht Schaden, sei er auch aufgewogen durch einen sonst noch größeren? Fragwürdig ist es, auf Gewalt zu setzen und ebenso fragwürdig ist es, Gewalt auszuschließen. Die Frage der Gewalt ist also offen. Man mag sich dieser Wahrheiten nicht erfreuen, aber man sollte sich ihnen nicht verschließen. Transformation kann sich die Instrumente nicht einfach aussuchen, vor allem weil der Griff zu den Waffen zum ehernen Arsenal der Herrschaft zählt. Gegen Gewalt zu sein, sie aber nicht konsequent verneinen zu können, ist eine Tragik jeder Emanzipation. Sie sollte verzichten und vermag doch nicht. Das ist ein Dilemma. Unfreiwillig landen wir im Reich der Aporien.

Nimmt Emanzipation aber die Unumgänglichkeit von Gewalt zur Kenntnis, hat sie sich tendenziell preisgegeben, hat selbst das Gesicht der Herrschaft, die Charaktermaske des politischen Kämpfers, aufgesetzt. Auch Walter Benjamin hat dieses Problem klar gesehen: "Da dennoch jede Vorstellung einer irgendwie denkbaren Lösung menschlicher Aufgaben, ganz zu geschweigen einer Erlösung aus dem Bannkreis aller bisherigen weltgeschichtlichen Daseinslagen, unter völliger und prinzipieller Ausschaltung jedweder Gewalt unvollziehbar bleibt, so nötigt sich die Frage nach andern Arten der Gewalt auf, als alle Rechtstheorie ins Auge fasst." (S. 355 f.) Benjamin spricht von einer "rechtsvernichtenden" (S. 358) Gewalt, von ihrem "unblutigen und entsühnenden Charakter" (S. 359). Ob diese andersartige Gewalt als "göttliche Gewalt" richtig charakterisiert wird, mag zweifelhaft sein, aber Benjamin ist hier auf der richtigen Spur gewesen, auch wenn die Terminologie manchmal etwas auratisch wirkt.

Vorerst geht es einmal darum, die Widersprüche als solche zu erkennen und diese Spannung zu thematisieren. Wo man hin will, ist schon klar, doch was das bezüglich der Mittel heißt, keineswegs. Hilfreich könnte die Differenzierung in Gewaltfreiheit und Gewaltlosigkeit sein, ähnlich wie man ja auch Gedankenfreiheit und Gedankenlosigkeit unterscheidet. Insofern macht das Prinzip der Gewaltfreiheit durchaus Sinn, eben weil sie kein abstraktes Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit bedeutet. Zweifelsohne geht es darum, Gewalt weitgehend zu minimieren, um sie einstens tatsächlich zu ächten. An diesem Punkt stehen wir aber noch nicht.

Was wir vielmehr gegenwärtig erleben, ist, dass an vielen Ecken und Enden das Gewaltmonopol porös und prekär wird, dass dessen unkontrollierte Abwicklung Destruktion maximiert. Recht und Vertrag werden durch Lager, Front und Terror gesprengt. Ausnahmezustände häufen sich und stellen immer weniger ein bloßes Interregnum dar. Vor allem der Nahe Osten scheint sich in unüberschaubaren Fehden aufzulösen, sogar die Fronten verschwimmen zusehends. Failed States wie Libyen, Syrien oder der Irak stehen für diese Entwicklung, vielleicht auch schon die Ukraine. Das Gewaltmonopol fragmentiert sich in solchen Räumen in diverse Gewaltpole. Ähnliches hat sich übrigens auch im Jelzinschen Russland abgezeichnet, hätte Putin nicht seine autoritäre Version eines starken Staats im Bündnis mit einigen Oligarchen durchgesetzt. Den Zerfall des Russischen Reiches als großjugoslawisches Szenario will man sich besser gar nicht vorstellen. Fluktuierende Gewaltpole demonstrieren jedenfalls einen Bürger- oder Bandenkrieg in Permanenz. Anstatt von einer Befreiung künden sie von einer dunklen Periode der Agonie.


Option und Warmherzigkeit

Noch ist sie. Ob wir wollen oder nicht, wird Gewalt eine Option der Auseinandersetzung bleiben. Es wäre also ein Fehler, sie aus den Überlegungen auszuschließen. Diese Sichtweise hat übrigens nichts mit einem Recht auf Notwehr zu tun. Das Bekenntnis etwa zum zivilen Ungehorsam setzt voraus, dass der zivile Gehorsam Normalität zu sein hat und nur im Ausnahmefall darauf verzichtet werden darf. Gewalt als Notwehr ist freilich besonders armselig, sie entschlägt sich jeder Strategie. Regelverletzungen sind permanent und offensiv zu platzieren, ideell wie materiell, bloß sie setzen einen Prozess in Gang, sich überhaupt anderes vorstellen zu können, eben indem man anstellt, was nicht obligat ist, also nicht reproduziert, was sowieso läuft. Und seien wir sicher, dass der bürgerliche Mainstream dies diffamiert. Alle seine Abteilungen und Parteigänger in Ökonomie und Politik, Wissenschaft und Kultur werden unermüdlich von Gewalt und Chaoten schwadronieren.

Gehuldigt wird hingegen der eigenen Gewalt. Dass diese nach wie vor das Maß vieler Dinge ist, erkennen wir am Deutlichsten an den gängigen Fabrikaten der Kulturindustrie. Vom Fernsehprogramm bis zu den Internetspielen wird Gewalt geradezu seriell verherrlicht, sie erscheint als der Problemlöser par excellence. Gewalt ist dort der Dreh- und Angelpunkt ideologischer Zirkulation. Die medialen Geschütze sind da lediglich ihre lautesten Sirenen. Formatiert wie wir als Objekte werden und formiert wie wir als Subjekte sind, werden wir täglich als Menschen deformiert.

Was wir auch veranstalten, wir veranstalten es im Gehäuse der Hörigkeit. Eine Widersetzung, die ihre Setzung nicht selbst zum Gegenstand der Reflexion macht, hat schon verloren. Emanzipation ist nicht denkbar als Sieg der Anderen über die Einen, sondern als Überwindung gesellschaftlicher Zwänge, die (wenn auch mit unterschiedlichen Folgen und in unterschiedlichem Ausmaß) alle treffen. Sollte Gewalt notwendig sein - und das ist zweifelsfrei zu fürchten -, darf ihr nur der Charakter eines prähistorischen Relikts zugestanden werden und nicht der einer heroischen Kraft. Der Heldenkult ist sowieso zu entsorgen.


Ein selten zitierter Satz von Walter Benjamin lautet: "Gewaltlose Einigung findet sich überall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft in die Hände gelegt hat." (S. 352) Unser Autor benennt "Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen" als Momente dieser kommunikativen Übereinkünfte, die jenseits von Vertrag, Recht oder Gewalt angesiedelt sind. Daran gilt es anzuknüpfen, an unmittelbaren Menschlichkeiten diesseits von Verrechtlichung und Politisierung. Das geht auch jetzt schon. Mit der "freien Assoziation", wie Marx sie nannte, kann jederzeit begonnen werden, nicht erst irgendwann, wenngleich das, was heute schon möglich ist, viel weniger ist als das, was wirklich möglich wäre.

*

Innocent Power*

oder: Die unschuldige Macht und ihre Effekte

von G. M. Tamás

Um die Macht zu verstehen, sollten wir zunächst ihre Effekte ins Auge fassen. Macht zerstört und unterjocht, wie wir alle wissen. Betrachten wir also die Folgen ihres destruktiven Wirkens.

Es gibt fünf Arten von Ruinen.

• Es gibt romantische Ruinen, alte Burgen und Festungen, Tempel und Kirchen. Sie wurden zerstört vom Vergehen der Zeit, dadurch, dass sie nutzlos und unbedeutend wurden. Diese riesigen Bauwerke, aus denen die Götter geflüchtet sind, zeugen von der Bedeutungslosigkeit aristokratischer Kriegstugenden, monarchischen Ruhms, kirchlicher Autorität, Rittertum und Edelmut wie auch von Keuschheit, (selbst gewählter) Armut und Gehorsam.

• Es gibt Trümmerfelder, von Menschen angelegte Siedlungen, die durch Naturkatastrophen, Überschwemmungen, Erdbeben oder Vulkanausbrüche verwüstet wurden; sie zeigen die Zerbrechlichkeit menschlicher Entwürfe, ihre Verletzbarkeit durch anonyme Kräfte, die ohne bösen Willen sind, denen das menschliche Schicksal gleichgültig ist und die unvergleichlich größer sind als alles, was der bewusst geplante menschliche Kosmos hervorbringen kann.

• Kriegsruinen zeugen vom ultimativen Übel: Die absichtliche, strategisch geplante Vernichtung der Zivilbevölkerungen - Guernica, Warschau, Nanking, Dresden, Hiroshima - und ihrer Lebensräume zeigt Verbrennung und Pulverisierung durch bewusste Entscheidungen, die unterschiedslose Zermalmung und Entwurzelung der Guten wie der Bösen, verübt von denen, die mit höchster Macht ausgestattet sind. Sie ist die warnende Fabel einer Pädagogik der Gewalt: Dies wird den Widerspenstigen geschehen oder jenen, die lieber auf der falschen Seite bleiben, wobei höhere Gewalt darüber entscheiden wird, was falsch ist. Dabei handelt es sich nicht einmal um eine Strafe, die aufgrund von Widerstand oder Rebellion verhängt wird; sie ist lediglich eine Sanktionierung der Tatsache, absichtlich oder unabsichtlich "Teil" des Feindes zu sein.

• Es gibt Ansiedlungen von Menschen, die durch industrielle und politische "Entwicklungen" demontiert und zerstört wurden. Riesige Fabriken, Schiffswerften, Eisenbahndepots und Zechen verfallen, verrotten und bröckeln; früher einmal geschäftige Häfen, jetzt voller gespenstischer Skelette von Booten; verlassene Arbeiter-Townships mit ihren überwucherten Gemüsegärten, mit Brettern vernagelten Kneipen, planierten Gewerkschaftssälen und Stadtteilkinos; Dörfer an Hängen, von denen nur noch die moosbewachsenen Friedhöfe übrig sind; einstmals bunte Hauptstraßen ohne Geschäfte, die ins Nirgendwo führen und von streunenden Hunden bevölkert werden - sie alle werden von der unsichtbaren Flamme der Akkumulation des Kapitals verzehrt. Die Industrialisierung vernichtete das Land, die Entindustrialisierung beseitigte die Städte.

• Schließlich gibt es noch die Ruinen, die von der zeitgenössischen Kunst geschaffen werden. Es scheint, dass diese Ruinen - zumindest in einigen Fällen - weitgehend in Abwesenheit von (und gegen) Macht entstanden sind. Doch dies wäre nur der Fall, wenn es sich lediglich um Darstellungen von Ruinen, nicht um Ruinen als solche handelte. Doch wenn dies so wäre, sollten wir an der Aufrichtigkeit und Authentizität der neu - erneut - radikalisierten, politischen Kunst zweifeln. Viele Arbeiten in dieser jüngsten Tradition verbinden dokumentarische Kraft mit selbstzerstörerischen Zweifeln an der Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und kognitiven Transparenz der gewählten Medien; sie wehren sich gegen die spektakuläre Verdinglichung durch hohe Dosen von Willkür.


Fragmente und Ruinen

Es ist wohlbekannt, dass das Zeitalter der Romantik eine ausgeprägte Vorliebe für Ruinen hatte und künstliche Readymade-Ruinen in künstlich ungeordneten, "natürlichen" Englischen Gärten errichtete. Dies hatte mit einem neu entdeckten "Sinn für Geschichte" und einem Gefallen an Geschichte (im Gegensatz zur Metaphysik) zu tun. Das spezifische Genre der Romantik war das Fragment, das Genre der Meisterwerke von Novalis und der Gebrüder Schlegel. Das Fragment, der Essay, der Aphorismus, die Briefe, das Tagebuch, das vermeintliche Manifest, die skizzenhaften und programmatischen "Thesen": Dies sind die charakteristischen Formen der wegweisenden Moderne von Montaigne und Pascal über die romantischen Aufsätze von Hazlitt und Lamb bis zur Spätmoderne von Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin. Blochs Spuren und Erbschaft dieser Zeit sowie Adornos Minima Moralia nicht zu vergessen.

Das Werk von Karl Marx, von Friedrich Nietzsche und von Franz Kafka wurde uns als Wirrwarr unvollendeter und vielfach verfälschter und fälschlich vereinheitlichter, weitgehend unzuverlässiger und pulverisierter Texte überliefert. Die großen Meister der Spätmoderne haben uns ein Feld von Trümmern hinterlassen, die zum Teil als Trümmer angelegt waren - Marx muss eine Ahnung von dem Rätsel gehabt haben, das die zum Verrücktwerden komplizierten und sich überschneidenden Versionen seines Hauptwerks (mindestens vier; für die französische Ausgabe, die einige für die eigentliche halten, hat er den ersten Band des Kapitals fast vollständig umgeschrieben) für die Nachwelt darstellen sollten.

Fragmente, Palimpseste (oder in Hamanns Fall der Cento-Stil) - nichtlineare Textsammlungen sind allesamt gewissermaßen Vorwegnahmen der Ruinierung, die den Ansturm einer subjektlosen Gewalt erwarten und ihm im Vorfeld widerstehen. Widerstand gegen personale Herrschaft - vor der Entstehung des modernen Industriekapitalismus - verstand sich als eine "Befreiung" aus Abhängigkeiten, aus der persönlichen und politischen Abhängigkeit von Königen und Feudalherren und aus der spirituellen Abhängigkeit von der Kirche. Da der Staat mit dem Adel und, in geringerem Maß, mit dem Klerus identisch war, organisierte sich die politische Gemeinschaft als Nation oder Zivilgesellschaft (die beiden stimmen in etwa überein), die dem Territorialstaat direkt entgegengesetzt war, dessen Vormachtstellung sie jedoch auf demselben Terrain anfocht. Der Dritte Stand (überwiegend das Bürgertum) erklärte sich selbst zur Nation, und genau das war er. Eine gesellschaftliche Macht ohne die Instrumente des Rechtszwangs: Das ist es, was wir als Nation oder Zivilgesellschaft oder Bürgertum bezeichnen.

Der Dritte Stand wurde nie zum Staat, wie es einst die Aristokratie und das Königtum waren; er musste sicherstellen, dass niemand in diesem Sinne zum Staat wurde, da er Bewegungsfreiheit und Handlungsspielraum brauchte. Stände oder gesellschaftliche Klassen sind formelle Angelegenheiten: Adel oder Priestertum werden ordnungsgemäß auf Menschen übertragen, und der Staat geht durch Kooptierung, Dienstalter, Erbschaft und das Erstgeburtsrecht vor; Priestertum resultiert jedoch gerade aus dem Verlust der gesellschaftlichen Klasse, dem Verzicht auf Privateigentum, Sexualität, Familie, persönliche Autonomie: Das Priestertum ist das erste Beispiel für ein Leben-in-einer-Institution, das die Kleriker streng von den Laien trennte und dessen ekklesiastische Praktiken - wie das Bekenntnis, die spirituelle Ausrichtung und die Beschäftigung mit dem Text - als exklusiver Bereich klar abgegrenzt sind.

Ritter und Kleriker sind von gesellschaftlich höher Stehenden gesalbt. Die Klasse ist es nicht. Die Entstehung einer Klasse schließt Formalien aus: Als "Nation" oder "Zivilgesellschaft" rühmt sie sich ihrer Tiefe, Formlosigkeit, Spontaneität und Natürlichkeit im Kontrast, und manchmal im Gegensatz, zur Vernunft. Der von seinen Wurzeln in einer freundlichen Gesellschaft von Edelmännern abstrahierte Staat - das herausragendste Beispiel hierfür ist der Hof, der sich an die Ritter der Tafelrunde anlehnt - musste das Gesetz von einem Herrschaftsinstrument in ein System von Konzepten und Vorschriften transformieren, das später für den abstrakten Herrscher selbst gehalten wurde. Dies spiegelt exakt die andere Seite subjektloser Gewalt wider: das Kapital.


Kapital und Abstraktion

Das Kapital ist eine Ansammlung von Dingen, wie der Staat eine Ansammlung von Konzepten ist.

Diese beiden Aspekte derselben Wirklichkeit haben trotz ihrer offenkundigen Unterschiede etwas gemeinsam: Sie scheinen nicht aus Personen zu bestehen. Die Namen, mit denen die offizielle Ideologie sie bezeichnet - "der Markt" oder "der Rechtsstaat" - suggerieren dasselbe, nämlich Unpersönlichkeit, Abstraktion. Der Kapitalismus ist nicht einfach eine Plutokratie, und der moderne Staat ist keine umherstreifende Bande von Kriegern und Schriftgelehrten. So, wie der englische Begriff "the Man" (für Armee und Polizei, für öffentliche Ordnungskräfte; vgl. "man-of-war", was Kriegsschiff oder Kanonenboot bedeutete) nur ein Archaismus ist, der sich unter "Kriminellen" und in anderen subalternen Gruppen gehalten hat, so sind auch "Herrscher" oder "die Mächtigen" archaische Begriffe. Diese Letzteren werden als Emanationen oder Ausdrücke oder Repräsentationen "realer" Macht angesehen. Entweder manipulieren oder arrangieren (verkaufen) sie Dinge, oder sie wenden konzeptuelle Regeln gemäß vorgeschriebener Methoden an, die beide (die Methoden ebenso wie die Regeln) auf Zusammenhang, Widerspruchsfreiheit, Stimmigkeit und Klarheit abzielen. Im einen Fall liefert das Geld, im anderen das Recht eine Sprache oder ein Medium, in dem sich die Macht - das Kapital und der Staat - ausdrücken kann.

Dieses Medium wird von außen analysiert und philosophisch vervollkommnet - die Wissenschaften der Ökonomie und der Jurisprudenz sind logische Abkömmlinge der Philosophie, bei denen die Logik beziehungsweise die Mathematik unangefochten an erster Stelle stehen -; dadurch wird das System konzeptuell gedoppelt und in die Lage versetzt, sich selbst zu kontrollieren und zu verstehen. Es gibt denkbare "transzendente", das heißt außersystemische oder "moralische" Ziele, wie etwa Wohlstand oder Gerechtigkeit, die das System beinhaltet; doch werden diese Ziele nicht erreicht, ist dies kein hinreichender Grund dafür, dass das System seine "Legitimität" verlöre. Von innen betrachtet, sind Krisen oder Kriege oder Revolutionen keine "Widerlegungen" oder "Anfechtungen" des Systems (Ereignisse widerlegen keine Konzepte und sprechen nicht zu Dingen); sie sind einfach Aufforderungen, seine Fehler zu korrigieren. Da das Kapital und der Staat als ursprüngliche Wirklichkeiten wahrgenommen werden - was sie auch tatsächlich sind -, scheint man sie, im Unterschied zum Bourgeois oder zu den Funktionären, nicht beseitigen zu können.

"Legitimität" ist nicht gleichbedeutend mit moralischer Rechtfertigung. "Legitimität" tritt, wie Max Weber uns gelehrt hat, in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf, und im Unterschied zur Moral als solcher regelt sie nicht das gesamte moralische Verhalten von Individuen. Sie ist schlicht die Anerkennung einer grundlegenden Tatsache - beherrscht oder regiert zu werden -, die das von Asymmetrie und Hierarchie bestimmte kollektive Verhalten regelt. Legitimität ist Wissen. Wissen bindet Personen an Konzepte und an Dinge. Legitimität bedeutet, die herrschende Ordnung zu kennen. Selbst die Verknüpfung zwischen Personen und Konzepten oder Dingen ist kognitiver Natur, was philosophisch analysiert und interpretiert wird und werden sollte. Die Einhaltung und, falls notwendig, Veränderung von Regeln macht verantwortungsvolle Staatsbürgerschaft aus, und innerhalb der Grenzen der Legitimität gibt es einen Anreiz für die Förderung von Wissen. Je besser man die herrschende Ordnung kennt, desto besser sind die Chancen, dass die herrschende Ordnung verbessert wird, desto tiefgreifender sind die Veränderungen, die man in ihr herbeiführt, desto größer wird die Identifikation mit der herrschenden Ordnung sein. Bürger und "soziale Wesen" sind durch ihr Wissen an die abstrakte Herrschaft gebunden. Wie jedes Wissen kann dieses aktiv sein, das heißt, es kann auf eine freie Interpretation und schrittweise Veränderung der Verhältnisse abzielen, was man in diesem Fall üblicherweise als Politik bezeichnet.


Politik als unpersönliche Gewalt

Politik wird oft als Kampf oder als Kunst dargestellt. Lassen Sie uns kurz dieses irreführende Bild betrachten. Politik kann, vor allem in "freiheitlichen Demokratien", sehr wohl darauf abzielen, eine bestimmte Regierung durch eine andere zu ersetzen, und dies kann eine leise oder eine laute Angelegenheit sein. Es ist nicht wahr, dass die auf diese Weise bewirkten Änderungen nur oberflächlich sein können. Leben oder Tod können von ihnen abhängen. Dennoch behaupte ich - weil der grundsätzliche Charakter unpersönlicher Gewalt seit dem Beginn der Moderne nicht verändert werden konnte -, dass auch der politische Kampf kognitiver Natur ist, sobald es um das Kapital und um den Staat geht; erfolgreiche Revolutionen waren deswegen erfolgreich, weil sie etwas aufdeckten, was verborgen worden war, und weil sie die verkümmerte kognitive Beziehung zwischen Personen und Konzepten, Personen und Dingen wieder herstellten. Die überlegene Handhabung dieser Beziehung - die nur kognitiv sein kann - ist selbstverständlich eine reale Überlegenheit; Wissen ist kein Automatismus. Politik als "Kunst" ist ein ähnlicher Fall. Eine gute Intuition, psychologisches Einfühlungsvermögen, rhetorisches Geschick und ähnliches sind bei allen menschlichen Bestrebungen hilfreich. Es gibt fähige und unfähige Führer.

Machiavellis Rat, wie man Ängste schürt und Eitelkeiten ausnutzt, ist zwar überaus raffiniert, weiß aber nichts von Legitimität, was bedeutet, dass er kein wirklich moderner Philosoph ist. Was er beschreibt, ist Zwang. Es versteht sich für ihn von selbst, dass der Machthaber immer ein Prinz ist. Für die Verhältnisse des modernen Kapitalismus ist dies ohne Bedeutung. Legitime, das heißt anerkannte und stabile politische Gewalt entspringt der Anerkennung und Erkenntnis des konzeptuellen und verdinglichten Charakters der Macht. Machiavellis Macht ist offen unmoralisch, während subjektlose Gewalt immun gegen moralische Kritik (oder Zustimmung) ist. Machiavelli beschreibt, wie Personen durch Zwang, meistens in Form von Gewalt, Macht erlangen oder behalten können. Diese Dinge sind immer noch weit verbreitet, doch der Zwang, der auf eine Auslöschung von persönlichem Einfluss abzielt, wird in seiner Reichweite und Bedeutung stark beschränkt durch die intellektuellen Erfordernisse - Recht und Markt -, mit realer Macht umzugehen, die nie ganz personal ist, weil sie immer auf Konzepte und Dinge verweist.

Dies gilt auch für scheinbar rechtlose Regime wie den NS-Staat. (Vgl. G. M. Tamás, Über Postfaschismus, in: Grundrisse 45, Frühjahr 2013, www.grundrisse.net) Sogar dort gab es, ohne in Carl Schmitts Relativismus schwelgen zu wollen, eine seltsame Art des Rechts, mit einer Spaltung zwischen dem, was Ernst Fraenkel der Einfachheit halber als "Maßnahmenstaat" beziehungsweise "Normenstaat" bezeichnete: Obwohl die Nazis Millionen von Menschen ihrer Bürgerrechte beraubten und zahlreiche gängige Garantien der persönlichen Sicherheit aufhoben, erbten Leute Vermögen, unterschrieben Verträge, zahlten Steuern und legten in Zivilprozessen und Strafsachen bei höheren gerichtlichen Instanzen erfolgreich Berufung ein; man bestrafte Betrug und Diebstahl, hielt sich an die Straßenverkehrsordnung, machte Gewinne, adoptierte legal Waisenkinder und ahndete erfolgreich Verstöße gegen das Urheberrecht.

Das Gesetz galt für alle Menschen, nur galten viele Menschen nicht mehr als Menschen und wurden daher vom Gesetz und damit von der Macht (von der Macht als Gewalt und von der Macht als Schutz) ausgeschlossen. Für den Rest funktionierte weiterhin die unpersönliche Gewalt auf eine zweifellos grauenvolle und angsteinflößende Weise. Die Nacht der langen Messer war eine wirksame Maßnahme, um eine Willkürherrschaft einzuführen, aber nicht wirksam genug, um auch den konzeptuellen und verdinglichten Charakter der grundlegenden kapitalistischen Ordnung abschaffen zu können, obwohl Hitler vielleicht dachte, sie wäre es. Was jedoch abgeschafft wurde, war die "Demokratie".


Unschuldige Demokratie?

Unsere Krise ist nicht die erste. Der entscheidende Fall eines solchen wirtschaftspolitischen Aufstands fand im Europa der 1920er und 1930er Jahre statt und veranlasste manche Denker dazu, sich mit dem Wesen der "Demokratie" zu beschäftigen, die anscheinend teils durch Selbstzerstörung zerstört worden war. Doch wie Carl Schmitt ausführte: "Es scheint also das Schicksal der Demokratie zu sein, sich im Problem der Willensbildung selbst aufzuheben. Für den radikalen Demokraten hat die Demokratie als solche einen eigenen Wert, ohne Rücksicht auf die Inhalte der Politik, die man mit Hilfe der Demokratie macht. Besteht aber Gefahr, dass die Demokratie benutzt wird, um die Demokratie zu beseitigen, so muss der radikale Demokrat sich entschließen, auch gegen die Mehrheit Demokrat zu bleiben oder aber sich selbst aufzugeben. (...) Die Situation, dass die Demokraten in der Minderheit sind, tritt doch sehr oft ein. Auch kommt es vor, dass sie aus vermeintlich demokratischen Grundsätzen für das Frauenwahlrecht eintreten und dann die Erfahrung machen, dass die Frauen in der Mehrheit nicht demokratisch wählen. Dann entwickelt sich jenes alte Programm der Volkserziehung: das Volk kann durch richtige Erziehung dahin gebracht werden, dass es seinen eigenen Willen richtig erkennt, richtig bildet und richtig äußert. (...) Die Konsequenz dieser Erziehungslehre ist die Diktatur, die Suspendierung der Demokratie im Namen der wahren, erst noch zu schaffenden Demokratie." (Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus [1923], München und Leipzig: Duncker und Humblot, 2. Auflage 1926, S. 37)

Diese These rührt von Carl Schmitts Bereitschaft her, Rousseau ernst zu nehmen: "Demokratie" bedeutet die Identität der Regierung mit den Regierten, das heißt die Menschen in einer Demokratie sollen sich selbst regieren, und dies ist nur durch die Gleichheit und Homogenität der politischen Gemeinschaft möglich. Schmitt war sich der historischen Implikationen bewusst: "Die Aufgabe des Parlaments besteht darin, die politische Einheit zu integrieren, d. h. die politische Einheit einer klassenmäßig, interessenmäßig, kulturell, konfessionell heterogenen Masse eines Volkes zu einer politischen Einheit immer von neuem zu bilden. Damit das Volk im Staat zur politischen Existenz kommt, ist eine bestimmte Gleichartigkeit, eine Homogenität erforderlich. (...) Das System [des bürgerlichen Rechtsstaats mit seinem Parlamentarismus] hatte den Sinn der Integration des Bürgertums in den monarchischen Staat. Diesen Sinn hat es erfüllt. Heute aber ist die Situation völlig anders geworden. Heute geht es darum, das Proletariat, eine nicht besitzende und nicht gebildete Masse, in eine politische Einheit zu integrieren. Für diese Aufgabe (...) sind heute immer noch nur die Apparate und Maschinen zur Verfügung, die jener alten Aufgabe der Integrierung des gebildeten Bürgertums dienen. Die Verfassung ist ein solcher Apparat. Daher kommt uns alles so künstlich gemacht vor, daher entsteht dieses Gefühl der Leere, das man so leicht der Weimarer Verfassung gegenüber hat." (Carl Schmitt, Der bürgerliche Rechtsstaat [1928], in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg. von Günter Maschke, Berlin: Duncker und Humblot 1995, S. 47)

Man sollte die "Demokratie" an sich also nicht für unschuldig halten; vielleicht ist sie es nicht, denn sie wirft die Frage nach der Macht auf, auch wenn sie diese mit der politischen Gegenrede der Tautologie beantworten würde: Diejenigen, die Macht ausüben, sind diejenigen, über die Macht ausgeübt wird. Der allgemeine Wille bedeutet, dass die politische Gemeinschaft sich notwendigerweise selbst regiert und dass daher diejenigen, die nicht regieren, folglich keine Mitglieder der Gemeinschaft sind. Staatsbürgerschaft bedeutet Macht und umgekehrt. Das heißt nicht, dass es in der Demokratie keine Macht gäbe - im Gegenteil.

In der wahren Demokratie gehört die Macht der politischen Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger, die als solche - in Gestalt des allgemeinen Willens - Macht auf individuelle Bürger ausüben, deren Opposition neutralisiert wird durch ihre fortbestehende Mitgliedschaft in der Gemeinschaft, die in Form von politischer Motivation (Patriotismus) auf sie zurückkommt. Auf diese Weise stehen sie nicht in Opposition zu einer Gruppe mächtiger Personen innerhalb ihrer eigenen Gruppe von Staatsbürgern, sondern zu Außenstehenden, zu Menschen in anderen "Gemeinschaften". Formal betrachtet ist dies die Geburt des Nationalismus aus dem Geist der Demokratie. Freilich nur, wenn es zutrifft, dass es in einer echten Demokratie keinen Unterschied zwischen Regierenden und Regierten gibt.

So ist die "Demokratie" ein Kandidat für die unschuldige Macht, da sie keinen "Bürgerkrieg" zulässt, denn es kann in ihr keine wirklichen Machtkämpfe geben, da die Macht gleichmäßig verteilt ist und daher aus dem Blick gerät - und notwendigerweise nach außen gerichtet wird.

Der andere Kandidat ist selbstverständlich der "Rechtsstaat". Der "Rechtsstaat" erreicht nicht das, was die "Demokratie" angeblich hervorbringt: Das Verschwinden der Macht aus einer Nation von Gleichen. Denn der "Rechtsstaat" ist nicht dazu bestimmt, Homogenität, allgemeinen Willen und die Machtlosigkeit von Untergruppen aller Art (abgeschlossene, getrennte Gruppen) festzusetzen. Er lässt sich in Einklang bringen mit einer sehr ausgeprägten, sogar politischen Ungleichheit, und er kann der Mehrheit - wie in der Vergangenheit durchaus geschehen - politische Rechte vorenthalten. Er könnte sogar in einer Sklavenhaltergesellschaft herrschen.

Im Gegensatz zur ursprünglichen Idee der Demokratie - die in der Antike ebenfalls in der Lage war, mit Ungleichheit zu koexistieren, solange die Armen, aber Freien gelegentlich politisch dominieren konnten - verschleiert oder versteckt der "Rechtsstaat" die Macht nicht. Er bewirkt jedoch eine radikale Veränderung in der "Person" des Herrschers; fragt man, wer im "Rechtsstaat" herrscht, erhält man die Odysseus'sche Antwort: "Niemand". Derjenige, der herrscht, ist keine Person. Ist es ein Ding?

Es ist vielleicht kein "Ding" (denn es ist ein Konzept), doch es spiegelt zweifellos eine Ordnung der Dinge wider.


Exkurs zum Subjekt

Wie ist nun das Subjekt im "Rechtsstaat" konstruiert? "Gerade der Streit, der Interessenzusammenstoß, erzeugt die Rechtsform, den rechtlichen Überbau. Im Rechtsstreit, d. h. im Prozess treten die wirtschaftenden Subjekte bereits als Parteien, d. h. als Beteiligte an dem juristischen Überbau auf. (...) Durch den gerichtlichen Prozess sondert sich das Rechtliche vom Ökonomischen ab und tritt als selbständiges Element auf. Historisch beginnt das Recht mit dem Streit, d. h. mit der Rechtsklage; erst später erfasste es die vorhergehenden, rein ökonomischen oder praktischen Verhältnisse, die so bereits vom ersten Anfang an einen zwieschlächtigen ökonomisch-juristischen Aspekt annahmen. (...) Gleichzeitig ist das Recht im einen Aspekt die Form der äußeren autoritären Regierung, im anderen die Form der subjektiven privaten Autonomie. Im einen Fall ist das Kennzeichen des unbedingt Verpflichtenden, der unbedingten äußeren Zwangsmäßigkeit grundlegend und wesentlich, im anderen das Kennzeichen der innerhalb bestimmter Grenzen gesicherten und anerkannten Freiheiten. Das Recht tritt bald als Prinzip der gesellschaftlichen Organisation, bald als Mittel auf, damit sich die Individuen 'in der Gesellschaft absondern' können. In dem einen Fall verschmilzt das Recht sozusagen ganz mit der äußeren Autorität, in dem anderen Fall setzt es sich ebenso ganz jeder es nicht anerkennenden äußeren Autorität entgegen. (...) Jeder Eigentümer und auch seine ganze Umgebung begreifen sehr gut, dass das ihm als Eigentümer zustehende Recht mit der Verpflichtung gerade so viel Gemeinsames hat, dass es dieser polar entgegengesetzt ist. (...) Das Subjekt als Träger und Adressat aller möglichen Forderungen, die Kette durch gegenseitige Forderungen miteinander verbundener Subjekte ist das grundlegende juristische Gewebe, das dem ökonomischen Gewebe, d. h. den Produktionsverhältnissen der auf Arbeitsteilung und Austausch beruhenden Gesellschaft entspricht. (...) In seiner abstraktesten und einfachsten Gestalt ist die Rechtsverpflichtung als Abglanz und Korrelat des subjektiven Rechtsanspruchs zu betrachten. (...) Die Verpflichtung tritt immer als Spiegelung und Korrelat der Berechtigung auf. Die Schuld der einen Partei ist etwas, was der anderen Partei zukommt und ihr gesichert ist. Was von der Seite des Gläubigers betrachtet Recht ist, ist für den Schuldner Verpflichtung. Die Kategorie des Rechts wird nur dort logisch vollendet, wo sie den Träger und Inhaber des Rechts in sich schließt, dessen Rechte nichts anderes sind als die ihm gegenüber bestehenden Verpflichtungen anderer." (Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe; aus dem Russischen von Edith Hajós, Wien und Berlin: Verlag für Literatur und Politik 1928, S. 69ff.)

Paschukanis, der das Recht als die Kehrseite des Warenfetischismus betrachtete, hatte natürlich erklärt, dass der Kommunismus eine rechtsfreie Gesellschaftsordnung sein solle, und sah in einem "proletarischen Staat" mit einem Rechtssystem das Überleben der bürgerlichen Ordnung.


Subjektlose Macht

Als ein raffinierter alter Nazi wie Carl Schmitt den Rechtsstaat als Fälschung, ja noch dazu als jüdische Fälschung attackierte, befand man, dass er die Macht verwässere und neutralisiere (Schmitt denkt offensichtlich, dass er die Macht kastriert); man meinte, dass er der willkürlichen Macht (das ist es, was der berühmte "Ausnahmezustand" wirklich bedeutet) im Wege stehe. (Vgl. Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden: Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 63) Das ist allerdings völlig absurd - nicht, weil er es nicht täte, sondern weil willkürliche Macht in der modernen Politik, die auf Warenproduktion und Äquivalenztausch beruht, immer eine Ausnahme bleibt, einschließlich der Versuche, absolute und uneingeschränkte Autorität zu erlangen, die im 20. Jahrhundert in verschiedenen Formen unternommen wurden. Da "Legitimität" Wissen ist, ist das Recht ein konzeptuelles System, das sich auf Handlungen zwischen Menschen und Interaktionen zwischen Menschen und Institutionen und Interessengruppen bezieht, und Subjekte werden sowohl als Träger wie auch als Resultat solcher Handlungen betrachtet (und tatsächlich konstituiert). Da die legitimen Vertreter des Staats (Beamte) gehorchen und das Gesetz anwenden sollen, und da ihre Anordnungen befolgt und von Bürgern ausgeführt werden, die dem Recht unterstehen und nicht den Personen, die zur Ausübung von Macht befugt sind - welche allein dadurch, dass sie das Gesetz anwenden, keine gesellschaftlichen Privilegien genießen -, ist Macht wirklich subjektlos. Widerstand ist daher ipso facto illegal. Jede Person ist einer kognitiven (Legitimität) und konzeptuellen (Legalität) Ordnung unterworfen, die Gegenstand von Interpretationen und damit von Kontroversen und Debatten ist; doch sie kann nicht umgestürzt werden, weil es sich nicht um eine Macht handelt, die mit einer als ein Privileg geerbten und als Tradition aufrechterhaltenen Autoritätsstruktur ausgestattet ist.

Die Opposition gegen ein solches System kann, philosophisch betrachtet, zweierlei Formen annehmen und wird üblicherweise als Abneigung gegen den "Liberalismus" formuliert. Die eine Form ist das Bestreben, wie im Faschismus die lebende - körperliche, emotionale und kämpferische (kriegerische) - Persönlichkeit zu rehabilitieren. Die andere Form ist emanzipatorisch und bleibt daher ebenso philosophisch wie das "Staatsrecht" selbst; daher misstrauen ihr alle, deren Verzweiflung sich ebenso gegen das Kognitive und Konzeptuelle wie gegen die Macht selbst richtet, die im Fall des "Rechtsstaats" durchaus kognitiv und konzeptuell ist. In den besten revolutionären Schriften der jüngeren Zeit, die alle aus demselben französischen ultraradikalen Milieu (Tiqqun, Unsichtbares Komitee) stammen, sind die philosophischen Stigmata - trotz eines manchmal irreführenden äußeren Anscheins - offenkundig. Die Parti imaginaire hat sehr gut verstanden, dass die Reaktion auf die demokratische Homogenität und die zunehmend abstrakte subjektlose Gewalt (deren Bindungen an die politische Wirklichkeit von städtischen oder kommunalen Entscheidungsprozessen und wechselseitigen hermeneutischen Bemühungen abgerissen sind) der Bürgerkrieg ist, eine permanente Revolution von niedriger Intensität. Der Bürgerkrieg ist per definitionem konzeptuell.

Die Doppelmacht von Kapital und Recht kann nicht - wie das bodenlose Versagen aller Spielarten des traditionellen Sozialismus gezeigt hat - durch eine konkurrierende Machtübernahme gebrochen werden, die zwar den Staat übernimmt und Zwang ausübt (und wie!), jedoch dessen wesentliche, gänzlich abstrakte (nicht verborgene) Struktur intakt lässt. Nur der Bürgerkrieg, sagt die Parti imaginaire, stellt durch eine philosophische Kritik die Dimension des Politischen wieder her und damit eine Staatsbürgerschaft ohne Beziehung zum Staat [im engl. Original: citizenship unrelated to the state] (einer untergeordneten Machtstruktur, die dem Recht und dem Kapital dient). Eine Staatsbürgerschaft, die mit Kritik einhergeht und die der Legitimität und Legalität ihre Anerkennung entzieht, ist die einzige lohnenswerte Konkurrenz zum "Rechtsstaats", weil sie eine vergleichbare konzeptuelle und physische Kraft besitzt. Es ist eine neue "Staatsbürgerschaft", die auf Ruinen gegründet ist.

Eine Macht, die durch Homogenität und Symmetrie oder durch totale Subjektlosigkeit und Konzeptualität unschuldig gemacht wird, ist für eine moralische Kritik an Erniedrigung und Schmerz undurchdringlich. Die Auswirkungen von unschuldiger Macht können Knechtschaft und Erniedrigung oder willkürlich zugemutetes Elend sein, aber sie können keine willentlichen Absichten der Macht sein, da konzeptuelle Systeme keinen Willen haben. Die philosophische Kritik der Macht muss ihrer Unschuld Rechnung tragen.

Wir stehen vor der Wahl, die Gegenmacht unschuldig zu machen oder ganz auf Macht zu verzichten. Weder das eine noch das andere erscheint befriedigend. Die moralische Rechtfertigung von Gegenmacht, das heißt, die konzeptuelle Praxis der Legitimation nachzuahmen, ist untauglich und selbstzerstörerisch. Dem Zelebrieren von reiner Aktion fehlt es an konzeptueller Stärke, daher ist es durch den Charakter des Spätkapitalismus zum Scheitern verurteilt. In der Kunst und in der Politik Ruinen zu schaffen, ist möglicherweise eine bloße Replik, ein Simulakrum der kreativ zerstörerischen Wirkung des Kapitalismus.

Es gibt viel Hass - aber wie nützlich kann es sein, kognitive und konzeptuelle Strukturen zu hassen? Der Bürgerkrieg sollte sokratisch sein, wenn er gewonnen werden soll. Die höchsten politischen Formen von Bourgeoisie und Proletariat sind zerstört. Das Kapital und das Recht treten in ihrer reinsten Form auf. Wenn man den Widerstand atavistisch auf eine neue Religion im Sinne einer revolutionären oder konterrevolutionären Wiederherstellung des Glaubens an eine unreflektierte, hermeneutisch naive Legitimität reduziert, wird er vereinnahmt werden. Die konzeptuelle Kraft der Rebellen sollte ebenso groß sein wie die der unschuldigen Macht, eigensinnig verteidigt von Männern und Frauen, die nach Freiheit streben.

* Übersetzt aus dem Englischen von Barbara Hess

*

Gewalt - ein Verhältnis

von Nikolaus Dimmel

Kapitalismus ist nichts Geringeres als ein allseitiges Gewaltverhältnis. Und als solches gerade ob seiner Allgegenwärtigkeit schwer zu fassen. Denn Gewalt ist immer dingliche oder institutionelle Struktur, ökonomischer Zusammenhang und soziale Handlung in einem. Kontrafaktisch reduzieren der bürgerliche Rechtsstaat und seine ideologische Rahmung das Gesellschaftsvertragsdenken auf Gewaltstrukturen (Gewaltmonopol und Gewaltenteilung) und Gewalthandlungen (Polizei, Strafvollzug). Dies freilich lässt die Gewaltdimension der kapitalistischen Ökonomie gänzlich außen vor. In der Art und Weise, wie Menschen im Kapitalismus produzieren und sich reproduzieren, steckt immer ein soziales Verhältnis der Gewalt. Dies betrifft Lohnarbeit und Mehrwertabschöpfung, die Verwarung sozialer Beziehungen, die Finanzialisierung des Alltags, die Umwandlung der Arbeitskraft in "Humankapital", aber auch die Verwandlung des Lohnarbeiters in einen "Arbeitskraftunternehmer". In gleicher Weise betrifft es die zentrale Rolle des kapitalistischen Staates bei der gewaltsamen Durchsetzung von Profitraten im staatsmonopolistischen Kapitalismus. Und es tritt unverstellt in den Dominanz- und Aneignungsansprüchen der Plutokratie, also der Herrschaft der Eliten und Agenturen des Finanzkapitals, zu Tage.


Strukturelle Gewalt

Eben dieses Gewaltverhältnis gilt es zu verbrämen. Deshalb vermag etwa der Mainstream der Soziologie als einer sozialtechnologischen Disziplin, das Gewaltverhältnis nicht anders als über personale Beziehungen zu erschließen. Gewalt wird hier gemeinhin als körperliche (physische) und/oder seelische (psychische) Schädigung eines Anderen oder von Anderen oder/und deren Androhung(en) verstanden. Gewalt gilt als Ausdruck machtbezogener Kommunikation und Interaktion. Vielgestaltig wird Gewalt als Todesmacht von Menschen über Menschen naturalisiert und universalisiert. Tötungsmacht und dem korrespondierend Ohnmacht des Opfers gelten latent oder manifest als Bestimmungsgründe aller Sozialstruktur. Erst darin trennt etwa Jan Philipp Reemtsma (Vertrauen und Gewalt, 2008) zwischen lozierender Gewalt zur Beseitigung des Körpers des Anderen, raptiver Gewalt zur Instrumentalisierung des Körpers des Anderen und autotelischer sadistischer Gewalt, die um ihrer selbst willen wie in der Folter angewandt wird. Die Psychologie vertieft diesen Denkansatz. Sie reduziert Gewalt evolutionsbiologisch auf Triebe (Aggression) bzw. biopsychosoziale Mechanismen. Hier sind es soziale, kulturelle und situative Umfeldbedingungen, die Emotionen wie Angst, Furcht, Wut, Frustration oder Straflust aktivieren und darüber Gewalthandeln erzeugen.

Alle ökonomisch vermittelte Gewalt findet in derlei Denkzuschnitten begrifflich keine angemessene Abbildung. Dabei erhellte bereits der Rückgriff auf Johan Galtungs Konzept der "strukturellen Gewalt" (1975) den Horizont. Denn hier wird strukturelle Gewalt als vermeidbare Beeinträchtigung der Realisierung potentiell möglicher Bedürfnisbefriedigung einer möglichst großen Zahl an Menschen einer Gesellschaft verstanden. Kern struktureller Gewalt ist die Reproduktion von Ungleichheit (von Einkommen, Bildung, Lebenserwartung) sowie die Oppression emanzipatorischer Bewegung. Gewalt wird hier nicht mehr personalen Akteuren zugerechnet. Vielmehr sind es die Gesellschaftsformation, ihre ökonomischen (Eigentumsverhältnisse) und (!) sozialen Strukturen (Werte, Normen, Institutionen, Diskurse und Machtverhältnisse), die Gewalt ausüben.

Darauf hat freilich schon Bert Brecht in "Me-Ti. Buch der Wendungen" verwiesen. Darin heißt es, dass es viele Arten zu töten gibt: "Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen." Gewalt als Ausdruck des ökonomischen Verfügungsanspruchs über Ressourcen, Körper und Leben (als Prinzip) setzt ein bindungswirksames ideologisches Ausblendungsverhältnis voraus. Sie wird konsequent dann nicht mehr wahrgenommen, wenn sie als einschränkende normative Lebensbedingung bereits internalisiert und toleriert ist. Herbert Marcuses Befund der "Repressiven Toleranz" (Kritik der Reinen Toleranz, 1966) gegenüber aller zerstörerischen Gewalt, konsumistischen Warenästhetik und Fetischisierung sowie rückschrittlichen Bewegungen erhält im "Pluralismus der Oligarchien" und angesichts der "Varieties of Financial Capitalism" allerdings neue Qualität. Denn dessen Gewaltpotential übersteigt alles Dagewesene der Fabrikation von Herrschaft. Das betrifft nicht nur Weltordnungskriege, den Metabolismus des Naturverbrauchs und die reelle Subsumtion der Arbeitskraft unter das Kapital. Es betrifft auch die Zukunft. Längst hat das Finanzkapital die Zukunft kolonisiert und verspielt, wenn einem Welt-BIP von 77 Billionen US-Dollar mit Recht bewährte Finanztitel im Wert von 200 Billionen US-Dollar gegenüberstehen. Zugleich ist in den medialen Blödmaschinen keine Alternative mehr zum "Geld-Geld-Geld"-Produktionskreislauf des Finanzkapitalismus, nicht einmal mehr eine Rückkehr in einen realwirtschaftlich dominierten Konkurrenzkapitalismus denkbar, der gleichwohl als Emblem keynesianischer Konjunkturpolitik das Ende der Mehrwertproduktion hinauszuzögern aber nicht zu verhindern vermag.

Realiter waren ökonomische Demokratie als irgend geartete "Mitbestimmung" der Produzierenden über Produktion wie Verteilung des Surplus einerseits und Kapitalismus andererseits immer schon dissoziiert. Alle ursprüngliche Akkumulation im Sinne kapitalistischer Landnahme ruht auf Vertreibung, Versklavung, Aneignung, Mord, Totschlag und Zwang. Hier erstreckt sich eine Blutlache vom transatlantischen Sklavenhandelsdreieck über die Kolonialkriege der Ostindischen Kompanien über König Leopolds Kautschukplantagen im Kongo, über die imperialistischen (Welt)Kriege um Rohstoffe, Absatzmärkte und Raum bis herauf zu den modernen Weltordnungskriegen, mit denen das Finanzkapital den Globus überziehen lässt. Alle Weltordnungspolitik der kapitalistischen Metropolen basiert letztlich auf Gewaltpraktiken. Das bezieht sich auf den als "Demokratieexport" verbrämten Imperialismus der NATO, Marines und Deutschen Bundeswehr nach Irak, Jugoslawien und Libyen. Es reicht von der Finanzierung der faschistischen Widerstandsbewegungen von Chile bis zu ihren islamofaschistischen Varianten in Afghanistan und Syrien. Es reicht vom Freihandelsregime zwischen WTO und TTIP bis hin zum extralegalen, martkfundamentalistischen Furor der EU-Troika in Griechenland. Dem Weltordnungskrieg nach außen korrespondiert die "low intensity warfare" des Bürgerkriegs nach innen. Darin intensiviert der neoliberale, postfordistische Überwachungsstaat seine gewaltbewährte soziale Kontrolle über die Subalternen. Dies deshalb, weil die kapitalistische Landnahme der Körper die fortwährend adaptierte Sozialdisziplinierung der Nichtkonsumierenden, Unangepassten, Widerständigen und Arbeitsmarktfernen unhintergehbar voraussetzt.


Metamorphosen der Gewalt

Nun liegt der Kern des kapitalistischen Gewaltverhältnisses in der Ligatur von Lohnarbeit und Privateigentum, dem Dreh- und Angelpunkt der bürgerlichen Gesellschaft. Bereits im Lohnarbeitsverhältnis, jenem Vertrag zwischen formal Gleichen und material Ungleichen, worin der Mehrwert in einer Illusion der juristischen Weltanschauung zum Verschwinden gebracht wird, steckt Gewalt. Der "doppelt freie" Lohnarbeiter realisiert den unhintergehbaren Zwang gegen den eigenen Willen (und wider besseres Wissen) seine Arbeitskraft wie die Haut zu Markte zu tragen. Auch unter dem Schlagschatten des Arbeitsverfassungsrechts (Betriebsräte, Mitbestimmung) schwingt die Willkür des unternehmerischen Direktionsrechts. Was sich an der Performanz der Lohnarbeit geändert hat, ist das "wie" des Verkaufs und der Applikation der Arbeitsvermögen.

Im warenproduzierenden Konkurrenzkapitalismus bedurfte es simpel der Polizei, Arbeitsbüchern und physischer Gewalt. Der Monopolkapitalismus wählte den Faschismus als Modus gewalttätiger Formierung. Heute funktioniert die Gewalt des sich postindustriell gebenden Kapitalismus auf komplexere Weise. Sie beruht auf Gouvernementalität, auf Selbstzwang, Submission und der Absorption der Arbeitsvermögen im Kapital. Das betrifft Innovationen und Gefühle ebenso wie soziale und kommunikative Kompetenzen. So muss sich die "postmoderne" Arbeitskraft selbst anrichten ("life long learning"). Sie muss sich bewerben (Lebenslauf-Kursmaßnahmen) und verkaufen (Vorstellungsgespräche). An die Stelle der Gewalt des Vorarbeiters und Abnehmers am Fließband sind die Teamleitung, an die Stelle der hierarchischen Sanktion die Ungleichverteilung gruppenbezogener Prämien samt Teamsupervision getreten. Zugleich reduziert sich mit wachsender organischer Zusammensetzung des Kapitals die gesellschaftlich notwendige nachgefragte Arbeit. Was bleibt ist die Alternative zwischen Burnout, Boreout, innerer Kündigung und Langzeitarbeitslosigkeit. Nur 10 Prozent der OECD-Beschäftigten arbeiten im "flow", sind also in der Arbeit bei sich, haben die Empfindung sinnstiftender Tätigkeit, berichten von der Eigenwahrnehmung, ihr Arbeitsvermögen angemessen einzusetzen. Für 90 Prozent der Beschäftigten hingegen dominieren Arbeitsleid, Über- oder Unterforderung. Erst wenn dieses Verhältnis struktureller Gewalt als totalitärer Modus der Ausbeutung identifiziert wird, ist eine konstruktive Verweigerung gegenüber dem kapitalistischen Kontrollzugriff möglich.

Dessen ungeachtet eskaliert und löscht sich das kapitalistische Gewaltverhältnis selbst erst dann aus, wenn es jeden Quadratmeter Welt kapitalisiert, jede auf Produktivkraftniveau verwertbare Arbeitskraft ausgebeutet und die Zukunft der Wertschöpfung vollständig verbraucht hat. Dorthin ist man zügig unterwegs (aber noch nicht ganz da). Noch beansprucht das Krisenmanagement der politischen Dienstklasse, den Kapitalismus zu "regieren". Doch erweist sich das Versprechen der Befriedung des Widerspruchs zwischen phantastischen Profitratenerwartungen und kollektiven Wahnvorstellungen der Finanzoligarchie (institutionelle Anleger, Finanzkapitalisten, Banken, Ratingagenturen, Weltbank, IMF) einerseits und der austeritätspolitischen Ausplünderung der Subalternen andererseits als substanzlos. Thomas Piketty (Capital in the 21st Century, 2013) oder die OECD (Growing Unequal, 2009) tun so, als ob man ein bisschen fairer umverteilen müsste, um den Kapitalismus wieder in Konjunkturschwung zu bringen, um das Ausmaß struktureller Gewalt (Arbeitslosigkeit, Armut) und proaktiver Gewalt (Züchtigung der Schuldner) zu verringern.

Freilich, der Widerspruch zwischen militärisch und polizeilich durchgesetzten finanzkapitalistischen Rendite- und Realisierungsansprüchen (aus elektronischen Buchungszeilen werden private Forderungen und Exekutionstitel) einerseits und dem tendenziellen Fall der Profitrate sowie der rückläufigen realkapitalistischen Produktionsleistung andererseits bleibt ein kategorialer. Im beschönigenden Kunstgriff der BIP-Rechnung liegt das Wachstum der Industrieländer seit 15 Jahren zwischen Null und 1,5 Prozent. Rechnet man aber den Impact des Finanzsektors auf das BIP sowie den artifiziellen Binnenhandel zu Zwecken der Steuervermeidung in multinationalen Konzernen heraus, dann verharrt der Kapitalismus (gemäß dem ihm eigenen Maßstab) seit 15 Jahren im Minuswachstum, also in der Rezession. Gänzlich unauflöslich ist schließlich der Widerspruch zwischen dem suizidalen Ressourcen- und Naturverbrauch der kapitalistischen Wachstumsmaschine und den beschränkten Ressourcen der Biosphäre.

Auf diese Weise hat der High-Tech-Kapitalismus auf durchgängig gewalttätige Weise die Grenzen seiner gesellschaftlichen Reproduktion erreicht. Konjunkturelle Aufschwünge nehmen seit 1991 fast nur noch die Form von Spekulationsblasen und epidemischer Enteignung an. Eine schuldenfinanzierte, auf kollektiven Wahnvorstellungen der Investoren, Machtansprüchen der Plutokratie und dümmlich-autoritärem Habitus der politischen Dienstklassen beruhende kapitalistische Ausplünderungsökonomie setzt die Profitratenerwartungen der herrschenden Klasse unerbittlich um. Sie tut dies mittels Freihandels- und Sonderwirtschaftszonen, Standortwettbewerben, Privatisierungsoffensiven, einem hochgerüsteten Überwachungsapparat und einer globalisierten High-Tech-Militärmaschinerie.

Darin bewegt sich das moderne kapitalistische Gewaltverhältnis flexibel zwischen Stellungs- und Bewegungskrieg. Zerbricht das Machtgefüge des Stellungskrieges, etwa weil ein Teil der angebotenen Lohnarbeit überflüssig wird, geraten stillgelegte Widersprüche in Bewegung. Der Konsens wird aufgekündigt. Erodiert zum anderen die Macht in der "societa civile" in Form des Verlustes des Konsensus über den legitimen Dominanzanspruch der Bourgeoisie, verwandelt sich der Widerstand der Subalternen in "Sand im Getriebe", dann kommt die Gewalt des bürgerlichen Staates ins Spiel. Diese schafft im Weiteren klare Verhältnisse im Bewegungskrieg, etwa durch die Judikatur des EuGH, die jeden korporatistischen Konsens sistiert hat. Die Troika (EU-Kommission, EZB, IMF) hat die Logik dieser Intervention in Griechenland trefflich vor Augen geführt, wo den Modernisierungsverlierern gesunde Lebensjahre "en bloc" genommen werden. Der Körper, sagt Christina von Braun (Der Preis des Geldes, 2012) ist die letzte Deckung des Geldes. Und so bezahlen die Subalternen die Spielschulden der Reichen mit ihrem Leben.


Gegenmacht und Gegengewalt

Nachdem die Finanzbourgeoisie diesen Bewegungskrieg als "Bürgerkrieg von oben" entfesselt hat, stellt sich indes die Frage, wie lange sich bürgerliche Herrschaft ausschließlich/dominant auf Gewalt stützen kann und welches Mindestmaß an Akzeptanz und Legitimität ihr unterliegen muss, um nicht zu zerbrechen. Denn der soziale Ausschluss provoziert differentielle Praktiken der Gegenwehr von den Revolten der Banlieue 2005 über die London Riots 2011, die "Indignados" in Spanien bis hin zur "Occupy"-Bewegung, "Podemos" oder "Syriza". Darin stellt sich auch die Frage der Gegengewalt neu. Denn in grundsätzlicher Weise setzen antihegemoniale Praxis und die Entfaltung einer Perspektive auf die Systemtransformation korrespondierende Gegenmacht und Gegengewalt voraus. Im Grunde genommen ist die Befreiung aus kapitalistischen Produktions- und Reproduktionszwängen nur durch den Akt der Gewalt hindurch zu denken. Kapitalismus lässt sich nicht abwählen, wie schon Emma Goldmann wusste: "Würden Wahlen etwas ändern wären sie verboten."

Vertrackter wird es, wenn über Inhalt, Ausmaß und Form der Gegengewalt zu räsonieren ist. Bereits wenn man ein (Natur)Recht auf Widerstand außerhalb bürgerlicher Legalitätsvorstellungen gegen die kapitalistische, gewalttätige Ausplünderungspraxis zugunsten unterdrückter Bevölkerungsgruppen oder überwältigter Minderheiten argumentiert, stellt sich die Frage, wie Gegengewalt beschaffen sein muss und darf. Dies erst recht, wenn die Gewalt des kapitalistischen Ausplünderungsverhältnisses eben nicht mehr nur mit nationaler Zivil- und Strafjustiz durchgesetzt wird, sondern die fortgeschrittensten Praktiken dieser Ausplünderung allesamt supranational und extralegal exekutiert werden. So lässt sich etwa TTIP, der Klon des gescheiterten MAI-Abkommens, als Beerdigung dritter Klasse des Rechtsstaates verstehen. Denn hier klagen Investoren gänzlich diskretionär Staaten (und hinter ihnen deren souveräne Bevölkerung) vor Privatgerichten, die sich aus bezahlten Symbolagenten ("law firms") des internationalen Finanzkapitals (Hedge Fonds) zusammensetzen. Sie klagen bereits heute virtuellen Schaden in Milliardenhöhe erfolgreich ein, der sich aus entgangenem Gewinn ergibt, der durch den Entfall sozialer und ökologischer Schutznormen möglich gewesen wäre. Letztlich darf hier ein Schaden eingeklagt werden der daraus entstanden ist, dass man zu wenige Leute im Auftrag der Aktionäre verarmen, ausgrenzen, depravieren und verhungern lassen konnte. Diese Gewaltpraxis extralegaler Herrschaft, die jedwedem Konzept bürgerlich-rechtsstaatlicher Herrschaft enträt, macht deutlich, dass sich der bürgerliche Staat nach wie vor eine totalitäre (faschistische) Exit-Option offen hält.

Ist die Gewalt im bürgerlichen Rechtsstaat noch verfassungsrechtlich eingehegt, so spiegeln die supranationalen, globalisierten, marktfundamentalistischen Herrschafts- und Gewaltpraktiken des Kapitals eine Auflösungstendenz des Rechts. Im Kommunistischen Manifest heißt es, dass das Recht Erzeugnis der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse ist und die Bourgeoisie folgerichtig ihre Ideen, wie im Übrigen alle untergegangenen herrschenden Klassen, als ewige Natur- und Vernunftgesetze betrachtet. Das gilt für Inhalt und Form des Rechts. Das Recht gilt gleichwohl als historischer Kompromiss und als mit relativer Eigenständigkeit ausgestatteter Regulationskörper. Die Logik der bürgerlichen Rechtsordnung, aber auch die Spielanordnung der staatlichen Gewaltinstrumentarien, widerspiegeln eine durch staatliche Intervention moderierte Akkumulation des Kapitals. Unausweichlich wird diese gesellschaftliche Regulation des Kapitals durch Recht durch strukturell gewalttätige Wettbewerbs-, Aneignungs-, Verwertungs- und Ausbeutungsbeziehungen erschüttert, gerade auch unter den Vorzeichen des Monopol- und staatsmonopolistischen Kapitalismus. Heute allerdings hat das (bürgerliche) Recht überhaupt keinen adäquaten Ausdruck (mehr) für die Gewaltförmigkeit der ihm zugrunde liegenden Ökonomie.


Postnationaler Ausnahmezustand

Carl Schmitt dachte sich den einzelstaatlichen Notstandsfall (Die Diktatur, 1921) noch als Suspendierung der Anwendung des Rechts, worin das Gesetz als solches in Kraft, aber praktisch unanwendbar bleibt, während der Staat gewaltförmig agiert. Der Finanzkapitalismus hingegen etabliert einen postnationalen Ausnahmezustand, in dem der Staat (vom Recht ist da ohnehin keine Rede mehr) hinter die partikularen Interessen supranational agierender Investoren zurücktritt. In dieser elaboriertesten Form nicht-militärischer Gewaltanwendung, herrscht die Anarchie des Finanzkapitalmarktes.

Kann man vor dieser Hintergrundfolie überhaupt auf dem Boden der bürgerlichen Rechtsordnung um soziale Interessen weiterkämpfen? Kann man nach wie vor Judikate wie Pflöcke in das Terrain der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Verteilung des Reichtums, die Art des Arbeitens oder den Umgang mit der Biosphäre, also um Art und Ausmaß struktureller Gewalt rammen? Ist ein legalistischer sozialer Konflikt um die Legitimität von Gewaltverhältnissen denkbar wenn sich der Gegner nicht nur aus der nationalstaatlichen Rechtsordnung verabschiedet hat, sondern in einer Sphäre des "soft law" ohne verbindliche Regeln mit Mitteln des staatlichen Gewaltmonopols ungreifbar geworden ist?

*

Sexualisierte Gewalt

Aspekte eines gesellschaftlichen Problems

von Karin Wachter

Sexualisierte Gewalt - ein altbekanntes und historisch wahrscheinlich ziemlich konstantes Phänomen. Gerade deshalb erscheinen die jämmerlichen Realitäten weitgehend unausgelotet. Der Komplexität des Themas steht ein seltsamer Mangel an Klarheit und Wissensvermittlung gegenüber. In der öffentlichen Wahrnehmung ist das weitverbreitete gesellschaftliche Problem der sexualisierten Gewalt, die sich hauptsächlich gegen Frauen und Mädchen richtet, als individuelles Problem in Form von Klischees, Stereotypien und Mythen repräsentiert. Die gängigen sexuellen Geschlechterklischees benachteiligen auch Männer: Sexualisierte Gewalt an Männern und Jungen ist kaum ein Thema, weil Sex gegen den Willen eines Mannes nicht vorstellbar scheint. Auch wenn platte Schuldzuweisungen (Täter-Opfer-Umkehr) politisch nicht mehr korrekt sind, existieren Vergewaltigungsmythen weiter. Also all die beruhigenden ("Vergewaltigungen kommen selten vor"), verharmlosenden ("Es ist nicht so viel passiert") oder opferbeschuldigenden ("Die Frau war unvorsichtig") Aussagen, mit denen sexualisierte Gewalt zugleich geleugnet und legitimiert wird. Opferfeindliche Einstellungen stabilisieren die gängigen sexuellen Geschlechterrollen. Wo Gewalt als sexuelles Fehlverhalten, als Ausrutscher und nicht als Gewalt benannt wird, verschwindet sie - ebenso wie die Täter. Und wo ein Gewalttäter nicht als solcher benannt wird, gibt es auch kein Opfer, das diese Gewalt erleiden musste.

Auf eine ausführliche Beschäftigung mit dem Thema folgen immer wieder Zeiten des Vergessens und Verdrängens. Diese zyklische Amnesie erklärt sich dadurch, dass sexualisierte Gewalt - in all ihren Facetten von anzüglichen Blicken, nicht gewollten Berührungen usw. bis hin zu sexualisierter Gewalt in der Kindheit und Vergewaltigung - durch ihre Allgegenwärtigkeit im Leben sehr vieler Menschen ein Thema ist, das starke individuelle, aber auch gesellschaftliche Kontroversen und Abwehrmechanismen hervorruft und somit immer wieder tabuisiert wird. Denn zwischen dem Wissen um Zahlen und Fakten, der eigenen Gewalterfahrung oder dem Bescheidwissen über einen - befreundeten - Vergewaltiger und dem Begreifen eines Phänomens, dem Erkennen der Dimension liegt das Tabu, das von Scham und Schande begleitet wird und das Sich-Erinnern, Daran-Denken und Darüber-Sprechen so schwer macht.


"Und bist du nicht willig..." - Macht und Gewalt

Sexualisierte Gewalt gehört seit Jahrtausenden zum Fundament patriarchaler Gesellschaften und ist beladen mit der Geschichte einer patriarchalen Kultur, in der der "Gebrauch" des einen Geschlechts für das andere zum selbstverständlichen Vorrecht gehörte. Seit nunmehr vier Jahrzehnten wirft die feministische Gewaltkritik der patriarchal strukturierten Gesellschaft und ihren Institutionen vor, einen Zusammenhang von Sexualität und Gewalt, Gewalt und Lust geschaffen zu haben; dass Öffentlichkeit und staatliche Institutionen diese Machtverhältnisse reproduzieren, d. h. normentsprechend agieren, indirekt für Täter Partei ergreifen und Opfer verdächtigen. Demgegenüber bestand der Feminismus auf einer Definition, die Vergewaltigung als sexualisierte Form von Gewalt Versteht. Sexuelle Handlungen werden demnach instrumentalisiert, um Macht und Dominanz zu demonstrieren. Das Motiv von Vergewaltigung ist nicht sexuelles Begehren, sondern Anspruch auf Besitz und Beherrschung der Frau, auf uneingeschränktes Verfügungsrecht vonseiten des Vergewaltigers. Mit dieser Definition ist Vergewaltigung kein Übel perverser Außenseiter, sondern ein Phänomen perverser "Normalität", ausgeführt von normalen Männern. Diese These lenkt von der Pathologie Einzelner auf die Pathologie einer Gesellschaft, der Gewalt seit jeher innewohnt und die sexualisierte Gewalt zum Bestandteil struktureller Gewalt gegen Frauen und Mädchen macht. Erklärt das die anhaltende Stagnation im Kampf gegen sexualisierte Gewalt?

Die Verbindung von Vergewaltigungstat und gesellschaftlichen Machtverhältnissen läuft Gefahr, Gegensätzlichkeiten von Macht und Gewalt zu verwischen. So als sei die Gewalt nichts als die deutlichste Manifestation von Macht. Macht hat mensch aber nur, wenn sie ihm gegeben wird, sie muss ausgehandelt werden, sie beruht auf Zustimmung anderer. Gewalt dagegen ist einseitiger Zwang ohne zustimmendes Gegenüber. Der Täter agiert allein und ist allein verantwortlich. Er übt nicht Macht aus, sondern Gewalt. Wird der Unterschied zwischen Macht und Gewalt verkannt, bleibt die Position des Täters interpretierbar und im Unklaren.


Opferbegriff und Definitionsmacht

Wenn Vergewaltigung als männliches Unterdrückungsinstrument verstanden wird, muss eine zweifelsfreie Eindeutigkeit der Täter-Opfer-Unterscheidung bestehen. Die Eindeutigkeit der Täter-Opfer-Kategorisierung entspricht aber nicht immer der Realität. Jedenfalls sind Täter meist nicht nur Täter, Opfer nicht nur Opfer, Opfer können zu Tätern werden oder wieder zu Opfern, Täter bringen nicht nur Opfer hervor usw. Dass die patriarchale Geschichte auf Frauen und Männer wirkt, ist eine Binsenweisheit und auch, dass diese Tatsache beide Geschlechter provozieren muss, allerdings mit unterschiedlichen Konsequenzen. Die Stabilität des traditionellen Geschlechtersystems wäre ohne die Beteiligung der Frauen nicht denkbar. Ein System, das Frauen schädigt und zugleich von ihnen gestützt und bedient wird. Das Erkennen der Verwobenheit in die Machtverhältnisse verlangt nach einer Eingrenzung des Opferbegriffs, der auf den konkreten Gewaltakt bezogen bleibt. Nicht die Frau ist Opfer, sondern sie war Opfer in einer Gewaltsituation. Nicht das Festschreiben eines ohnmächtigen Opferstatus, um an Schuldgefühle der Gesellschaft zu appellieren, sondern das Freihalten eines Wegs zu Entscheidungsfreiheit und Handlungsfähigkeit aller Subjekte sollte ein Diskurs leisten.

Auch vonseiten betroffener Frauen fallt die Repräsentation der Vergewaltigung nicht gleich aus. Denn Männergewalt trifft die einzelne Frau in ihrer spezifischen Lebenssituation. Jeder Mensch kann nur selbst definieren, ab wann es sich um Gewalt handelt und inwieweit mensch unter den Folgen einer Grenzverletzung leidet. Mit dem gesellschaftlich normierten Gewaltbegriff, der von Kindheit an anerzogen, erlebt und kopiert wird und auf das Erlebte häufig nicht anwendbar ist, wird es Betroffenen schwer gemacht, erfahrene Grenzüberschreitungen zu formulieren.


Das Erleben von sexualisierter Gewalt

Sexuelle Handlungen werden deshalb so häufig als Mittel zum Zweck der Ausübung von Gewalt verwendet, weil damit die Selbstbestimmung über den eigenen Körper durch eine andere Person ausgehebelt wird. Sexualisierte Gewalt stellt einen Angriff auf die körperliche und seelische Integrität und Unversehrtheit eines Menschen dar. Sie ist ein Akt der Erniedrigung und Demütigung. Bei einer Vergewaltigung ist immer der Körper mit betroffen und dies in seinem intimsten Bereich. "Der Körper ist der einzige Teil der Welt, der zugleich von innen empfunden und - an seiner Oberfläche - wahrgenommen wird." (Jaspers 1946) Sich selbst hilflos zu erleben, die Selbstwahrnehmung von Kontrollverlust, zu erleben, dass Körpergrenzen ignoriert wurden, kann problematisch für die Bewältigung sein. Von Frauen beschriebene Gefühle nach einer Vergewaltigung ähneln sich deshalb auch - Scham, der Wunsch, das Geschehene ungeschehen zu machen, ein Gefühl des Beschmutztseins, Ekel vor dem eigenen Körper. Zudem ist zu berücksichtigen, dass drei Viertel der Täter dem sozialen Umfeld der Frauen angehören, es Bekannte, Freunde, Beziehungspartner oder Männer sind, die der Frau im Alltag öfter begegnen. Jede Begegnung führt zur Konfrontation mit der erlebten Schwäche und Beschämung. Sexualisierte Gewalt steht in einem besonderen Wechselverhältnis von Individuum und Gesellschaft und bedeutet, dass Regeln, die für respektvolles zwischenmenschliches Verhalten gelten, außer Kraft gesetzt wurden, und damit den erlebten Verlust der Kontrolle über die Situation, den erlebten Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper, den erlebten Verlust des Vertrauens in bisherige Beziehungserfahrungen. Die Erkenntnis, dass der eigene Wille missachtet und gebrochen werden kann, kann zu einer Erschütterung des Selbsterlebens führen, dies besonders dann, wenn der eigenen, möglichen Ambivalenz zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und dem Wunsch, Grenzen zu setzen, Gewalt entgegengesetzt wird. Die Folgen von sexualisierter Gewalt können ähnlich schwerwiegend sein wie die Folgen von Folter - man-made disasters. Die Traumatisierung verweist auf die dazugehörige Grausamkeit.


Dissoziation/Trauma

Dissoziation bedeutet Abspaltung. Wenn in einer bedrohlichen Situation, die die üblichen Handlungsmöglichkeiten eines Menschen außer Kraft setzt, also bei sexualisierten Gewalterfahrungen Flucht oder Gegenwehr nicht möglich ist, findet eine Art "Flucht nach innen" statt. Die Situation wird gehirnphysiologisch anders verarbeitet - abgespalten, fragmentiert, um sie auf diese Weise erträglicher zu machen und nicht alle Details wahrzunehmen, zu spüren und zu erinnern. In ihrer Gesamtheit wäre die Situation - auch in der Erinnerung - unerträglich und nicht zu integrieren. Dissoziation ist ein wirksamer Schutz vor Überflutung.


"Weil nicht sein kann, was nicht sein darf..." - Die Gesellschaft dissoziiert

Dissoziation findet auch eine gesellschaftliche Entsprechung. Im Umfeld von Gewalt findet sich häufig die Konstellation von Einfühlungsverweigerung wie auch die aufgeregte Sensationslust - dies kann als Abwehrkonstellation begriffen werden. Das Leid, das durch sexualisierte Gewalt ausgelöst wird, ist gesamtgesellschaftlich nicht er-/verträglich und wiederholt sich dadurch immer wieder. Wird sozusagen durch Schweigen konserviert - frisch gehalten - eingefroren - aufgewärmt - vervielfältigt.

Das Tabu ist das Leiden, der Schmerz, das Entsetzen und das Grauen. Erst mit dem Spiegel als Anti-Tabu, dem kollektiven "klar sehen" kann der Aspekt des Leidens als real bedeutsam anerkannt werden.

Wer sich die Opfer vom Hals schafft, kappt den Zusammenhang von Tat und Tatfolgen und hält sich von den Belastungen eigener Verantwortungen frei. Betroffene von sexualisierter Gewalt werden mit ihrem Leid und besonders mit ihren Ansprüchen ins Abseits gedrängt. Ein breiter öffentlicher Diskurs über die Fragen zu der den gesellschaftlichen Verhältnissen innewohnenden Gewalt wird so verhindert. Und auch darüber, was jeder Mensch braucht und was durch Gewalt und Trauma zerstört wird: Dazugehörigkeit; Gemeinschaft; Sicherheit; Vertrauen; klare Kommunikation; Sicherheit in den eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen; sichere Beziehungen; die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen.


Literatur

Heynen, Susanne: Vergewaltigt. Die Bedeutung subjektiver Theorien für Bewältigungsprozesse nach einer Vergewaltigung, Weinheim/München: Juventa-Verlag 2000.

Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie, Heidelberg: Springer 1946.

Re.ACTion: Antisexismus_reloaded, Münster: Unrast-Verlag 2007.

Schellong, Julia: Worte für Unsagbares - Psychische Folgen sexualisierter Gewalt und Anforderungen im Strafverfahren, in: Stadt Wien (Hg.): Konferenzband. Selber schuld!? Sexualisierte Gewalt - Begriffsdefinition, Grenzziehung und professionelle Handlungsansätze, Wien: Stadt Wien, MA 57 2012, S. 57-62.

Sommerauer, Andrea: Steter Tropfen höhlt den Stein, in: Moser, A./Wassermann, F. (Hg.): Narben. Kunstprojekt zu sexueller Gewalt, Innsbruck: Studien-Verlag Ges.m.b.H. 2011, S. 215-223.

Spangenberg, Ellen: Dem Leben wieder trauen. Traumaheilung nach sexueller Gewalt, Düsseldorf: Patmos-Verlag 2008.

Thürmer-Rohr, Christina: Verlorene Narrenfreiheit Essays, Berlin: Orlanda Frauenverlag 1994, S. 142-153.

Thürmer-Rohr, Christina: Mittäterschaft und Entdeckungslust. Zur Dynamik feministischer Erkenntnis, in: Studienschwerpunkt Frauenforschung (Hg.): Mittäterschaft und Entdeckungslust, Berlin: Orlanda-Frauenverlag 1990.

*

Freundliche Gewalt

von Martin Scheuringer

Dem ausgebildeten eingewobenen Subjekt der kapitalistischen Weltordnung erscheinen die mit der abstrakten Arbeit einhergehenden Grässlichkeiten Krieg, Land Grabbing, Mobbing, Beschleunigung etc. als Folge unzureichender Vermarktung der sozialen Beziehungen sowie ihrer Trägereinheiten. Ungeheuerliche Mengen psychischer und physischer, latenter und manifester, chronischer und akuter Gewalt werden meist nicht wahrgenommen, selten ernst genommen, aber niemals ursächlich mit dem Kapitalismus in Verbindung gebracht.


Zähmung einer Delusion

Falschen Begründungen für Gewalt ist Tür und Tor geöffnet: Sie entstünde im schlecht erzogenen, seine Gefühle nicht beherrschenden Individuum. Voller Sorge vermeint ein von einer solchen Annahme geprägter Erwachsener Gewalt unterbinden zu können, wenn er die Äußerung aggressiver Gefühle bei Kindern verbietet. Voller Eifer werden die vermeintlichen Ursprünge von Krieg und Terror bekämpft, indem Kindern untersagt wird ihren Zorn, ihre Wut, ihren Frust oder ihren Hass zu zeigen. Voller Verblendung unterdrücken so aufgeklärte Erwachsene wesentliche Reaktionen ihrer Kinder auf die Zumutungen ihrer Einpassung. Durch Tabuisierung von Aggression wird mit Gewalt eine gewaltförmige Herrschaftsweise reproduziert. Kinder, die in einer bunten, glitzernden, von Spielzeug angefüllten Welt aggressiv auf die für sie unerträgliche Forderung der Subjektivierung reagieren und den kleinen Spielwaggon gegen die Wand schleudern, sind für Erwachsene kaum zu ertragen. (Vgl. Creydt, Streifzüge 60, S. 39)

Konform zum überlagernden dichotomen Bewertungsschema teilt das Subjekt seine Gefühle ein, wobei die guten (Fröhlichkeit) in die Scheinwelt des Distributionshimmels gehören und die schlechten (Neid, Zorn, Hass, Frust, Wut) im rückständigen Rest lokalisiert werden. Die als negativ abgewerteten Gefühle grantiger Kinder hätten in China, Brasilien oder Indien ihren berechtigten Ort, dort gibt's ja Armut, Gewalt und kein Spielzeug, da darf das Kind schon mal wütend sein. Unfähig die Berechtigung des Zorns über die erzieherischen Zumutungen von Eltern und Institutionen erkennen zu können, schaffen es Erwachsene nicht, mit dem Kind während einer aggressiven Situation in empathische Beziehung zu treten. Stattdessen wird mit einem apodiktisch vorgebrachten "Wir dulden hier keine Gewalt!" das zornige Kind zum Verstummen gezwungen. Durch diese vom erwachsenen Standpunkt aus nicht diskutable Verneinung seiner Wut wird das Kind als gesamte Einheit abgewertet, denn es kann zwischen sich und seinem aggressiven Verhalten nicht unterscheiden: Die Botschaft in den Ohren des Kindes ist: "Du bist nicht in Ordnung!" Dies ist eine gewaltsame Verletzung der Integrität des Kindes, weil sein Anliegen und sein Signal zur Kommunikation über seinen Frust nicht ernst genommen werden, weil seine persönlichen Grenzen übertreten werden und weil es mit der Drohung der Verbannung aus der Gemeinschaft konfrontiert ist. (Vgl. Juul, S. 46)

Wenigen Erwachsenen ist diese Tragweite ihres Aggressionstabus bewusst, weil sie meinen, in zivilisatorischer Manier mit Moral gegen die vermeintlich gewaltsame Natur des Menschen vorgehen zu müssen. So wird die brutale Niederschlagung des kindlichen Aufstandes - der doch nichts anderes als einen Versuch des Kindes darstellt, mit den Erwachsenen ins Gespräch über die eigenen Bedürfnisse zu kommen - zum hochmoralischen Auftrag und Programm. Demzufolge lenken sie wütenden Protest in geordnete rationale Bahnen. Doch in Wirklichkeit kanalisieren sie nicht die wilden Auswüchse einer zu beherrschenden Natur, sondern sie versenken eine Individualität gesamthaft im Kanal. Dem Kind wird klar, was dem Agenten des Systems nicht mehr ins Bewusstseins kommt - man könnte es so formulieren: "Du bist nur dann Teil unserer Gemeinschaft, wenn du deinen Frust in dir vergräbst, und dich mit diesem schönen Spielzeug da ablenkst. Wir geben dir ja so schöne Anreize. Nun sei ein folgsames Dividuum und nimm deine Rolle an: spalte ein wertabstraktes kalkulierendes Verhalten von deinem Bedürfnis, aktuellen Neigungen und Neugierden nachzugehen, ab und beherrsche dich damit. Wir haben dich lieb, unter der Bedingung, dass wir dir die Rüstung für das Wert-Imperium in dein Ich implantieren." "Die Kindererziehung verwickelt die Eltern in einen Widerspruch: Aus Liebe zu ihren Kindern stellen Eltern diese auf eine Welt ein, die in ihrer kapitalistischen Verfasstheit vielen menschlichen Belangen entgegensteht. Es gehe für die Kinder darum, ihre Chancen zu wahren oder zu verbessern. Das Bewusstsein des Gegensatzes ist durch die Liebe verstellt und die Liebe ist durch den Gegensatz doppelbödig." (Creydt, Streifzüge 59, S. 33)


Reizende Drohungen

Sollte das mit dem reizvollen Spielzeug als Köder (Belohnen und Strafen gehört zur bürgerlichen Subjektkonstitution) nicht klappen, weil Kinder auf der Wirklichkeit ihrer Gefühle, Bedürfnisse und Wahrnehmungen beharren, kann die bürgerliche Erziehung sehr viel listenreicher das Kind manipulieren. Mit nicht auffallendem Mobbing mobilisieren Erwachsene ihren tief verborgenen Ärger, um ihn zur Beherrschung zu verwenden. (Vgl. Juul S. 61). "Insgesamt können Eltern das Kind 'glauben machen, seine emotionalen Bedürfnisse würden befriedigt, während sie eindeutig unbefriedigt bleiben; indem man solche Bedürfnisse als unvernünftig, hemmungslos oder egoistisch hinstellt, weil die Eltern nicht in der Lage oder nicht bereit sind, sie zu erfüllen; oder indem man dem Andern einzureden versucht, dass er sich nur einbildet, Bedürfnisse zu haben, sie 'in Wirklichkeit' aber nicht hat, usw.' (Laing 1970, S. 286, s. auch S. 284). Das Empfinden des Kindes oder Jugendlichen lässt sich als Undank verstehen: 'Wie kannst du bloß unglücklich sein. Haben wir dir nicht alles gegeben, was du willst? Wie kannst du nur so undankbar sein, dass du sagst, du bist unglücklich, nach allem, was wir für dich getan haben, nach all den Opfern, die für dich gebracht worden sind?' (ebd., S. 278)" (Creydt, Streifzüge 59, S. 35) Durch untergejubelte Schuldgefühle soll das Kind seine Bedürfnisse selbst als falsch abwerten und zu sich auf Distanz gehen.

Ultima ratio kompatibel zur herrschenden Ordnung ist aber immer noch die Androhung Von Gewalt: "'Und wenn du nicht dann ...!' Dieser Satz wird sehr häufig von Erwachsenen verwendet, wenn sie Versuchen, unerwünschtes Verhalten von Kindern zu unterbinden. (...) [Eltern hängen am Erziehungskonzept des Industriezeitalters fest,] dem zu Folge es kein wichtigeres Ziel gibt, als Kinder angepasst und konform zu machen. Die Terminologie hat sich zwar der politischen Korrektheit angepasst, die dem Phänomen innewohnende Logik ist aber dieselbe geblieben: Wenn du meine Regeln nicht beachtest, werde ich entweder deine Integrität Verletzen oder dir die Zugehörigkeit verweigern. Das ist Aggression in Reinform! Und weil Kinder kooperieren, indem sie das Verhalten der Eltern nachahmen, führt dies sehr bald (oder zehn bis zwanzig Jahre später) zu destruktiver Aggression oder selbstdestruktivem Verhalten." (Juul, S. 51f)

Das wohlerzogene Subjekt bildet die Grundlage für die reibungslose Unterwerfung unter die Imperative der Arbeit. Nur brave, liebe Individuen, denen in der Kinderstube der Bezug zu sich selbst gründlich abgewöhnt wurde, werden in der Arbeit nicht furchtbar wütend und zornig werden. Viel lieber ertragen sie allen Frust, Ärger, Wut und Zorn und machen eine freundliche Miene zur grausigen Wirklichkeit. "Was können Kinder von defensiven, anämischen Erwachsenen lernen? Empathie? Liebe? Leidenschaft? Mitgefühl?" (Juul, S. 34)


Lächelnde Destruktion

"Die Gewalt der Freundlichkeit und Korrektheit" (Juul, S. 35) ist wesentlicher Bestandteil der Außenwirkung der Charaktermaske der Erwachsenen, mit der sie zu einer differenzlosen Identität verschmolzen sind. Es kann ihnen nicht mehr auffallen, dass sie den Kindern als Nicht-Ich gegenübertreten. "Die neuromantische Kultur hat es geschafft, Erwachsenen die Bürde aufzuerlegen, immer lieb, freundlich, verständnisvoll, sanft und zärtlich zu sein - eine menschenunmögliche Aufgabe." Juul, S. 33) Eltern sind permanent lächelnde Verkäufer der Charaktermaske. Erziehung, so will es der zivilisatorische Auftrag, ist ein Verkaufsgespräch. Die Kinder bemerken das und erfahren das als Kränkung. "Ist deine Anwesenheit durch dein Programm vergiftet, wird das jedes sensible Kind spüren und sich als Objekt deiner Manipulation betrachten." (Juul, S. 151)

Diese "Gewalt der Freundlichkeit" ist "jene Art getarnter Aggression und verbaler Gewalt, die die Älteren und Eloquenteren auf Kosten der Jüngeren und weniger Eloquenten leichten Herzens und offen austragen - ohne jedes Risiko, denn die wahre Natur dieser Form von Aggression offenbart sich nur über die Erfahrung der Schwächeren. Und da die Auskünfte der Schwächeren gewohnheitsmäßig nicht ernst genommen, geschweige denn gehört werden, setzt sich die Gewalt der Freundlichkeit und Korrektheit kontinuierlich fort. Doch gerade sie verletzt die Integrität der Kinder am stärksten." (Juul, S. 35f) Erwachsene sind die PR-Agentur des Kapitals, das in Freundlichkeit verpackt, aber letztlich mit Gewalt die Kinder zur Annahme der Rolle des reizbaren Homo oeconomicus in der Beziehungstragödie "Kapitalismus" zwingt.

Kinder sind außergewöhnlich scharfe Beobachter und Eltern sind die sie am heißesten interessierenden Objekte. Mit deren Gefühlen kennen sich Kinder oft besser aus als die Eltern selbst. Sie merken also, dass die Freundlichkeit nur oberflächliche Show für den Verkauf einer schlechten Beziehung und Maske ist, und beginnen an dieser Nötigung zu leiden. Darauf geben sie eine wertvolle Antwort ihrem Alter entsprechend: "Auf solche Umstände werden Kinder entweder mit aggressivem und/oder hyperaktivem Verhalten reagieren oder mit Resignation. Kinder kämpfen für die Aufmerksamkeit und Unterstützung, die sie brauchen, oder sie geben auf und werden zu 'gut funktionierenden' Individuen." (Juul, S. 18) Aggression ist ein Feedback auf die Art der Beziehung, das es zu entschlüsseln gilt - das gelingt nur im Gespräch mit den aggressiven Kindern. Juul gibt gute Hinweise, wie ein solcher Dialog für beide Beteiligten fruchtbringend geführt werden kann, und macht deutlich, dass Aggression, die immer wieder unterdrückt wird, sich später in Form von destruktiver und selbstdestruktiver Gewalt äußert.

Die destruktive Gruppe fallt auf und wird zu den Experten für deviantes Verhalten (Therapeuten, Ärzte) abgeschoben - ein lukratives Geschäft und zugleich eine gewaltsame Ausgrenzung aus der Gemeinschaft -, die selbstdestruktive Gruppe praktiziert bereits im frühen Alter Anpassung an die sozialen Verhältnisse. Die Aggression richtet sich nicht gegen die Welt und ihre Verfasstheit, sondern gegen das eigene Selbst und dessen Bedürfnisse, Wünsche und Begehren. Für die meisten ist das ganz unhinterfragt normaler Zustand und die gewünschte Folge von "Erziehung".


Poesie der Regungen

Was wäre das Gute, wenn wir lernen Aggression zuzulassen, damit sie nicht durch Tabuisierung in selbstdestruktive Bahnen oder offene Gewalttätigkeit gelenkt wird? "Eine wesentliche Funktion von Aggression ist, dass wir unsere persönlichen Grenzen mit ihr so ziehen können, dass andere sie respektieren." (Juul, S. 30f) Wir wären wohl weniger wie Lemminge, sondern Menschen, die stark genug sind, um Konflikte auszutragen, und wir hätten gelernt diese auszuhalten und mit Gesprächen sinnvoll zu lösen. Es gilt sich gemeinschaftlich als schöpfende und schöpferische Individualitäten auszuprobieren und in die Welt hinein zu verwirklichen. "Die gesamte emotionale Musik und Poesie, die wir in uns tragen, muss zum Klingen gebracht werden - einschließlich Gereiztheit, Frustration, Wut, Zorn und Hass." (Juul, S. 38)


Literatur

Jesper Juul: Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist, Fischer, Frankfurt am Main. 2013.

Meinhard Creydt: Stufen der Subjektivierung, Streifzüge 60.

Meinhard Creydt: Die sehr private Erziehung des Kindes, Streifzüge 59.

*

Bürgerliches und kriminelles Handeln

von Meinhard Creydt

Handeln "nach Recht und Gesetz" steht in Gegensatz zu kriminellem Handeln. Die bürgerliche Gesellschaft funktioniert normalerweise ohne kriminelles Handeln. Ihre Strukturen und ihre Lebensweise sind zugleich so beschaffen, dass aus ihnen starke Motive für kriminelles Handeln erwachsen. Einige von ihnen skizziere ich in diesem Artikel.


Menschen und Gegenmenschen

Der Vertrag bildet in der bürgerlichen Gesellschaft die Normalform der Geschäftsbeziehungen. Materialiter sind die Interessen der Vertrags"partner" oft voneinander verschieden oder einander entgegengesetzt. Im marktwirtschaftlichen Warentausch verfolgen die Teilnehmer ihren Eigennutz, ihren Sondervorteil, ihr Privatinteresse. Bei solcher Motivation für das Sich-Einlassen auf das Interesse des Anderen liegt es nahe, die Verknüpfung des Nehmens mit dem Geben zu lösen und das Nehmen betrügerisch mit dem Schein des Gebens zu erreichen oder es ohne jeden Schein von Reziprozität per Gewalt zu erzwingen. Dem unmittelbaren oder einseitigen Egoismus stehen die Reziprozitätsnorm und die Achtung der rechtlichen und staatlichen Voraussetzungen des Systems der Marktwirtschaft entgegen. Sie überwinden allerdings nicht die Ursachen, die aus Kooperation eine antagonistische Kooperation machen: Auf Märkten bildet "die wechselseitige und allseitige Abhängigkeit der gegeneinander gleichgültigen Individuen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang" (Marx 1974, 74). Jeder hat an dieser Wechselseitigkeit Interesse nur, "soweit sie sein Interesse als das des andren ausschließend, ohne Beziehung darauf, befriedigt. Das heißt, das gemeinschaftliche Interesse, was als Motiv des Gesamtakts erscheint, ist zwar als fact von beiden Seiten anerkannt, aber als solches ist es nicht Motiv, sondern geht sozusagen nur hinter dem Rücken der in sich selbst reflektierten Sonderinteressen, dem Einzelinteresse im Gegensatz zu dem des andren vor." (Ebd., 155f.)

Willkür bzw. die Durchsetzung des eigenen Zwecks ohne die Anerkennung des anderen Subjekts mit seinen Zwecken macht nicht den Regelfall der Transaktionen aus. Der Verzicht auf kurzfristige Vorteilsnahme, Übervorteilungen, Vertragsverletzungen oder offene Gewalt, aber bereits auch die Achtung der staatlichen Infrastrukturen der Marktwirtschaft (inklusive steuerlicher Abgaben) resultieren aus einem Kalkül: Im Unterschied zu einer Raub- und Abenteuerwirtschaft lassen sich die Privatinteressen in dauerhaften und gesicherten Bahnen langfristig ertragreicher befriedigen.

Zugleich gelten die "verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs" dem Individuum "als bloßes Mittel für seine Privatzwecke, als äußere Notwendigkeit" (Marx 1974, 6).

Im Verstoß gegen das Recht erscheint das Privatinteresse als Privatinteresse und übergeht, "dass das Privatinteresse selbst schon ein gesellschaftlich bestimmtes Interesse ist und nur innerhalb der von der Gesellschaft gesetzten Bedingungen und mit den von ihr gegebenen Mitteln erreicht werden kann; also an die Reproduktion dieser Bedingungen und Mittel gebunden ist. Es ist das Interesse des Privaten; aber dessen Inhalt, wie Form und Mittel der Verwirklichung durch die von allen unabhängigen gesellschaftlichen Bedingungen gegeben" (Marx 1974, 74). In der kriminellen Emanzipation des Privatinteresses vom System des Privatinteresses erscheinen die Objekte, auf die sich das Privatinteresse richtet, auf eine besondere Weise. Sie gelten nicht länger als eingebunden in gesellschaftliche Regelungen, die den Händewechsel der Objekte an bestimmte Bedingungen binden, sondern als Mittel, das der willkürlichen Verfügung des über diese Regelungen erhabenen Individuums unterliegt, das nicht von seiner Besonderheit absehen mag. Sind "das egoistische Subjekt, das Rechtssubjekt und die moralische Persönlichkeit die drei wichtigsten Charaktermasken, unter denen der Mensch in der warenproduzierenden Gesellschaft auftritt" (Paschukanis 1929, 134), so können sich diese Momente gegenseitig in die Quere kommen.

Bei kriminellem Handeln spielt die Vorstellung eine große Rolle, die Welt sei beherrscht von Trickserei, Abzockerei, Betrügerei und Gewalt. Dieses Weltbild setzt an Phänomenen der kapitalistischen Ökonomie an, nimmt sie aus ihrem Kontext heraus, isoliert und übersteigert sie. Bspw. erscheint der Gewinn im kapitalistischen Geschäftsleben dann nicht als eine Frage der Differenz zwischen der Bezahlung des Werts der Arbeitskraft und der von ihr tatsächlich erbrachten Leistung, sondern als Resultat von "Prellerei, List, Sachkenntnis, Geschick und tausend Marktkonjunkturen" (MEW 25, 835f. vgl. a. ebd., 54).

Für kriminelles Handeln ist der Mangel an Empathie für das jeweilige Opfer zentral. Empathie wird durch das kapitalistische Geschäfts- und Erwerbsleben untergraben (vgl. Lempp 1996, Vilar 1987). Die Indifferenz bzw. die Gegensätze zwischen den zentralen gesellschaftlichen Gruppen (z.B. zwischen Konsumenten und Produzenten, Laien und Experten) und die Konkurrenz in der modernen kapitalistischen Gesellschaft legen Misstrauen nahe und beeinträchtigen oder vergiften das gesellschaftliche Klima. "Der Umstand, dass in dieser Welt jeder dem anderen zum Konkurrenten wird und selbst bei zunehmendem gesellschaftlichen Reichtum es der Menschen in steigendem Maße zu viele gibt, verleiht dem typischen Individuum der Epoche jenen Charakter der Kälte und Gleichgültigkeit." (Horkheimer 1970, 146) Das abgeklärte Lob der großstädtisch-modernen Indifferenz übergeht die Verschränkung von Distanziertheit, Blasiertheit und Misstrauen mit "Antipathie", als "latentes und Vorstadium des praktischen Antagonismus" (Simmel 1957, 234). In der Konkurrenz entstehen en masse Motive für Menschenfeindlichkeit, insofern in der Konkurrenz "jeder dem andern im Wege ist, und jeder sucht daher auch alle, die ihm im Wege sind, zu verdrängen und sich an ihre Stelle zu setzen" (MEW 2, 306, s. a. ebd., 536). Der "egoistische Mensch" bzw. das "auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogene und vom Gemeinwesen abgesonderte Individuum" (MEW 1, 366) erscheint nicht als Ausdruck der Tatsache, "dass das Individuum nur noch als Tauschwert Produzierendes Existenz hat" (Marx 1974, 159), dass objektiv "Vergleichung an Stelle der wirklichen Gemeinschaftlichkeit und Allgemeinheit" (ebd., 79) herrscht. Vielmehr schreiben sich die Menschen gegenseitig "jenen bescheidenen Egoismus, welcher seine Beschränktheit geltend macht" (MEW 1, 389) als Menschennatur zu. Es geht um die Verkehrsform, in der die Mitglieder der Gesellschaft "mit kleinen Antipathien, schlechtem Gewissen und brutaler Mittelmäßigkeit sich gegenüberstehen" und eine "wechselseitige zweideutige und argwöhnische Stellung" zueinander einnehmen (ebd., 381). Für kriminell Handelnde ist der Gesichtspunkt überwertig, andere Menschen als Gegenmenschen aufzufassen, dies für natürlich zu erachten, jede über den Kampf aller gegen alle hinausweisende Moral als bloßen Schwächebeweis desjenigen zu bewerten, der zu anderem nicht imstande sei.


Selbstverortung per Vergleich

Ein weiteres, kriminelles Handeln ermöglichendes Moment ist die Verknüpfung des individuellen Selbstbewusstseins mit dem Erfolg in der Konkurrenz. Die eigene Position in der Konkurrenz wird entweder dem individuellen Geschick oder Verstößen gegen die Konkurrenz bzw. ihrem eingeschränkten Zustandekommen zugeschrieben. Inwieweit die Konkurrenten auf das Ergebnis Einfluss haben, hängt nicht allein von ihnen ab, sondern auch von der Zahl der Bewerber, den Renditeerwartungen bei Investitionen in der gleichen Branche oder anderen Geschäftsfeldern. Die Akteure halten sich in ihrer Froschperspektive an das Nächstliegende: Sich selbst. Der eigene Erfolg oder Misserfolg in der Konkurrenz wird zum Urteil über die eigene Person. Die notwendige Bedingung der Konkurrenz, dass eben überhaupt ihre Teilnehmer sich anstrengen, missrät zur hinreichenden Erklärung ihres Ausgangs: An der eigenen Leistung habe es gelegen - positiv oder negativ. Wer sich nicht in der Gesellschaft und in seiner Welt auffassen kann, sondern sich aus sich selbst heraus verstehen muss, versteht auch sich selbst nicht. Die Erklärung für den Erfolg missrät dann tautologisch: Über den Erfolg entscheidet die Erfolgsfähigkeit, "Gewinner" gewinnen, "looser" verlieren. Wer diese Verknüpfung verinnerlicht, dem stellt das Unterliegen in der gesellschaftlich maßgeblichen Konkurrenz auch das Selbstbewusstsein infrage. Mancherlei Bewusstseinsanstrengungen kommen nun in Gang, bis wenigstens das jeweilige Selbstbewusstsein nicht mehr am schlechten Stand seines Trägers in der Konkurrenz Schaden nimmt. Wenn erst einmal für das Individuum Erfolg und Misserfolg über den Wert der Person entscheiden, und umso weniger das Individuum Bewusstsein über wirkliche Verhältnisse hat, desto mehr müssen Gelegenheiten imaginärer Erfolge und entsprechender Selbstdarstellungen aufgesucht werden, um die Bilanz des Selbstbewusstseins in Ordnung zu bringen.

In diesem Horizont darf sich jeder mit jedem vergleichen und diverse Vergleichshinsichten ausmachen, so dass je nach Blickrichtung sich eine Perspektive finden lässt, in der man in dieser Konkurrenz dann doch obsiegt. Diese Konkurrenz verschiebt sich von den gesellschaftlich anerkannten Maßstäben in Geschäft und Arbeit zu eigenen, privat definierten Maßstäben. Allerhand Vergleiche, in denen Mann bzw. Frau dann schöner, klüger, stärker, menschlicher usw., in jedem Fall: besser dastehen, gehen mit der Abwertung anderer einher. In einem dritten Schritt wird die Konkurrenz gleich so definiert, dass man in ihr Sieger ist. Besonders bei jugendlichen, aber auch im sogenannten abweichenden Verhalten gibt es eine Tendenz dazu, sich neben der gesellschaftlich maßgeblichen Konkurrenz als Sieger zu behaupten und Auseinandersetzungen zu provozieren, bei denen man als Sieger bereits feststeht. Per körperlicher Gewalt etablieren jugendliche eine alternative Hierarchie. Andere meinen mit wiederum eigenen Werteskalen, in denen nun sie sich auszeichnen, die gesellschaftlichen Ansprüche vernachlässigen und sich ihnen entziehen zu können. Die gängigen Maßstäbe von Gerechtigkeit und Anstand in der Konkurrenz verlieren dort an Wert, wo die Kränkung des Selbstbewusstseins beim Misserfolg in der Konkurrenz wichtiger erscheint als die damit verbundenen materiellen Einbußen. Die Konkurrenz wird nun von diesen Anliegen getrennt und um das beraubt, was sie als Konkurrenz ausmacht: Dass es Sieger und Verlierer gibt. Nun geht es um die Entscheidung des Vergleichs rücksichtslos zugunsten der eigenen Person. "Die Absicht, unbedingt Sieger zu sein und als überlegene Person anerkannt zu werden, hat keinen anderen Inhalt als eben diesen. Diese (gewalttätigen - Verf.) Jugendlichen wollen ganz abstrakt die Überlegenen sein. Wo der Vergleich in der bürgerlichen Konkurrenz die Entscheidung über die Versetzung, einen Arbeitsplatz oder den Geschäftserfolg bringt, da kehrt sich bei ihnen alles um: Die Vergleichsinhalte - die Kleidung, die Gossensprache, die Körperkraft, die Waffen etc. - taugen nur soviel, wie sie das Ziel, im Vergleich den eigenen Sieg sicherzustellen, auch garantieren. Ihre Maßstäbe heißen also schlicht 'Sieg', 'Macht' über andere - ohne ein davon getrenntes 'wofür' und 'in welcher Hinsicht?' (Huisken 1996, 16)

Auch in einem ganz anderen, individualpsychologischen Paradigma (in seiner linken Variante) wird die Selbstverortung per Vergleich ein prominentes Thema. Alice Rühle-Gerstel nimmt Ulrich Becks Diagnose der Individualisierung 60 Jahre vorweg. Ihr Buch "Der Weg zum Wir. Versuch einer Verbindung Von Marxismus und Individualpsychologie" erschien zuerst 1927. "Die Neuzeit, in der die Bande des feudalen Systems mit seinen religiösen und ständischen Bindungen gesprengt werden, präsentiert sich als das Zeitalter reinster Individualisiertheit, in dem es nur noch Einzelne gibt. Die Forderung der Selbstverantwortlichkeit tritt an jeden als grässliche Gefahr heran. Die gegebenen Bedingungen, anstatt die Lösung der Aufgabe zu begünstigen, tragen im Gegenteil zu ihrer Erschwerung bei. Das kapitalistische Zeitalter mit seiner Staatsform der formalen Demokratie hat die individuelle Vereinzelung auf die Spitze getrieben. jedes Individuum fühlt sich als verhinderte Persönlichkeit und setzt seine Lebensrechnung auf der Basis eines Minderwertigkeitsgefühls an." (Rühle-Gerstel 1980, 123) Die getrennt voneinander existierenden, auf ihre Selbstverantwortung und Selbstbeschuldigung zurückgeworfenen, sich als Subjekte verstehenden Individuen vergegenwärtigen sich im Vergleich zu anderen. Die ihm zugrundeliegende abstrakte Qualität ist die der Über- oder Unterlegenheit, der Geltung und Macht. Es steht gewissermaßen zur Selbstvergegenwärtigung nur mehr "das Lineal mit dem Geltungsstreben" zur Verfügung (ebd., 130). Dann ist "die Geltungsposition eines jeden gefährdet durch die Geltungsposition seines Nebenmenschen. Das vertieft die individuelle Unsicherheit. Der Geltungsraum wird immer kleiner, da immer mehr sich hinein teilen wollen." (Ebd., 122) "Er sieht nur noch Überlegene, die ihm die beanspruchte Geltung streitig machen, und Unterlegene, die er mit der Begier nach Bestätigung des eigenen Geltenkönnens registriert. Die Beziehungen des Lebens verwandeln sich für ihn in Gegenbeziehungen." (Ebd., 83)

Sowohl Huisken wie Rühle-Gerstel beziehen die von ihnen zu Recht als zentrales Phänomen und Problem dargestellte Selbstverortung per Vergleich nicht ausreichend auf die Frage nach der menschlichen Gegenwart in der Gesellschaft. Mit dieser Frage werden grundlegendere Kontexte als das Zurückbleiben in der ökonomischen Konkurrenz oder der Mangel an Gemeinschaftlichkeit deutlich. Es handelt sich um das mangelhafte Verspüren der eigenen Sinne und Fähigkeiten in ihrer Betätigung als durch andere anerkannte Beiträge zu sinnvollen Prozessen von Produktion, Reproduktion, Care und Gesellschaftsgestaltung. Fällt diese sinnvolle Tätigkeit aus oder wird sie nur partikular und verzerrt möglich, so treibt die Menschen die Frage nach dem Wert ihrer eigenen Existenz und nach deren Gelingen um. Es existiert hier zugleich eine große Ungewissheit und die Angst, dass man es nicht nur "zu nichts bringt", sondern auch "nichts in einem steckt", auf das man stolz sein könne. Die Notwendigkeit dieses Stolzes resultiert nicht allein aus dem legitimen Bedürfnis nach Anerkennung der eigenen Sinne und Fähigkeiten, sondern auch aus der gesellschaftsformationsspezifisch zu erklärenden Existenz von Subjektivitätsformen wie der von "Identität" und "Subjekt". Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft stehen unter dem Druck, die Vermutung eigener Inkompetenz, Subalternität oder Machtlosigkeit (als Selbst- oder Fremdbild) zu entkräften und positiv so etwas wie einen Gegenbeweis ihres Gelingens anzutreten.


Der Machtkomplex

Die Lust am Unterwerfen, Niederringen, Untenhalten, an darauf bezogener taktischer Schlauheit oder Durchsetzungskraft bildet eine Möglichkeit, dieser Malaise vermeintlich zu entgehen. Solche Leidenschaften begünstigen eine Radikalisierung, die in kriminelles Handeln einmünden kann. Dominanz- und Überlegenheitsstreben werden erst in dem Maße unattraktiv, als die Vergegenwärtigung der eigenen Fähigkeiten und Sinne positiv im sozialen Stoffwechsel gelingt und nicht aus Mangel an solchen positiven Gelegenheiten ex negativo sich am Überwinden von Widerständen ausweisen "muss". Es ergeben sich andere Vergegenwärtigungen der eigenen Sinne und Fähigkeiten als solche im "Kräftmessen", die sich daran ausweisen, anderen "etwas zu sagen zu haben", andere zu "beeindrucken", jemand zu sein, gegen den niemand "ankommt" ("Dem kann keiner"). All diese Selbstverortungen setzen die Schwäche anderer voraus. Und wer sich in diesem Horizont bewegt, stellt das Gefälle, wenn nötig, erst imaginär oder praktisch her.

Zum Machtkomplex trägt ein weiteres Moment der Selbst- und Fremddeutung bei: Der Distinktion liegt die Vorstellung scheinhafter, aus sich selbst heraus begründeter und in sich selbst ruhender, also: autonomer Substanzen zugrunde als Form dafür, wie die Individuen ihre Fähigkeiten und Sinne als ihnen quasi endogen zukommende 'Gaben' auffassen (an Intelligenz, Nervenstärke, Belastbarkeit, Charakter, Schönheit, Erotik usw.). Eine solche Selbstauffassung verleitet dazu, aus der jeweiligen Dimension und Perspektive eine eigene Welt zu imaginieren. Das sich so auffassende Individuum bezieht dann die Gleichheit auf die Verkehrsregeln im sozialen Austausch, schreibt der qualitativen Differenz aber das Eigentliche seines In-der-Welt-Seins zu. Bereits Simmel bemerkte einen Gegensatz zwischen dem von ihm als "numerisch" bezeichneten Individualismus der Aufklärung und dem "qualitativen" Individualismus der Romantik (Simmel 1957, 267) und verbindet letzteren mit Arbeitsteilung und Konkurrenz. "Sobald das Ich im Gefühl der Gleichheit und Allgemeinheit hinreichend erstarkt war, suchte es wieder die Ungleichheit, aber nur die von innen heraus gesetzte." (Ebd., 265) In der Dimension der Qualität gibt es keine Konkurrenz, kein mehr oder weniger des Gleichen, sondern Rangunterschiede, die vermeintlich kein Gemeinsames kennen.

Im kriminellen Handeln spitzt sich die im alltäglichen individuellen Machtstreben bereits enthaltene Überzeugung zu, das Leben sei Kampf und in seinem Wesen "verletzend, ausbeutend, vernichtend" (Nietzsche). "Was das einzelne Lebewesen nicht überwältigen oder sich dauernd einverleiben kann, stößt es von sich ab; anderes nutzt es allein nach seinem eigenen Vorteil. So ist Leben in allen seinen Äußerungen ein Abschätzen und Vorziehen, ein unablässigeres Größer- und Stärker-werden-Wollen und dabei ein fortwährendes Abgrenzen auf Kosten anderer. ... Amoralität des Lebens. ... Es ist ein 'Kampf', ja ein 'Krieg', in dem das Schädliche so unentbehrlich ist wie das Nützliche und in dem es sinnlos ist, von 'gut' und 'böse' oder 'gerecht' zu sprechen. Denn das Leben ist die Gegeninstanz zur Moral schlechthin, es beruht 'auf unmoralischen Voraussetzungen' (Nietzsche)." (Gerhardt 1992, 86) Robert Musil im "Mann ohne Eigenschaften": "Im Kampf ums Leben gibt es keine denkerischen Sentimentalitäten, ... da ist jedermann Positivist."

Für die Täter spielen bei der kriminellen Handlung neben aller mit ihr verbundenen Umverteilung auch das Gefühl von Eigenmächtigkeit oder sogar das Allmachtsgefühl eine Rolle. Im Unterbieten bürgerlicher Standards lässt sich durch die Willkür wenigstens kurzzeitig eine Souveränität erreichen, von der gesetzestreue Bürger sonst meist nur träumen. Oft geht es beim Einbruch bspw. nicht allein um die Entwendung wertvollen fremden Eigentums. Die Willkür, mit der die fremde Wohnung zugerichtet wird, gibt dem Delikt ebenso einen "triumphalen Charakter" (Wulff 1987, 177) wie die Leichtigkeit, mit der Grenzen durchbrochen und Widerstände überwunden werden. Alles avanciert bei geschicktem Vorgehen zu dessen Spielmaterial. Der kriminellen Handlung wächst etwas von jenen Erfahrungen zu, die im Drogenrausch und in ästhetischen Praxen eine zentrale Rolle spielen. In beiden erweitert sich das Handlungsvermögen des Individuums imaginärerweise durch das fiktive Dekomponieren und Rekombinieren. Wulff beschreibt diese Vorgehensweise unter der Überschrift "Zerspielen" von der surrealistischen Malerei über Coppolas "Apocalyse now" bis zum Drogenrausch und zur Psychose. Die Spezifik der delinquenten Handlung liegt darin, nicht den Widerspruch zwischen Phantasie und Wirklichkeit oder Selbstverfügung und Fremdbestimmtheit aufzuheben wie in Rausch oder Psychose (ebd., 182), sondern den Widerspruch "zwischen Spiel und Ernst - zugunsten des Spiels" (ebd.). Es geht nicht mehr um die Verfügung über die Wirklichkeit, die nur imaginär stattfindet - wie in Rausch und Psychose. "In der Delinquenz wird man hingegen instandgesetzt, mit der Wirklichkeit so umzugehen, als sei sie bloßes Spiel." (Ebd.) Der idealtypische Verbrecher ist "homo ludens par excellence" (ebd.). Zu Verharmlosungen krimineller Handlungen (insbesondere auch bei Foucault) Vgl. Creydt 2010.

Kriminelles Handeln findet seinen Nährboden in zentralen Strukturen und Subjektivitätsformen der bürgerlichen Gesellschaft. In ihnen ist die Möglichkeit ihrer Verwilderung und Radikalisierung angelegt. Diese Prozesse bilden konstitutive Momente für das Entstehen kriminellen Handelns.


Literatur

Creydt, Meinhard 2010: Ambivalenzen gegenüber kriminellem Handeln , Telepolis, 12.7.2010, vgl. a.
www.meinhard-creydt.de/archives/235

Gerhardt, Volker 1992: Friedrich Nietzsche, München.

Huisken, Freerk 1996: Jugendgewalt - Der Kult des Selbstbewußtseins und seine unerwünschten Früchtchen, Hamburg.

Lempp, Reinhart 1996: Die autistische Gesellschaft. Geht die Verantwortlichkeit für andere verloren? München.

Marx, Karl 1974: Grundrisse zur Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin.

Paschukanis, Eugen B. 1929: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, , Wien, Berlin.

Rühle-Gerstel, Alice 1980: Der Weg zum Wir. Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie, München (zuerst Dresden 1927).

Simmel, Georg 1957: Brücke und Tor, Stuttgart.

Vilar, Esther 1987: Der betörende Glanz der Dummheit, Düsseldorf

Wulff Erich 1987: Zementierung oder Zerspielung - Zur Dialektik von ideologischer Subjektion und Delinquenz, in: Haag, W.F.; Pfefferer-Wolf, H. (Hg.): Fremde Nähe: FS Wuff, Hamburg.

*

2000 Zeichen abwärts

Rauch- und Gewaltfreiheit

Heute Morgen überkam mich folgender Gedanke: Mitmenschen, die durch Schmauch meine Kleidung zum Miachteln bringen, möchte ich künftig mit nicht besonders teurem Parfüm besprühen. Wenn ihnen das missbehagt, verweise ich auf den Genuss, den mir das mache, und dass es meine Freiheit beschränke, wenn ich darauf verzichten müsse. jetzt, nach dem Frühstück, geniere ich mich. Gewaltfrei ist solches Denken nicht. Die Raucher werden auf Flughäfen ohnehin schon in Plexiglaskäfige gesperrt, mit dem totalen Rauchverbot in Lokalen geängstigt und von Personalchefs als disziplinlos abgewertet. Außerdem sollten wir an globale Konzerne denken. Wenn wir Rauchwaren kriminalisieren, verklagen die uns vor einem transnationalen Gericht auf 234 Trilliarden Dollar Investitionsschutz.

Ich frage mich, ob ich radikalisiert worden bin. Wir leben ja gerade in zänkischen Zeiten. Ich würde nicht wagen, meine Parfümideen in den "sozialen" Netzwerken zu äußern. Schnell hat man entfacht, was der Amerikaner "Gacksturm" nennt. Zum Glück darf ich darauf hoffen, dass die Leserinnen der Streifzüge mit devianten Einfällen umgehen können. Am schönsten ist, dass mich niemand von Ihnen mit Schusswaffen heimsuchen wird, wenn ich schreibe, dass mich das Gaststättengerauche schön langsam nervt. Wahrscheinlich darf ich sogar sagen: Meinetwegen ginge es im Witzmilieu auch ohne nackte Prophetenärsche, vom stilistischen her, aber lasst uns alle weiter Worte wie "Prophetenärsche" verwenden.

Huch, habe ich mich verzettelt, hallo! Was ich eigentlich sagen wollte: Jeder Mensch hat das Recht auf ein bisschen Selbstzerstörung, also soll das Rauchen meinetwegen erlaubt bleiben. Aber bitte irgendwo ganz weit weg von mir. Das gilt besonders für die zwei Nachbarn, die mir den Gang vollpofeln. Hoffentlich lesen sie diese Kolumne, denn bei ihnen anzuklopfen und mich direkt zu beschweren, traue ich mich nicht.

D.M.

*

Die Gewalt des Faktischen

Ein anderer Blick auf einen alten Gegner

von Ilse Bindseil

Auf dem Spielplatz

Vor der untersten Stufe der breiten Holztreppe des Klettergerüsts steht ein Winzling, keine zwei Jahre alt, und tut ? nichts. Über ihm, auf Treppenmitte, hat ein Junge, knapp doppelt so alt und doppelt so groß wie er, den Gang hinunter unterbrochen und starrt ratlos auf das Hindernis, das sich vor ihm auftut. Noch trennen ihn fünf, sechs Stufen von dem Winzling, aber schon hält er inne. Was soll er machen, wenn er unten angekommen ist? Und was macht der Kleine? So absolut gefasst, wie er da steht, weiß man nicht einmal, ob er hinauf will. Schließlich, nach einer unerträglich langen Pause, setzt der Große seinen Weg fort, geht Stufe um Stufe hinunter, den Rücken zurückgelehnt, so als ginge er lieber nicht. Auf der letzten Stufe angekommen, dreht er sich in einer fast tänzerischen Pose, auf den Zehenspitzen und wie in Zeitlupe, um das Hindernis herum, kommt auf dem Boden an und läuft, ohne sich noch einmal umzudrehen, davon: Geschafft, aber nicht gewonnen, dem Sein ein Schnippchen geschlagen, aber nichts dauerhaft geregelt. Der Winzling, mit einem kaum erkennbaren Lächeln, das verrät, dass hier doch weniger ein Sein als eine Strategie im Spiel war, macht sich geruhsam an den Aufstieg und rutscht, oben angekommen und ohne einen Blick nach unten zu werfen, die Rutsche bäuchlings hinunter. Hinterher weiß man's: Er stand nicht nur da, er wollte hinauf.


Der bergische Fuhrmann

Begegnen sich im Bergischen - so jedenfalls wurde die Geschichte uns Schulkindern im Oberbergischen präsentiert - in einem Hohlweg zwei Fuhrwerke und können nicht aneinander vorbei. "Fahr zurück", ruft der eine, "du siehst doch, ich komme sonst nicht vorbei". "Fahr du doch zurück", ruft der andere. "Ich hab als erster gefragt", "mein Fuhrwerk ist breiter", "mein Recht", "meine Gäule", so geht es hin und her. Schließlich ruft der eine - oder war es der andere drohend: "Wenn du nicht auf der Stelle zurückfährst, dann passiert etwas, was du bereuen wirst, etwas Schlimmes, und dann ist es zu spät!" Eingeschüchtert dirigiert der andere seine Pferde zurück, bis er an eine Stelle gelangt, wo der Weg eine Ausbuchtung hat, so dass sie aneinander Vorbeikönnen. "Ich hab ja nun getan, was du wolltest", ruft er ihm, der geruhsam vorbeirollt, zu, "nun sag mir nur das eine, was hättest du getan, wenn ich mich nicht gefügt hätte?"

Wir Kinder hielten den Atem an.

"Ich hätte dich vorbeigelassen", ruft der andere und fährt lachend davon.

Wir beneideten ihn um sein Lachen.


Im Görlitzer Park stehen die Dealer und gehen nicht weg!

Es ist die Stunde der Augenzeugen, die wissen, was sie sehen, der Anwohner, die es tagtäglich erleben. Ohnehin ist es die Stunde der Meinungsstarken, die sich auf ihre Anschauungen wie auf ihre Sinne verlassen können. Noch in den Leserbriefspalten der bürgerlichen Zeitungen wimmelt es von einfachen Rezepten. Aber je länger sich die Sache hinzieht, desto mehr geht der Trend hin zu elaborierter Prosa und Poesie, großer Rhetorik, ja ironischen Elogen auf unsere "Brüder im Park", die sich in der Kälte ein Zubrot und damit unseren Respekt, ja unsere Zuneigung verdienen! Umso mehr wird aufgeboten, je unverhüllter das Paradoxon sich darbietet: Die Dealer müssen weg, und sie tun's nicht!

Die Rechtslage ist klar, aber das ändert nichts.

Vor dem kruden Faktum entwickeln die Empörten eine Krise, eine Seele, einen - Stil! Auf ihrem Weg in die Sublimierung bieten die Wohlmeinenden ihnen noch Hilfestellung. Sie, die sich als Gutmenschen verhasst machen, als Blinde (gegenüber den Tatsachen) und Blender (auf der Bühne der Demokratie), sind ja beredt. Das, wenigstens, kann man ihnen nicht: absprechen. So kann der übliche Kampf der Ideologien stattfinden, wenn auch mit einem Ersatzgegner, mit jemandem, der spricht, wobei die Sache verfehlt, die Fassade der Zivilisation aber aufrechterhalten wird. "Jetzt wird wieder endlos geredet", sagen die, die ins große Palaver eingestiegen sind, entnervt. Nicht bloß Fassade, ihrer Logik nach, die sich längst auf die Metaebene verschoben hat, wäre: Der Imperativ müsste gelten, die Dealer müssten weg. Aber auch das ist nur eine Art zu sprechen, eine Unterhaltungsform, denn im Irrealis, das geht ja nicht, und sie tun's ja auch nicht, um's herauszusagen, sie wollen, dass man ihnen etwas tut! (Dass sie unter Gelächter weichen könnten, der bloße Gedanke, siehe oben, macht schwindlig. Dann könnte man Entsprechendes ja von uns verlangen, o je!) In der wortreichen Auseinandersetzung greift die Überzeugung Platz, dass man mit denen, die stärker als Worte sind, härter als mit Worten verfahren müsste (im irrealen Modus der Unterhaltung: gleich/von Anfang an hätte verfahren müssen). So ergibt sich aus der Spiegelung des Sollens im Sein, auch aus der Spiegelung des Realen im Irrealen ein Überhang von Gewalt in der Vorstellung. Die Faktizität der Gewalt und die Gewalt der Fakten, das wird in der Vorstellung eins.

Vielleicht ist Gewalt ja ein Spiegelungseffekt. Redet soviel ihr wollt, aber lasst die Zivilisation außen vor, möchte man um des lieben Friedens willen verordnen.


Als man noch von Ex-Jugoslawien sprach

Damals geriet eine spezielle Seite des Faktischen ins Bewußtsein: dass man es genauso manipulieren kann wie die Meinung. Steht die Friedenskonferenz vor der Tür, dann nimmt die brutale Auseinandersetzung noch einmal einen Aufschwung. Bislang war jeder Gewinn vorläufig, zumindest ungesetzlich. Jetzt winken Recht und Ordnung. Was man heute in Besitz nimmt, das darf man morgen behalten, wen man heute vertreibt, den kann man morgen beerben.

Komisch, die Gewalt geht vom Frieden aus. Aber worauf soll der sich stützen, wenn nicht auf die Fakten, zumal wenn der Krieg sie geschaffen hat. Geht man vom Recht aus (sofern das möglich wäre), riskiert man Krieg auf einer höheren Ebene, nicht zwischen Haben und Wollen, sondern zwischen Sein und Sollen, und mit all der Härte, die sich aus dem Gefälle, auch aus der Umkehrung der Verhältnisse ergibt. Sollen die, die besiegt sind, Recht bekommen und die andern die Macht behalten? Schlimm genug, wenn aus dem Faktischen Recht wird. Schlimmer noch, wenn jemand demonstriert, dass er die Macht hat zu wissen, was Recht ist. Lieber übt man sich in Pragmatismus und gibt dem Recht, der ohnehin der Stärkere ist. Sein Recht provoziert einfach weniger.

Als Ausnahme von der Regel verstand sich von je der Strafgerichtshof in Den Haag, der dem Recht durch die Aufrechterhaltung der Androhung strafrechtlicher Verfolgung - Aufhebung der Verjährung usw.? das Gewicht eines Faktums zu geben versuchte. Das Problematische an ihm füllt Bände.


Sich wegtragen lassen

1967: Wir haben alles Recht auf unserer Seite, aber wir sind kein Faktum; für die BILD-Zeitung vielleicht, aber nicht für uns. Wir machen eine Anleihe bei den Praktiken des gewaltlosen Widerstands, ohne uns zu fragen, ob wir dazu das Recht haben, und lassen uns wegtragen. Erstaunlich, dass ausgeführt wird, was wir uns ausgedacht haben. Wir haben uns ausgedacht, dass uns etwas zugefügt wird, und es klappt! Das ist eine erotische Erfahrung, kein Zweifel, wie sie aus gemeinsamer Verabredung entsteht. (Hoffentlich vergisst auch die andere Seite nicht, dass wir eine Verabredung haben.) jemand trägt uns, der Bezug geht von Körper zu Körper, vom eigenen Körper zum Staatskörper; in der Aufregung ist der Mythologisierung keine Grenze gesetzt. Sagenhaft, dass ausschließlich der Körper getragen wird, der Verstand kann sich derweil ein Liedchen trällern. (Hoffentlich trällert der Staat auch.)

Wird man auf diese Weise zum Faktum? Ja und nein. Vielleicht doch eher zur "Sache", wie Thomas Hettche über die Zwergin sagt (Pfaueninsel, 2014). Wenn z.B. die Berliner Polizeiführung mit dem "Schwarzen Block" der Autonomen rechnet, als wäre er eine Tatsache, die man ebenso ins Kalkül einbeziehen muss wie die Interessen der Anwohner oder die Stimmung der Öffentlichkeit, dann kann man sagen: ja. Wenn man aber bedenkt, dass alles am seidenen Faden des entschlossenen Willens hängt - weshalb übrigens die Auflösung-in-aller-Form, die Selbstauflösung, eine in Mode gekommene Erscheinung ist?, dann lautet die Antwort eher: Nein.


Zurück auf dem Spielplatz

"Nun rutsch doch endlich!", der Ruf genervter Eltern signalisiert, dass die Ordnung in Gefahr ist. Wer oben auf der Rutsche steht, in dessen Position verbinden sich die Funktion der Rutsche und seine eigene Absicht zum Faktischen. Eigentlich befindet er sich in der Pole-Position, kann die synthetische Einheit des Faktischen für sich in Anspruch nehmen. Aber was, wenn es nichts nützt? Wenn sich trotzdem ein Hindernis auftut? Ratlos steht der Kleine oben und blickt auf den Kleinen unten. "... das Kind!" stammelt er, so als handelte es sich um eine andere Gattung, grundlos böse vielleicht, unvorstellbar stark, überhaupt unvorstellbar. Er kann nicht einmal unterscheiden, was ihn mehr intrigiert: dass es da ist oder dass es nicht weggeht. Am Fuß der Rutsche lümmelt es herum, häuft vertieft Sand auf das Blech oder tut gar nichts. In seiner harmlos-hinterhältigen Art hat es sich das Faktische angeeignet und "dem da oben" die Ordnung überlassen. "Nun rutsch doch endlich!" rufen die Eltern, die von ihrem Kind erwarten, dass es zustande bringt, was sie selbst nie schaffen würden: das Recht ins Faktische zurückzuübersetzen, die zersprengten Verhältnisse neu zu vermitteln. Schon fühlen sie den Druck der andern Eltern, beschimpfen ihr eigenes Kind oder heben im Affekt das fremde hinweg. Das könnte sie teuer zu stehen kommen. "Fassen Sie mein Kind nicht an!"

Kinder empfinden nicht den unerbittlichen Zwang der Erwachsenen, etwas Angefangenes zu Ende zu bringen, sie haben nicht diese absolute Hemmung zu weichen. Auch manche Eltern, vom Spielplatz sekundär erzogen, können sich fügen, lassen aber meist die Heiterkeit des bergischen Fuhrmanns dabei Vermissen; zu sehr gleicht die Situation auf dem Spielplatz dem realen Leben: "Na, dann rutschst du eben später." In dem Moment, in der Regel, trollt sich der Gegner.


Die Gewalt der Vernunft...

Gegen die Gewalt des Faktischen wird die Vernunft mobilisiert. Aber in dem Moment, wo sie mobilisiert wird, ist sie nicht mehr vernünftig. Gegenüber dem Faktischen tritt sie mit dem Anspruch auf eigene Faktizität, als Forderung auf. Sie verweist nicht nur auf die Regeln, sondern will sie auch angewendet wissen. Vor allen Dingen will sie. So verwandelt, erlebt sie sich als ohnmächtige Wut (wie soll sie auch stark sein, wo sie doch Vernunft ist). Nur eins will sie, nicht länger ohnmächtig sein (nicht etwa: wieder vernünftig). Die Macht des Faktischen dagegen erlebt sie als Übermacht; bloß dies, dass es da ist, erlebt sie als Demonstration von Macht. Die eigene Dynamik überträgt sie auf den Gegner: unbesiegbar muss er sein.

Im Glanz der angesonnenen Unbesiegbarkeit wächst das Dasein der Dealer sich zur Nonchalance aus. Je weniger sie reagieren, desto unbesiegbarer werden sie. Allein, dass sie da sind, stellt ein skandalöses Trotzdem dar, das sich nur mit jener Mischung aus Ungeniertheit und blanker Unverschämtheit erklären lässt, für deren Bezeichnung die deutsche Sprache auf das fremde Wort Chuzpe zurückgreifen muss. Aber der Aufwand lohnt sich, schließlich geht es um die Lieblingsphantasmagorie der gehemmten Wut: dass das Recht zur "Witzfigur" verkommen ist, über das die Dealer sich "locker" hinwegsetzen.


...und die lautlose Gewalt des Seins: ein Fake

Das wären wir gern: unbesiegbar, weil wir sind, und die Meditationskurse, die uns auf den Teppich unseres Seins zurückbringen sollen, können sich über mangelnden Zuspruch nicht beklagen. Einmal so lachen können wie der bergische Fuhrmann! Die Autorität des Winzlings auf dem Spielplatz ist kein Schein, auch wenn er lediglich nicht an die Folgen denkt, während er für die andern geradezu die Verkörperung der fatalen Folge ist, das, was einen einholt, wenn man sich nicht rechtzeitig vorgesehen hat. Wer mehr als die andern im sogenannten Heute lebt, der ist von der Aura des Seins umgeben. Ins Heute gebannt, ist es freilich das Gegenteil des Seins, wie es den meisten vorschwebt: als, mindestens, Ewigkeit! Wenn in den buddhistischen Anekdoten die Erleuchtung sich durch einen Knall einstellt, dann, weil in diesem Augenblick die Illusion der Ewigkeit zertrümmert wird. Das geht nicht geräuschlos ab.

*

Und was wäre dann Befreiung?

Geschlechterrollen zwischen Zuschreibung und Machtressource

von Andreas Exner

Die Debatte um die Gleichstellung von Frauen und Männern ist inzwischen in praktisch alle Institutionen des öffentlichen Dienstes und teilweise auch der Privatwirtschaft eingeschrieben. Es gibt Gleichstellungsbeauftragte, Frauenberatungsstellen und Förderprogramme für Frauen. Politische Parteien thematisieren in unterschiedlichem Ausmaß die immer noch divergierenden Lebenslagen und Einkommensniveaus Von Frauen und Männern. So genannte Genderfragen sind Teil des öffentlichen Diskurses.

In Hinblick darauf dominiert die Sicht, dass es lediglich einiger Reformen bedürfte, um Frauen und Männer gleichzustellen. Die stärker linksorientierten Strömungen pochen dann noch pointierter auf den Abbau Von Normen, die sich am biologischen Geschlecht festmachen. Das scheint gegenwärtig den Inbegriff "geschlechtlicher Emanzipation" darzustellen: Frauen und Männer sollen unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht ihre Lebensentwürfe, Liebesweisen und so weiter wählen können. Die Grenzen zwischen "Mann" und "Frau" sollen dekonstruiert werden, so fordert die queer-feministische Debatte. Zugleich dürfe es keine Benachteiligung von Frauen in ökonomischer Hinsicht geben, was eine gleiche Aufteilung von Hausarbeit einschließe. Dieser Sicht unterliegen zwei Annahmen:

• Erstens jene, dass Identitäten grundsätzlich nicht sexuell bestimmt sein sollen, sich also nicht am biologischen Geschlecht festmachen dürfen und müssen.

• Zweitens jene, dass der Kapitalismus mit einer Gleichstellung und Ent-Normierung im oben genannten Sinn vereinbar ist; wiewohl in der queer-feministischen Debatte auch kapitalismuskritische Strömungen wichtig sind.

Diese beiden Annahmen sind durchaus bemerkenswert. Die letztere, weil es vor allem in früheren Jahren eine starke - wenngleich minoritäre - Argumentation gegeben hat, die Kapitalismus in engem Zusammenhang mit patriarchalen Strukturen gesehen hat; nicht als "Nebenwiderspruch", sondern in einer inneren Verschränkung Von Patriarchat und Kapital. Die erstere, weil man durchaus die Frage stellen kann, ob die angestrebte Ent-Normierung nicht eine neue Form von Normierung ist. Denn die Auflösung von (traditionellen) Geschlechterrollen Versetzt die Individuen in einen Zugzwang, was ihre Selbstdefinition angeht. Dies passt in das postmoderne Selbstverständnis des Menschen, wonach jede und jeder "des eigenen Glückes Schmied" sei und sich ihren oder seinen Lebensentwurf kreativ, flexibel und "authentisch" schaffen solle. Identitäten sollen als selbstgewählt erscheinen und stellen sich über "individuelle" Stilkombinationen her.

Insbesondere queer-feministische Debatten betonen die Konstruktion des sozialen Geschlechts als "Gender" (im Unterschied zum biologischen Geschlecht, englisch dem "Sex") und weitergehend auch die des biologischen Geschlechts. Diese Konstruiertheit wird zum Anlass der Kritik genommen. Konstruiertheit wird hier mit Willkür übersetzt und zugleich mit einer repressiven Formierung von Menschen. Demgegenüber könnte man freilich ebenso argumentieren, dass auch die Angleichung der sozialen Geschlechter, also die Aufhebung der Unterschiede zwischen sozialen "Männern" und "Frauen", und die Ablösung der biologischen Geschlechtskonstruktion eine Konstruktion darstellt. Man könnte folgern, auch diese Konstruktion sei willkürlich und - je nach Prämissen - repressiv.


Die postmoderne Norm

Der Einwand liegt nahe", dass es ja nicht um eine zwangsweise Auflösung von traditionell erscheinenden Männer- und Frauenidentitäten gehe, sondern um eine Wahlfreiheit. Dennoch ist genau diese "Wahlfreiheit" Teil einer eingrenzbaren Subjektkultur, also eines bestimmten, heute dominanten und als solches erneut (scheinbar) alternativlosen Menschenbildes. Darin erscheinen traditionelle Männer- und Frauenidentitäten per se als rückständig, rigide, unkreativ oder jedenfalls langweilig. Das Bild der "selbstbestimmten Geschlechtsidentität" hebt sich positiv erst vor einem abgewerteten Bild einer "fremdbestimmten", weil traditionellen Geschlechtsidentität ab.

Die Inhalte der "freien Wahl des Lebensentwurfs" der postmodernen Identität erscheinen kontingent. Man kann zwischen einem Dasein als Single, Wochenendpaar, in klassischer Zweierbeziehung mit und ohne Kinder, als patchwork-Familie, in polyamoren Beziehungsnetzwerken, in romantischer oder a-romantischer Prägung, sexuell oder a-sexuell, mit homo-, hetero-, und bisexuellen Identitäten - oder all dies in wechselnder Folge "wählen". Leitlinie dafür ist unter postmodernen Gesichtspunkten die "Authentizität" und der "kreative Selbstentwurf". Dabei handelt es sich jedoch zugleich mehr oder weniger insgeheim vor allem um denjenigen "authentischen Entwurf", der kulturell oder subkulturell prämiert wird.

Während die Inhalte der "freien Wahl des Lebensentwurfs" also scheinbar eine große Vielfalt erlauben, ist der Modus der "rationalen" und zugleich "kreativen" Wahl selbst für die typisch postmoderne Identität in der Tat alternativlos. Unter den Voraussetzungen der postmodernen Identität kann man nicht nicht wählen. Dabei beruht diese Identität gerade nicht auf einer "freien Wahl", sondern erweist sich als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, die weit über bewusstes Wollen hinausreichen: von der Dominanz der Marktideologie, die entsprechend soziale Beziehungen als einen sozialen Markt konzipiert, bis hin zum Mediengebrauch. Das Internet etwa lässt kaum eine konzentrierte, an einem Werk orientierte und kohärente Verarbeitung von Inhalten zu. Diese Technologie führt unter den Bedingungen der postmodernen Lebenshaltung, Identität und Selbstkonzeption zu einer Praxis des Copy und Paste, zu einer rasch wechselnden "individuellen" Kombination von Sinnfragmenten und zu einer explorativen (im Unterschied zu einer im engen Sinn ökonomischen) Wahl von Inhalten, die auf "authentische" Weise neu und "kreativ" arrangiert werden.

Jede Identität lebt von der Abgrenzung zu einem abgewerteten Außen. Von daher erweist sich, wie erwähnt, der scheinbar "fremdbestimmte Lebensentwurf" als defizient und der Veränderung bedürftig. Von daher auch erscheinen beispielsweise starke emotionale Verhaftungen oder traditionsbezogene Nostalgien als pathologisch, willkürlich, oder in weiterer Folge als repressiv und zwangsförmig.

Wie in jeder Subjektkultur, die eine bestimmte Identität generiert, verschwindet der historisch spezifische Gehalt einer solchen Formierung und wird naturalisiert, wie der Soziologe Andreas Reckwitz in "Das hybride Subjekt" ausführlich aufgezeigt hat. Wie in jeder Subjektkultur wird "der Mensch" auch in der Postmoderne auf bestimmte Weise konzipiert, die scheinbar "der menschlichen Natur" entspricht. Der Modus der "freien Wahl des Lebensentwurfs" ist in dieser Konzeption daher genauso unhintergehbar wie das Befolgen traditioneller Rollenvorschriften und Selbstverständnisse in einer früheren Epoche. Zugleich wird, was der Mensch angeblich "von Natur aus ist", als eine Anforderung implementiert. Kreativ und im Sinn der eigenen persönlichen "Entfaltung" Geschlechtsidentitäten, Beziehungen und anderes zu "wählen" ist selbst nicht Gegenstand einer "freien Wahl", sondern eine kaum hinterfragbare Norm.

Dies zeigt sich nicht nur auf der Ebene von Geschlechterrollen, geschlechtlichen Zuschreibungen und Beziehungsverhältnissen, sondern ähnlich auch in den Arbeitsverhältnissen. Unter anderen kulturellen Bedingungen wurde das Verfolgen eines konzentrierten Lebenslaufs, der sich an traditionellen Vorgaben orientierte und von emotionalen Verhaftungen an ein Handwerk oder eine Kompetenz begleitet war, prämiert: als moralisch integer oder als einer sozialen Anpassung an die Standards einer Gruppe oder eines Standes verpflichtet. Unter postmodernen Bedingungen dagegen kann dies leicht als eine unkreative Rigidität, als realitätsfremde Borniertheit oder eine defizitäre Konventionalität erscheinen, welche die eigene employability bedroht.

Dies hat nicht mit einer so genannten Zumutung der "Freiheit" zu tun, die notwendigerweise spezifische Anforderungen impliziere, deren sich "der Mensch" als "reife" oder "emanzipierte Persönlichkeit" stellen müsse und auch könne. Vielmehr erweist sich die postmoderne "Wahlfreiheit" unter den Voraussetzungen einer beständigen "Suche nach dem eigenen Selbst" als eine rigide Tiefenstruktur. Diese bedeutet auch eine Reihe von Anforderungen oder Zumutungen. Allerdings nicht die einer historisch unspezifischen "Freiheit", die eine "Emanzipation" mit sich brächte.


Die Lust an der Identität

Wie in jeder Subjektkultur ist auch die postmoderne Identität keineswegs und immer nur offensichtlicher Zwang. Sie operiert stattdessen vorrangig mit einem Ideal-Ich, das ein Individuum anstrebt. Eine gelingende Identifikation mit dem Ideal-Ich wird als Lust oder Glück erlebt. Dieser Mechanismus stabilisiert die Anforderungen einer historisch bestimmten Identität und äußert sich als eine leidenschaftliche Verhaftung.

Folglich kann die Norm traditioneller Geschlechterrollen von bestimmtem Standpunkt aus betrachtet auch als eine Entlastung von "Wahlfreiheit" oder vielleicht sogar als Voraussetzung von geschlechtlichen Beziehungen erscheinen, die "glücken" - wenn dafür eine gewisse längerfristige Passung von Erwartungen für notwendig gehalten wird. Die bloß individuelle Aushandlung solcher Erwartungen kann dafür in der Tat kaum einen institutionellen Rahmen bieten. Und diese spezifische Norm kann als eine mögliche Quelle der Lust wahrgenommen werden, wie Robert Pfaller in "Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft" meint: "Keine Identität lässt die Individuen jemals einfach mit sich selbst zufrieden; von jeglicher Identität gehen Forderungen aus. Sie lauten: 'Wenn du das sein willst, dann musst du es so und so machen.'" - und er fährt fort: "Daraus ergeben sich in der älteren, schon fast in Vergessenheit geratenen Sprache die auffälligen, für die Differenz zwischen biologischem Geschlecht und sozialer Geschlechterrolle aufschlussreichen Formulierungen wie 'die Kunst, eine Frau zu sein' oder 'sei ein Mann!' Zugleich deuten sie an, inwiefern aus der Auseinandersetzung mit der Identität Lust gewonnen werden kann: nämlich indem das, was der Identität entspricht, gut gemacht wird ... Übrigens braucht man es dabei nicht bis zur Weltmeisterschaft zu bringen: Freude entsteht schon, wenn etwas heute besser gelingt als noch gestern."

Anders als Pfaller meint, gelten diese seine Bemerkungen allerdings für die postmodernen flexibel-kreativen Identitäten ebenso wie für die von ihm favorisierten. Und anzumerken ist weiterhin, dass eine institutionalisierte Rollenerwartung sich freilich nicht in traditionell erscheinender Form darstellen muss. Der postmodernen Identität entspricht auf der Ebene von Liebesbeziehungen eine Rollenerwartung im Sinn einer "Kreativitätsgemeinschaft auf Zeit", wie Andreas Reckwitz dies nennt. Diese Rollenerwartung ist mit besagter "Wahlfreiheit" beschäftigt, die sich tief in davon geprägte Beziehungen einschreibt.

Davon abgesehen unterschätzt Pfaller womöglich die Tiefenstruktur der postmodernen Subjektkultur. Weil man in ihr nicht nicht wählen kann, kann auch ein scheinbar traditioneller "Rollenentwurf" nicht länger traditionell sein, sondern erscheint als Gegenstand einer Wahl - für die Individuen, aber auch für die soziale Umwelt.

Andreas Reckwitz verweist entsprechend auf eine übergreifende kulturelle Problemstellung der Moderne überhaupt: nämlich die Frage der "richtigen Subjektform", das heißt der "richtigen Art, ein Mensch zu sein". Diese Frage war in früheren Zeiten nicht derart zentral und wurde in unterschiedlichen sozialen Gruppen je unterschiedlich beantwortet, ohne dass diese Strategien einer Universalisierung oder Naturalisierung ihrer Subjektkonzeptionen anstrebten. So betrachtet erweist sich die Moderne als kulturell homogener im Vergleich zu früheren Kulturepochen.


Die Fortschreibung des binären Geschlechtercodes

Tatsächlich scheint die symbolische Ordnung der Geschlechter als binäre Struktur von Mann und Frau auch in queer-feministischen Praktiken des Überschreitens von Geschlechtergrenzen und des Durchmischens von Gender-Attributen intakt. Männer sind heute in den westlich-kapitalistischen Gesellschaften der Postmoderne "feminisiert", wie Studien von beispielsweise Eva Illouz argumentieren. Und Frauen können heutzutage auch durchaus "viril" auftreten. Figuren wie Conchita Wurst spielen zwar mit der strikten Trennung von "männlich" und "weiblich". Dennoch ändert das wenig an dem Umstand, dass Conchita als eine "Frau" erscheint - da machen weder Bart noch biologisches Geschlecht einen großen Unterschied. Die Wirkmacht der binären Geschlechterordnung zeigt sich sogar noch bei biologisch androgynen Menschen. Trotz der uneindeutigen beziehungsweise biologisch eindeutig zwittrigen Merkmale wirken diese entweder eher "weiblich" oder aber eher "männlich". Auch in der fantasievollsten Kreation des "Gender-Bending" ist es möglich und oft auch leicht, "weibliche" und "männliche" Genderattribute, Versatzstücke des sozialen Geschlechts zu unterscheiden.

Die binäre Geschlechterordnung scheint auch weitgehend unabhängig von der sexuellen Orientierung zu sein. Schwule Männer können eher "feminin" oder eher "viril" wirken, ebenso wie lesbische Frauen eher "feminin" oder "burschikos" und "männlich".

Könnte eine weitere Verbreitung und gesellschaftliche Routinisierung des "Gender-Bending" letztlich doch den binären Geschlechtercode auflösen? Wäre das eine "Befreiung"? Wenn ja, wovon? Und welche neuen "Zwänge" könnten damit einhergehen?

Würde das "Gender-Bending" und das "Queeren" der sozialen Geschlechterrollen und Geschlechtsattribute dann noch das durchaus als lustvoll empfundene "Spielmaterial" des "Weiblichen" und des "Männlichen" vorfinden, würde es tatsächlich zu einer Auflösung des binären Geschlechtercodes führen (können)?

Dabei wäre freilich zu bemerken, dass Gender, das soziale Geschlecht also, und der damit verkoppelte binäre Geschlechtercode durchaus nicht unbedingt universelle Kategorien aller Gesellschaften darstellen dürften - zumindest in der herausgehobenen, gesellschaftliche Verhältnisse strukturierenden Bedeutung wie im Westen. Jedenfalls wurde diese Kritik prominent von der afrikanischen Anthropologin Oyeronke Oyewumi formuliert. Sie verortet im westlichen Gender-Feminismus selbst eine problematische Universalisierung historisch spezifischer Kategorien, worunter ihrer Meinung nach die des Gender fällt. Dies analysiert sie mit Bezug auf die Yoruba-Gesellschaft in Nigeria.

Es wäre Wohl erst noch eingehender zu untersuchen, ob der binäre Geschlechtercode universellen, kulturübergreifenden Charakter hat oder nicht. Während ein Ansatz strukturaler Anthropologie das nahelegen könnte, ist demgegenüber durchaus und erneut der Blick auf spezifische kulturelle Formungen scheinbar "natürlicher" und "universeller Tatsachen" zu richten. Festzustellen ist davon unabhängig allerdings, dass auch ein idealtypischer Ausdruck der postmodernen Subjektkultur, nämlich queer-feministische Praktiken, nicht eindeutig zu einer Auflösung dieses Codes geführt haben oder führen. Es scheint zudem (noch) unklar, ob diese Praktiken dazu grundsätzlich in der Lage sind.

Diesen Fragen kann hier im engeren Sinn nicht allzu weit gefolgt werden. Stattdessen soll es um ein Buch gehen, das 1990 erschienen ist und sozusagen einen Hintergrund für diese Fragestellungen liefern kann. Es handelt sich um den Sammelband "Frauenmacht ohne Herrschaft", herausgegeben von Ute Luig und Ilse Lenz. Es geht darin um "Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften".


Jenseits von Patriarchat und Matriarchat. Eine anthropologische tour d'horizon

Der Sammelband vereint Fallstudien zu verschiedenen nichtpatriarchalischen Gesellschaften, in denen Frauen und Männer mehr oder weniger gleichgestellt sind. Einzelne Untersuchungen befassen sich mit afrikanischen Wildbeutergesellschaften insbesondere am Beispiel der San in Namibia und Botswana, den Irokesinnen, Huronen, Hopi, den Zigua und Ngulu in Ost-Tansania, den Baule an der Elfenbeinküste, den Minangkabau in Westsumatra und schließlich auch mit Gesellschaften in Ozeanien. Darin werden detailliert die jeweiligen Geschlechterkonstruktionen und geschlechtlichen Machtbeziehungen analysiert.

Das Vorwort des Buches umreißt das erkenntnisleitende Interesse wie folgt: "Die neueren Untersuchungen zu nichtpatriarchalischen Gesellschaften bieten einen besonderen Zugang zu dem Verhältnis von Macht und Geschlecht, da hier Frauen in der Regel öffentlich und sichtbar Machtstrategien anwenden. Ihre Ergebnisse sind nicht einfach auf patriarchalische Verhältnisse zu übertragen, aber sie ermöglichen zumindest, von der ahistorischen Wahrnehmung abzugehen, Frauen hätten mit Macht nur als Opfer zu tun."

Für eine Diskussion der einzelnen Fallstudien fehlt hier der Platz. Wichtiger ist an dieser Stelle dagegen die allgemeine Theorie der Geschlechtsegalität in historischen oder zeitgenössischen nichtpatriarchalischen Gesellschaften, die von den Autorinnen auf dieser Basis und mit Verweis darauf formuliert wird.

Als erster Ausgangspunkt dient dabei die Konzeption von vier möglichen Ausbildungen geschlechtsegalitärer Verhältnisse. Eine geschlechtliche Herrschaft - im Unterschied zu den immer existenten Machtbeziehungen und -strategien - fehlt demnach:

• bei fehlender Differenzierung des sozialen Geschlechts. In diesem Fall stimmen die Ideologie, die Interessen und Aktivitäten der biologischen Geschlechter überein.

• bei gegenseitiger Abhängigkeit. Hier verfolgen Frauen und Männer die gleichen Interessen und Aktivitäten, auch wenn sie in der Ideologie als ganz unterschiedlich definiert werden.

• bei geschlechtlichem Parallelismus. Frauen und Männer haben unterschiedliche Interessen und Aktivitäten. Sie erscheinen daher ideologisch verschieden. Allerdings intervenieren sie nicht wechselseitig in die ihnen jeweils zugeschriebenen Lebensbereiche, sondern verfügen darüber autonom.

• bei mythischer männlicher Vorherrschaft. In diesem Fall verhalten sich die biologischen Geschlechter öffentlich so, als hätten die Männer das Sagen. Frauen üben jedoch reale Macht aus.


Der Begriff der Geschlechtssymmetrie

Die Herausgeberinnen halten dieses Schema zur Einteilung von Gesellschaften für sinnvoll, weisen aber zugleich darauf hin, dass es zu abstrakt sei. In der Realität leben Geschlechter selten in völlig getrennten Sphären. Sie meinen weiters, dass Interessen und Ideologien selten einer binären Geschlechterordnung folgen. Damit kann man die Geschlechter auch nicht eindeutig als gleich oder unterschiedlich einstufen. Eine klare geschlechtliche Differenzierung gäbe es - wenn überhaupt - vor allem in Paarbeziehungen von Ehemann und Ehefrau.

Zentral ist die Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft für Lenz und Luig. Herrschaft gründe sich auf Gewalt, die als legitim anerkannt wird. Macht dagegen werde nicht als solche von Gewalt bestimmt. Sie kann vielmehr auf "der eigenständigen Verfügung über Land, den Körper, die Sexualität" und anderem beruhen.

Die Herausgeberinnen sehen den Begriff der Geschlechtsegalität kritisch. Denn das Geschlechterverhältnis enthalte "gerade bei vormodernen Gruppen immer die mitgedachte Dimension der Differenz: die Frage, inwiefern trotz der Unterschiede gleichheitliche Verhältnisse fortbestehen; im 'Geschlechtsegalitarismus' geht sie zugunsten der Gleichheit unter". Sie sprechen daher von Geschlechtssymmetrie.

In geschlechtssymmetrischen Gesellschaften sei Macht polyzentrisch zwischen Männern und Frauen verteilt. Sie fließe in bestimmten sozialen Brennpunkten zusammen. Dadurch stelle sich eine Balance zwischen biologischen Frauen und Männern her, ohne dass ein einseitiges Dominanzverhältnis festzustellen sei.

Diese Sichtweise führt zu dem interessanten Schluss, dass die materielle Gleichheit relativ unwichtig sei. Geschlechtssymmetrisch können sowohl Gesellschaften sein, in denen sich Geschlechter in Bezug auf Arbeitsteilung und Normen kaum unterscheiden, als auch solche, wo die Geschlechter auf weitgehend getrennte Machtfelder verteilt sind.

Daraus folgt für Lenz und Luig: "Der Vorrang der Männer in der politischen Repräsentation bedeutet nicht notwendig, dass sie herrschen. Ebensowenig führt eine starke wirtschaftliche Position der Frauen zu Frauenherrschaft. Aus der Kontrolle verschiedener Machtfelder ergibt sich also eine Balance der diffusen und multifokalen Macht." Die Kontrolle der Machtfelder von Frauen und Männern erfolge über Institutionen, etwa Hausversammlungen, Nachbarschaftsberatungen und so fort. In welchen solcher Institutionen Frauen oder Männer jeweils führend sind, sei nicht entscheidend - "Wichtig ist vielmehr, dass sich ein Gleichgewicht ergibt".

Abschließend halten die Herausgeberinnen drei Rahmenbedingungen von Geschlechtssymmetrie fest (wobei die ersten beiden Punkte sich überlappen):

• Frauen und Männer haben entweder gleichen Zugang zu Machtfeldern oder sie kontrollieren vorrangig jeweils unterschiedliche Machtfelder. Beispielsweise können Frauen die wirtschaftlichen Ressourcen, Männer die politischen Prozesse kontrollieren.

• Dadurch wird einseitige Kontrolle von Machtfeldern ausgeschlossen. Beispielsweise kann einer stärker repräsentativen politischen Rolle von Männern die Verfügungsmacht von Frauen über die Ernte gegenüberstehen.

• Frauen und Männer haben Zugang zu den zentralen Institutionen, ohne dass diese Institutionen in einem hierarchischen Verhältnis stehen. Dies gilt insbesondere für Gesellschaften, in denen Frauen in von Männern getragenen Institutionen mitwirken oder umgekehrt.

Kehren wir zurück zur eingangs skizzierten Fragestellung dieses Artikels, so erscheint das Resümee der Herausgeberinnen nun in einem interessanten Licht. Die "unterschiedliche Verfügung der Geschlechter führt zu einer Balance, die sich in einer Symmetrie von verschiedenen Machtfeldern, wenn auch nicht in Gleichheit im Sinne einer Angleichung der verschiedenen Frauen- und Männerkulturen ausdrückt."

Dabei beziehen Lenz und Luig diese Feststellung selbst auf die vom "Spiel der Differenzen" geprägte, eingangs skizzierte postmoderne Subjektkultur, wenn sie schreiben: "Das Spannende an dem Konzept der Geschlechtssymmetrie ist, dass es offen für Unterschiede zwischen Frauen und Männern, zwischen Frauen und Frauen oder Männern unter sich ist, ohne dass daraus Diskriminierung oder Herrschaft folgen muss. So eröffnen geschlechtssymmetrische Gesellschaften eine geschichtliche Perspektive auf multifokal egalitäre Machtprozesse und auf 'Geschlechtergleichheit' im lebendigen Spiel von Differenzen."


Die Idee der Geschlechtsegalität im Kapitalismus

Die von Lenz und Luig versammelten und theoretisch ausgearbeiteten anthropologischen Untersuchungen können die eingangs skizzierten Debatten befruchten. Zum einen wird deutlich, dass im Rahmen solcher Debatten immer klarzulegen ist, ob es um geschlechtsegalitäre Verhältnisse oder um eine Geschlechtssymmetrie gehen soll. Zum anderen ist es möglich, im Anschluss an deren Überlegungen die Frage zu vertiefen, was "geschlechtliche Emanzipation" jeweils ist oder sein soll und welche Voraussetzungen sie hat.

Die vorherrschende Diskussion dreht sich zunächst einmal um die Idee einer Geschlechtsegalität. Insbesondere in linken Zusammenhängen wird eine weitgehende Angleichung von Interessen und Aktivitäten von biologischen Frauen und Männern angestrebt. Möglicherweise ergibt sich diese spezifische Fassung von "geschlechtlicher Emanzipation" unter anderem aus dem Umstand, dass anthropologische Befunde wenig bekannt sind, wonach es Gesellschaften gibt, die eine recht strikte Trennung von Rollenzuschreibungen an biologische Frauen und Männer auszeichnet, die aber dennoch Frauen und Männern die gleichen Einflussmöglichkeiten bieten. Allerdings mag dabei die Orientierung an der vom Kapitalismus beförderten - und teilweise ihm vorausgesetzten - Idee eines abstrakten und in dem Sinn geschlechtslosen Individuums von noch weit größerer Bedeutung sein. Das Individuum als reine Arbeitskraft, die der Verwertung von Kapital dient, ist als solches quasi ohne Geschlecht. Die vom Kapitalismus selbst produzierte Norm des abstrakten Individuums erscheint in einem zweiten Schritt als Ideal, mit dessen Hilfe die immer nur unzureichend durchgesetzte Norm kritisiert wird.

Dagegen kann eingewendet werden, dass bis heute der Haushalt und die so genannte Wirtschaft (also die kapitalistische Produktionsweise auf der Basis von Lohnarbeit) geschlechtlich konnotiert sind. Frauen werden mit dem Haushalt und darin wichtigen Qualitäten wie Zuwendung, Sorge, Zeitverausgabung identifiziert, Männer dagegen mit der kapitalistischen Wirtschaft und den damit unter anderen verbundenen Qualitäten Von Konkurrenzfähigkeit, Rücksichtslosigkeit und einer Zeitsparlogik. So gesehen wäre das Geschlecht auch für den Kapitalismus von zentraler Bedeutung.

Dies scheint aber nicht unbedingt ein strukturelles Merkmal des Kapitalismus darzustellen. Der Trend zu einer Gleichverteilung von Hausarbeit deutet in Richtung auf eine weitere Angleichung der Geschlechter im postmodernen Kapitalismus - auch wenn reichere Haushalte vielfach weibliche Dienstbotenarbeitskraft zukaufen. Auch die von Eva Illouz und anderen festgestellte "Feminisierung" des Mannes verweist darauf.


Ist die Koppelung von Patriarchat und Kapitalismus strukturell vorgegeben?

Wichtiger jedoch scheint in dem Zusammenhang der Befund von Lenz und Luig, dass allein die geschlechtliche Konnotierung bestimmter Sphären noch keine Geschlechtsasymmetrie nach sich zieht. Daran kann sich eine kapitalismuskritische Perspektive anschließen. Denn im Kapitalismus wird der Haushalt in der Tat aus strukturellen Gründen abgewertet, was sich in fehlender Entlohnung und einer symbolischen Geringschätzung äußert. Ob diese Geringschätzung im Kapitalismus notwendig und historisch unveränderlich mit der patriarchalen Ordnung der Geschlechter verknüpft sein muss, scheint dagegen wohl eher fraglich.

Ein empirischer Befund, der diese Problematisierung untermauern kann, stammt von der karibischen Insel Barbados. Constance Sutton und Susan Makiesky-Barrow haben eine Untersuchung dazu im Sammelband "Sexual Stratification" Veröffentlicht, den Alice Schlegel 1977 herausgegeben hat. Die frühere afrikanische Sklavenbevölkerung von Barbados kannte keine Trennung zwischen biologischen Frauen und Männern in der öffentlichen ökonomischen Sphäre der kapitalistischen Sklavenarbeit. Beide Geschlechter waren gleichermaßen darin einbezogen. Zugleich führte die strikte kulturelle Trennung zwischen weißer Herrscherklasse und der Sklavenbevölkerung zu einer ausgeprägten kulturellen Autonomie der letzteren. Geschlechterzuschreibungen im patriarchalen Sinn ergaben sich damit weder aus den Produktionsverhältnissen noch über den Weg einer Diffusion kultureller Muster aus der Ideologie der Herrschenden.

Dieser Befund irritiert, wie auch die Autorinnen betonen, denn "Barbados teilt mit westlichen Industrieländern eine kapitalistische Ökonomie mit einem gut entwickelten Arbeitsmarkt und einer ausgeprägten Trennung zwischen 'häuslichen' und 'öffentlichen' Sphären von Aktivitäten. Solche Verhältnisse werden als die Ursache eines Verlusts an Autonomie und öffentlicher Wertschätzung für Frauen identifiziert, ebenso wie für ihre abhängige Rolle innerhalb der Familie." Dieser Identifikation von kapitalistischen Produktionsverhältnissen und der Trennung von privater und öffentlicher Sphäre mit der patriarchalen Geschlechterasymmetrie widerspricht jedoch die Realität in Barbados, wie die Autorinnen sie darstellen.

Die strukturellen Ursachen dafür, die in der früheren Sklavenökonomie und ihrer spezifischen Arbeitsteilung liegen, schrieben sich in ihren Auswirkungen jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Untersuchung Ende der 1970er Jahre fort: "Wir fanden heraus, dass die unabhängige Position von Frauen in einkommensgenerierenden Aktivitäten, verbunden mit ihren Positionen innerhalb des Verwandtschaftssystems die Basis ihrer Autonomie und ihrer Selbstachtung darstellen, ebenso wie für die Aufrechterhaltung einer relativ gleichgewichtigen Balance der Macht zwischen den Geschlechtern. Darüberhinaus arbeiten diese mit einer kulturellen Ideologie, die Frauen wie Männern ein ähnliches Set an positiv bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten zuschreibt und die Elternschaft und Sex als zwei höchst angesehene Erfahrungen definiert."

Diese relativ gleichgewichtige Geschlechterbalance beruht allerdings nicht zuletzt auf einer anderen Konzeption des Individuums als im Westen: "Im Kontrast zum westlichen Konzept individueller Autonomie und Gleichheit, das eine Ablösung von sozialen Bindungen impliziert, verbindet sich das afro-karibische wie auch das afro-amerikanische Konzept von Autonomie mit einer starken Empfindung interpersoneller Verbundenheit - einer Verquickung mit den Leben anderer."

Man könnte gegen eine allzu hohe Bewertung dieses Befundes einwenden, dass Ausnahmen eben die Regel eines patriarchalen Kapitalismus bestätigen. Allerdings wäre das ein Einwand auf einer empirischen Ebene. Die Argumentation eines engen, notwendigen und unwandelbaren Zusammenhangs zwischen Kapitalismus und Patriarchat beruht demgegenüber auf einem theoretischstrukturellen Argument. Dafür erweist sich auch ein einzelner empirischer Gegenbefund als problematisch.


Was ist geschlechtliche Emanzipation?

Die zweite Fragestellung betrifft nun das Wesen der "geschlechtlichen Emanzipation", das den Debatten geschlechtlicher Ungleichheit jeweils unterlegt wird. Gerade ein konstruktivistischer Zugang, der nicht von einem unwandelbaren, natürlich vorgegebenen "Wesen des Menschen" oder der biologischen Geschlechter ausgeht, kommt schwer darum herum: gleich ob die biologischen Geschlechter gesellschaftlich mit relativ strikt getrennten Rollen, Sphären und Attributen versehen werden, oder ob sie den binären Geschlechtercode je individuell flexibel interpretieren und seine Elemente kombinieren und arrangieren können - immer handelt es sich um gesellschaftliche Konstruktionen.

Damit wird es aber schwierig, umstandslos von einer "Emanzipation" im Sinn einer "Befreiung" eines "Wesens des Menschen" zu sprechen - und sei es eines "Wesens" als "selbstbestimmt wählendes" und "Identität frei konstruierendes".

Ob die eine oder die andere Konstruktion als wünschenswert betrachtet wird, hängt zunächst einmal von spezifischen Subjektkulturen, also historisch bestimmten Selbstverständnissen des Menschen ab. Diese Wünsche legitimieren sich regelmäßig in der Diktion von "Zwang" versus "Freiheit". In einer konstruktivistischen Perspektive aber wird eine solche Unterscheidung schwierig, die sich aus den Subjektkulturen, also den Selbstverständnissen von Menschen ergibt. Diese Selbstverständnisse werden immer in gesellschaftlichen Praktiken, im Mediengebrauch, in Arbeits- und Intimbeziehungen und so fort hergestellt. In ihnen kommt kein unverrückbares "Wesen" zum Ausdruck, das "befreit" oder "unterdrückt" werden kann, sondern es kommt dabei vielmehr zu einer spezifischen Modellierung "des Menschen". Weder "befreit" sich im postmodernen "Queeren" von Geschlechterattributen ein "geschlechtsloser Mensch" in der "selbstbestimmten" Wahl ihrer oder seiner Geschlechtsidentität noch "befreit" eine traditionelle Geschlechterordnung eine biologisch determinierte Geschlechterrolle.

Wäre es möglich, den Gedanken der "geschlechtlichen Emanzipation" an das Leiden an einer bestimmten Geschlechterordnung rückzubinden?

Das läge nahe, aber auch hier sind Antworten komplex. Ein Individuum kann einerseits unter dem postmodernen "Zwang" zur "selbstbestimmten" Wahl von Geschlechtsidentitäten und der Kombination von Versatzstücken der traditionellen Geschlechterrollen leiden - etwa an der damit einhergehenden Flexibilisierung, Prekarisierung oder der dann mitunter fragilen Wahrnehmung eines "authentischen Selbst", das im Verein mit der beständigen "persönlichen Entwicklung" eine Anforderung an den postmodernen Menschen darstellt. Dieser Mensch soll "sich selbst entfalten", aber zugleich flexibel mit Stilelementen umgehen, um einen bestimmten äußeren Schein zu erzeugen, der erstens als "authentisch", zweitens an der "künstlichen", kreativ gestalteten Oberfläche als stilsicher und damit souverän gilt. Diese zwei Pole können in Widerspruch treten, der als Leiden erfahren werden kann. Denn die "individuelle Authentizität" des Selbst soll auch im "Inneren" so empfunden werden, unabhängig von aller äußerlichen Zurschaustellung am sozialen Markt der Identitäten. Zugleich gilt nicht jede individuelle Kreation als stilsicher und damit als sozial nachgefragt, auch wenn sie als "authentisch" entwickelt und innerlich erlebt wird.

Andererseits ist solches Leiden offenkundig auch in einer mehr traditionellen oder nicht-modernen Geschlechterordnung möglich. Gerade die Fallstudien im Sammelband von Lenz und Luig verweisen auf den möglichen Mangel einer Passung zwischen individuellen Abweichungen, Strebungen und Eigenheiten und der gesellschaftlich vorgegebenen, uniformen Rolle für das jeweilige biologische Geschlecht. Dies gilt jedenfalls für solche geschlechtssymmetrische Gesellschaften mit einer Differenzierung der Geschlechterrollen und deren Verteilung auf relativ getrennte Lebenssphären.

Vielleicht ist diese Form von Leiden - also abgesehen von den krassen Verhältnissen ökonomischer und politischer Ungleichheit insbesondere im heutigen Kapitalismus - unvermeidlich und ein Konstituens der menschlich-gesellschaftlichen Existenz; möglicherweise weil Herrschaft historisch keineswegs zwangsläufig existiert, Macht im oben beschriebenen Sinn jedoch untrennbar mit dieser Existenz verbunden ist.


Permanente Dekonstruktion?

Diese Überlegung bedeutet, dass auch reformistische Gleichstellungspolitiken notwendig sind, und eine herrschaftsförmige Gesellschaft wie die kapitalistische abgelöst werden müsste. Diese Überlegung bedeutet jedoch davon abgesehen auch, dass die Frage der "richtigen Art ein Mensch zu sein" sich weniger leicht an Narrative der "Emanzipation" anschließen lässt. Konstruktionen von Identität gehen immer mit Normen und in diesem Sinn mit Zwängen einher. Dort, wo sie sich als universell darstellen oder umsetzen wollen, werden sie tendenziell alternativlos - rufen freilich auch immer wieder Gegenbewegungen hervor. Die postmoderne Identität fallt nicht aus diesem Rahmen, sondern schreibt ihn - für diese Identität in schwer erkennbarer Form - fort. Der Ansatz einer Dekonstruktion scheinbarer Naturgegebenheiten erweist sich demgegenüber weiterhin als "emanzipatorisch", allerdings sollte er gerade vor der in der Postmoderne prämierten im weiteren Sinne "queeren" Identität nicht Halt machen.

Ein dekonstruktivistischer Ansatz vermeidet eine Identifikation mit scheinbar "traditionellen" oder vorgeblich "wirklich modernen" oder "emanzipatorischen" Formen eines sich universalisierenden Selbstverständnisses. Darin liegt sein kritischer Gehalt. So ist "der Mensch" etwa weder "von Natur aus bisexuell" noch "heterosexuell". Auch ist "der Mensch", was Foucault gezeigt hat, nicht einmal ein "von Natur aus sexuelles Wesen", oder eines, das sich über "Sexualität" immer und überall bestimmt (hat). Daraus würde weniger eine "Befreiung der Sexualität", als eine "Befreiung von der Sexualität" folgen. Ähnlich wäre womöglich weniger eine "Befreiung der Identität", sondern eine vom Zwang zur Identifizierung - und sei es eine subkulturelle - anzustreben. Wir wissen schlicht nicht, was "der Mensch" in kultureller Hinsicht ist. Wir machen uns selbst. Indes lässt sich diese auch ethische Frage in Termini der "Wahlfreiheit" kaum behandeln.

Wäre auch eine Gesellschaft denkbar, in der "Sexualität 'einfach so sein'" könnte, wie Roswitha Scholz in "Das Geschlecht des Kapitalismus" schreibt? Sie führt dazu weiter aus: "Erst in einer post-patriarchalen, post-warenförmigen, post-zwangsheterosexuellen Gesellschaft könnte sich jedoch die Verkrampfung lösen, in Zwangssexualitäten überhaupt zu denken, zu fühlen und zu existieren."

Einiges scheint dafür zu sprechen - allerdings würde "Sexualität" auch in einer solchen Gesellschaft nicht "einfach so" existieren.

*

Immaterial World

Utopie

von Stefan Meretz

Utopie hat einen schlechten Ruf. Es ist der Nicht-Ort einer fiktiven zukünftigen Gesellschaft, die es nicht geben kann, weil eine Gesellschaft nicht nach einem Masterplan gebaut wird. Gleichzeitig haben wir, die wir etwas anderes als Kapitalismus wollen, Vorstellungen eines Zukünftigen. Wir müssen uns also mit Utopie befassen. Vier zentrale Kritikpunkte möchte ich diskutieren.

Zunächst wirke jede positive Utopie normativ, wenn sie der Maßstab für das Handeln sein soll. Das Denken und Handeln werde ausgerichtet, formiert, bewertet. Doch was, wenn das utopische Ideal falsch ist, in Teilen oder im Ganzen? Alternativen könnten aus dem Blick geraten, neuere Entwicklungen verpasst werden. Normative Setzungen - wie auch immer gut begründet - wirkten am Ende immer auch beschränkend. Sie könnten sich sogar gegen das ursprünglich intendierte Ziel kehren. Utopien seien daher bestenfalls als negative Utopien denkbar. Wir könnten nur sagen, was nicht sein soll, nicht aber, was sein kann oder sein wird.

Dieser Einwand übersieht, dass sich jede negative Aussage implizit auf ihr Gegenteil bezieht und zumindest eine Ahnung davon einschließt, was dieses Gegenteil ausmacht. Wer sich gegen Ungerechtigkeit ausspricht, ist implizit für Gerechtigkeit - möglicherweise ohne angeben zu können, worin diese Gerechtigkeit genau besteht. Wer das Geld loswerden möchte, hat eine Vorstellung davon, wie es auch ohne gehen kann - wie unausgegoren auch immer.

Utopien könnten, zweitens, eine legitimatorische Funktion für ein Handeln bekommen, das ohne die normative Ausrichtung an der Utopie nicht vollzogen werden würde: "Der Zweck heiligt die Mittel." Beispiele seien die Zerstörung der uns umgebenden Natur um des Wohlstands willen oder die Unterdrückung politischer Gegner*innen, um "später" in der freien Gesellschaft Freiheit für alle zu erreichen. Auf diese Weise werde Herrschaft gerechtfertigt. Der Stalinismus zeige, dass dies im Namen der Emanzipation auch extreme, die ursprünglichen Ziele pervertierende Formen annehmen könne.

Im Fokus dieser berechtigten Kritik steht mit der instrumentellen Vernunft eine typische Figur der bürgerlichen Aufklärung. Sie verkörpert im Kern die ökonomische Rationalität, mit der die Mittel dem Zweck unterworfen werden. Die Kritik erkennt, dass Utopien dazu dienen, Herrschaft und ihre Maßnahmen zu legitimieren. Doch wenn mit einer Utopie Herrschaft legitimiert werden kann und Zweck und Mittel bzw. Weg und Ziel auseinander fallen, dann kann diese Utopie keinen allgemeinen emanzipatorischen Charakter beanspruchen. Eine nur partielle Emanzipation ist jedoch keine mehr, jedenfalls keine im Sinne der Konstitution einer freien Gesellschaft.

In einer dritter Kritik werden Utopien mit Geschichtsphilosophie oder -teleologie in Verbindung gebracht. Die jeweilige Utopie stünde für ein Ziel (Telos), zu dem der geschichtliche Prozess mit Notwendigkeit strebe. In diesem Kontext bekomme der für die Periode der Aufklärung zentrale Begriff des "Fortschritts" einen eindeutigen Maßstab. Die Arbeiter*innenbewegung sähe sich als Akteurin des historischen Fortschreitens, als Treiberin und Exekutorin des Prozesses, der sich gesetzmäßig vollziehe. Nach dem Scheitern des Realsozialismus, aber auch angesichts der offensichtlichen Grenzen einer ökonomischen Wachstumslogik, müsse jedoch jede Geschichtsphilosophie und damit verbundene Utopien verworfen werden.

Diese Variante der Kritik unterstellt jeder philosophisch-historischen Reflexion eine teleologische Konstruktion von Geschichte. Doch jede Auffassung von Geschichte gründet auf Grundannahmen über Begriff und Verlauf von Geschichte - seien es Konstanz, Zyklizität, Regression, Zufälligkeit o.ä. Geschichtliche Reflexion ohne Geschichtsphilosophie ist ein Widerspruch in sich. Die Frage ist also nicht, ob Geschichtsphilosophie, sondern welche. Und da gibt es weit mehr Auffassungen als nur teleologische.

Viertens, schließlich, spreche gegen Utopien, dass ihr Kernbestandteil die Vorstellung vom Glück für alle sei. Glück für alle sei jedoch eine Anmaßung, denn Glück sei immer ein ganz individuelles, ein eigener Lebensentwurf, eigene Präferenzen und Ziele. Sie für alle in einer Utopie zu bestimmen oder auch nur beschreiben zu wollen, um für diese dann eine Weise der gesellschaftlichen Realisierung zu finden, münde notwendig in ein totalitäres gesellschaftliches System.

Doch kann die Allgemeinheit nicht eben jene individuelle Entfaltung frei von Fremdbestimmung sein? Diese Form der Utopiekritik verweist eher auf die Begrenztheit der Begriffe von Emanzipation und Allgemeinheit. Allgemeinheit wird hier nur als abstrakte nivellierende und nicht als konkrete individuelle gedacht. Eine Emanzipation ohne allgemeinen Anspruch ist keine (s.o.). Warum?

Partielle Emanzipationen sind nicht nur gut in den Kapitalismus integrierbar, sondern sie sind gar Antrieb seiner eigenen inneren Entwicklung und permanenten Erneuerung. Solange die Emanzipation der einen auf Kosten von anderen geht, solange Emanzipation also nicht allgemein ist, kann sie nicht über den Kapitalismus hinausweisen. Die Verbindung von Allgemeinheit mit Totalitarismus verweist auf unzureichende Weisen ihrer Realisierung, wofür es allerdings zahlreiche historische Zeugnisse gibt.

Dem Utopie-Dilemma begegnete Ernst Bloch mit dem Vorschlag einer konkreten Utopie, die er der abstrakten Utopie, die schon Marx und Engels kritisierten, entgegenstellte. Bloch versteht konkrete Utopie im Sinne eines Prozesses der permanent erneuerten Antizipationen kleiner Schritte in Richtung auf ein Zukünftiges, das als Ganzes unbestimmt bleibt und erst in der Annäherung entsteht. Doch implizit geht diese Vorstellung von einem Ziel aus, von dem sie Kriterien ableitet, um die kleinen utopischen Antizipationen als Umsetzung von realen Möglichkeiten zu bewerten.

Eine bislang unentwickelte Möglichkeit ist eine kategoriale Utopie als Partnerin der kategorialen Kritik. Diese steht nicht im Gegensatz zu einer konkreten Utopie, sondern ist vielmehr die Ausführung ihrer impliziten Voraussetzungen. Sie befasst sich auf kategorialer Ebene mit den menschlich-gesellschaftlichen Möglichkeiten der Begründung einer freien Gesellschaft. Es ist eine Möglichkeitsutopie.

*

Arbeitslose und Jobkiller

Arbeit in der Science-Fiction (Teil III)

von Dieter Braeg

Ein sehr interessantes Buch ist Edward Bellamys "Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887" (Looking Backward: 2000 1887). Der Roman erschien im Jahre 1888 und ist nach Meinung der Experten weltweit der erfolgreichste Science-Fiction-Roman, zumindest was Verbreitung und Auflagen betrifft. In Deutschland erschien der Roman erstmals im Jahre 1890 im Verlag J.H.W. Dietz, übersetzt von der berühmten Sozialistin Clara Zetkin. In ihrem Vorwort zur Neuüberarbeitung aus dem Jahr 1914 schrieb sie: "...der Verfasser (hat) angeblich nichts anderes geplant, als eine unterhaltsame Mär von allgemeiner Glückseligkeit und Harmonie. Allein je weiter die Arbeit voranschritt, um so mehr wurde der Schriftsteller von seinem Gegenstand ergriffen. Der heitere Schilderer paradiesischer Zustande musste den scharfäugigen, rücksichtslosen Gesellschaftskritiker an seine Seite treten lassen und den begeisterten Propheten einer neuen sozialen Organisation und Moral der Vernunft und Zweckmäßigkeit." Der Dichter meinte später zu seinem Werk: "Der Rückblick hat zwar die Form eines phantastischen Romans, ist aber allen ernstes als Vorbild gemeint für die kommende Stufe der industriellen und sozialen Entwicklung des Menschengeschlechts, wenigstens in Amerika." Es spricht wirklich nicht für das heutige SF-Fandom, dass es den HUGO (wichtigster Science-Fiction-Literaturpreis) vergibt, der BELLAMY als Name wäre passender. Dem Buch fehlt, so meint die Zetkin und meine auch ich, die Tiefe und Schärfe des wissenschaftlichen Sozialismus. Aber Bellamy entwirft eine humanistische Gesellschaft, die ein sehr entspanntes Verhältnis zur Arbeit hat: "Die Arbeitsdienstzeit währt 24 Jahre: sie beginnt am Schlusse des Erziehungskursus mit einundzwanzig und endet mit fünfundvierzig."

Auch bei Bellamy bleiben Arbeitsablaufbeschreibungen selten, hier ein Auszug aus einem Zentralwarenlager: "Der expedierende Beamte hat ein Dutzend Rohrpostleitungen vor sich, von denen jede mit der entsprechenden Abteilung des Lagerhauses in Verbindung steht. Er steckt die Büchse mit den Bestellungen in das dazu bestimmte Rohr, und wenige Augenblicke später fällt sie in einen besonderen Tisch im Lagerhause, wo auch alle Bestellungen derselben Art aus den anderen Probenhäusern anlangen. Die Aufträge werden mit Blitzesschnelle gelesen, gebucht und zur Ausführung gebracht. Diese Ausführung erschien mir als der interessanteste Teil. Tuchballen zum Beispiel werden auf Spindeln gerollt und durch Maschinen gedreht und der Zuschneider, welcher sich auch einer Maschine bedient, verarbeitet einen Ballen nach dem anderen, bis seine Zeit um ist, worauf eine andere Person seinen Platz einnimmt."

Die Arbeitszeit hat in dieser Gesellschaft schon längst die 35 Stunden pro Woche unterschritten und man ist bemüht, den Menschen ein sinnvolles Leben zu bieten, bei dem Arbeit nicht mehr die wichtigste Rolle spielt. Viel wichtiger ist das Leben vor und nach der Arbeit! Leider reicht die Zeit nicht aus, Bellamys Visionen in aller Ausführlichkeit zu schildern, hier vielleicht aber doch noch eine kritische Anmerkung von Ernst Bloch (Prinzip Hoffnung): "Bellamys Utopie liegt sprunglos in der Verlängerungslinie der heutigen Welt, sie ist mit dem Habitus der kapitalistischen Zivilisation zufrieden. Die Vergesellschaftung des Privateigentums nimmt aus dem jetzigen Zustand nur die sozialen Schäden und Hemmungen heraus, aber sie verändert nicht den allgemeinen Zuschnitt. Die Erde wird ein gigantisches Boston oder noch eher Chicago mit etwas Landwirtschaft dazwischen; das Gebiet der letzteren nannte man früher Natur." Trotzdem ist Bellamys Werk auch in den Stadtbeschreibungen entspannt und romantisch. Es fehlen Hochhausstrukturen, Massenquartiere und Individualverkehrsterror.

Ich habe nach "Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887" nach langer Zeit nochmals "Planet der Habenichtse" von Ursula K. Le Guin (in der Übersetzung von Gisela Stege, bei Heyne, München 1974) gelesen. Spannend beschreibt sie den Lebenskampf auf Anarres, dorthin verbannte man die Revolutionäre, die den kapitalistischen Staat Urras verlassen wollten. Wie der kleine Maxi sich Anarchie vorstellt, das weiß ich ja nun als Bewohner eines Freimarktwirtschaftslandes seit einiger Zeit, aber die Le Guin ist da auch nicht schlecht. Lesen wir doch einmal, was es so zum Unterschied zwischen Männern und Frauen zu schreiben gibt: "Trifft es zu, Dr. Shevek (er ist eine wichtige handelnde Figur des Romans und stammt aus Anarres), dass die Frauen Ihrer Gesellschaft genauso behandelt werden wie die Männer?' 'Das wäre Verschwendung guten Materials', antwortete Shevek mit kurzem Lachen und lachte gleich darauf noch einmal, als ihm die Komik dieser Vorstellung bewusst wurde."

Männer sind stärker, Frauen sind zäher, arbeiten länger und Dr. Shevek hat sich oftmals gewünscht, so zäh und belastbar zu sein wie eine Frau. Wenn schon die Phantasie nicht an die Macht kommt, bei dieser Form der Anarchie, wie sieht es da mit der Arbeit aus? Nicht gut! Die Versorgung ist schlecht, es gibt Hungersnöte und wirklich einsichtige Erkenntnisse, die sich dann so anhören: "Gewiss, die Arbeit musste getan werden, aber es gab zahlreiche Menschen, denen es gleich war, wo sie eingesetzt wurden, und die ständig ihren Job wechselten; die hätten sich freiwillig melden sollen. Eine derartige Arbeit (es handelt sich um ein Aufforstungsprojekt auf dem sehr unwirtlichen Planeten Anarres) konnte auch der Dümmste verrichten. ja, viele konnten es sogar besser als er."

Die große Frage, ob es unmoralisch sei, Arbeit zu erledigen, die man nicht gerne verrichtet, wird von Le Guin nicht beantwortet. Manchmal hatte ich den Eindruck, als wäre der "Planet der Habenichtse" eine Umkehr des Romans von Edward Bellamy. Während bei ihm das Leben und die Arbeit gereinigt wurden von all den bösen Belastungen, geht es auf Anarres zu wie im bösesten Frühkapitalismus. Die Arbeitsmoral, so wie die Autorin sie beschreibt, ist entweder moralisch oder unmoralisch. Gerne verrichtete Arbeit, egal wie schwer, ist moralisch, und so wird daraus auch ein vertretbarer ethischer Mehrwert.

Da ist mir der Franzose Max Clair, den Gustav Landauer in seinem Aufsatz "Der Arbeitstag" (1912) erwähnt, Viel lieber. Landauer zu Clair: "Er (Clair) hat uns vorgerechnet, dass der Mensch um der rechten Physiologie willen acht Stunden im Bett, anderthalb Stunden am Waschtisch und im Bad, anderthalb Stunden beim Essen, zwei Stunden bei der Verdauung, zwei Stunden bei körperlichen und geistigen Übungen und eine Stunde beim Spaziergang verbringen müsste, dass eine halbe Stunde zwischendrin abhanden käme, dass also für die Arbeit, ob man wolle oder nicht, nur sechseinhalb Stunden zu Verfügung stünden, von denen aber zwei Stunden für Haushaltsarbeit draufgingen, so dass für den Berufsalltag nur viereinhalb Stunden blieben."

Aber zurück zum kargen Planeten der Frau Le Guin. Shevek, der geniale Physiker war irgendwann zu den Fleischtöpfen des Planeten Urras zurückgekehrt, wo vor 160 Jahren, wir erinnern uns noch, eine Revolution und die Auswanderung der Revolutionäre stattfand. Luxus begegnet dem Mann auf einer Einkaufsstraße. Der Horror des Konsums feiert fröhliche Urstände: "Und das Seltsamste an dieser Alptraumstraße war, dass keiner der Millionen Gegenstände, die man dort kaufte, auch dort hergestellt wurde. Sie wurden lediglich dort feilgeboten. Wo waren die Werkstätten, die Fabriken, wo die Bauern, Handwerker, Bergleute, Weber, Apotheker, die Bildschnitzer, die Färber, die Designer, die Maschinisten, wo die Hände, die Menschen, die alles schufen?"

Eine gute Frage, aber beantwortet wird sie in diesem Roman nicht. Es ist schon erstaunlich, Raumschiffe überwinden Raum und Zeit, und in der gleichen Welt werden seltsame und antiquierte Berufe ausgeübt. Die ewig gültigen Weisheiten zur Arbeit, die gibt es in Minimaldosen:

"Wie sie wissen, ist das Leben auf Anarres karg. In den kleinen Kommunen gibt es nicht viel Unterhaltung, und gerade dort fällt sehr viel Arbeit an. Wenn man also ständig an einem mechanischen Webstuhl arbeitet, geht man recht gern an jedem zehnten Tag ins Freie, um eine Rohrleitung zu verlegen oder einen Acker zu pflügen auch wohl, um mal mit anderen Menschen zusammen zu sein ..."

Was/Wie gearbeitet wird, bleibt leider geheim. Aber Frau Le Guin hat auch Anarchieweisheiten zu verkaufen: "Aber wo es kein Geld gibt, kommen die wirklichen Motive vielleicht deutlicher ans Licht. Die Menschen tun ihre Arbeit gern." Sätze in denen der Deckungsgleichheit von Arbeit und Spiel eine starke ethische Bedeutung nachgesagt werden, machen die Sache auch nicht besser. Versöhnlich stimmt dagegen: "Die Dinge verändern sich, immer wieder. Besitzen kann man nie etwas ... Am wenigsten die Gegenwart wenn Sie sie nicht mit der Vergangenheit und Zukunft zusammen akzeptieren."

Es ist schwierig, den Alltag in der Zukunft zu beschreiben und mit der Arbeit hat die Science-Fiction noch größere Probleme. Nun wird es sicher den Einwand geben, es gäbe ja diese herrlichen Geschichten von den Maschinen, den Robotern, die dem Menschen die Arbeit abnehmen. Es wäre doch eigentlich eine faszinierende Aufgabe, darüber zu schreiben, weil ja die Geißel Arbeit den Menschen nicht mehr deformiert. Was gäbe es da für Möglichkeiten? Leider wird es dann plötzlich in der Zukunft genau so langweilig wie in der Gegenwart. Das haben wir ja nun anhand vieler Beispiele lesen können. Die vorhandene Arbeit weisen wir den Blechtrotteln zu, die dann dort weitermachen wo wir aufgehört haben: ARBEIT ARBEIT ÜBER ALLES ÜBER ALLES IN DER WELT!

Wie sieht es aus, wenn Menschen versuchen, ihr Schicksal vernünftig zu gestalten. Dieses Happy End wie sieht es aus? Lesen wir ein wenig in "Vulkans Hammer" von Philip K. Dick nach, wenn die Frage gestellt und beantwortet wird ist die Maschine besser als der Mensch?

"'Haben Sie schon einen Überblick?' fragte er neugierig. 'Was ist denn nun übriggeblieben?'

'Haben Sie es so eilig?' fragte Fields lächelnd. Barris nickte. 'Der Computer soll aber nicht länger unser Herr, sondern nur unser Diener sein. Wir haben damals ein Abkommen geschlossen, Fields. Sie haben der Weiterbenutzung von Komponenten zugestimmt, wenn diese vernünftig benutzt werden. Hoffentlich können Sie die alten Kampfrufe vergessen. Sie waren notwendig, um die Massen aufzuwiegeln, haben aber ihren Sinn verloren.'

'Ich bin völlig Ihrer Ansicht', entgegnete Fields verständnisvoll. 'Gegen eine vernünftige Verwendung technischer Hilfsmittel ist nichts einzuwenden ... Allerdings muss ich auf der Erfüllung meiner Bedingungen bestehen. Das technokratische System muss zerschlagen werden. Die Menschen Verlangen ihre Würde zurück ... Die Maurer und all die anderen, die von ihrer Hände Arbeit leben, wollen wieder als Menschen anerkannt werden. Niemand soll auf andere herabsehen, nur weil er einen wichtigen Staatsposten hat.'"

Da handeln zwei, als wären sie auf einem orientalischen Teppichmarkt, um die Würde des Menschen und wie eine Gesellschaft gestaltet werden soll und welche Rolle die Technik in ihr zu spielen habe. Ist diese Würde durch Arbeit wirklich gewollt, ist sie wichtig und notwendig, um dem Menschen ein reiches Leben zu ermöglichen? Nicht reich durch Ausbeutung und Unterdrückung! Die Weber haben nicht Maschinen gestürmt, um in Würde die Handarbeit weiterhin hoch zu halten, nein, es war eher die Frage des Überlebens, die sie zu Maschinenstürmern werden ließ.

"Gesellen schweißt die Lettern ein,
Ich lasse das Erfinden sein.
Bewahr' uns Gott vor Teufelswerk.
Dies wünscht euch Johann Gutenberg."

(Jura Soyfer)

Dies ist ein Zitat aus und gleichzeitig die Moral der Geschichte "Der Lechner Edi schaut ins Paradies", die Jura Soyfer (gestorben 1939 im Alter von 26 Jahren im KZ Buchenwald) Mitte der 1930er Jahre gegen den Austrofaschismus schrieb: Ein Arbeitsloser begegnet seinem Job-Killer, jener Maschine, deren Arbeitskraft die seine so unverkäuflich wie überflüssig gemacht hat und die inzwischen selbst der Rationalisierung zum Opfer gefallen ist. Die beiden Fußkranken des Fortschritts tun sich zusammen und unternehmen eine Reise in die Vergangenheit, sie wollen einen geschichtlichen Ort aufspüren, an dem dem Wettlauf Einhalt geboten werden muss, soll er nicht die Menschheit mitsamt ihren Werkzeugen überrollen.

Jura Soyfer hat ein wunderschönes Science-Fiction-Theaterstück geschrieben. Doch weiter zum Inhalt. Nicht jeder der Aufgesuchten ist so rasch überzeugt wie der Vater des Buchdrucks, den schon ein flüchtiger Blick auf eine Von den Zeitreisenden mitgeführte Tageszeitung das Fürchten und das Wünschen lehrt; aber alle Entdecker und Erfinder erklären sich doch zur Rücknahme ihrer Fortschritte bereit, sobald ihnen gezeigt wird, wohin durch ihre Kreation sich das Ganze hinentwickelte. Freilich versäumt auch keiner den Hinweis auf seine Vorgänger, ohne deren Verzicht der eigene folgenlos bliebe. Die Reise führt deshalb von Station zu Station zurück, bis hin zum Paradies, in dem der Mensch ja einmal erschaffen wurde.

Jura Soyfer war mit seinen 26 Jahren einer der großen österreichischen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts. Seine Szene Geschichtsstunde im Jahre 2035 könnte für viele Science-Fiction-Autoren oder Autorinnen ein Beispiel sein, wie sie schreiben sollten. Leider können wir es nicht!

*

Rückkopplungen

Udo '80

von Roger Behrens

Hamburg - das ist die neben London wichtigste europäische Musikmetropole, jedenfalls sagte man das so, etwa 1978, als hier zum ersten Mal Liza Minelli und Sammy Davis jr. gemeinsam auf der Bühne standen, am 20. November des Jahres im Hamburger Congress Centrum. Und das Hamburger Abendblatt schreibt in sein Stadtjahrbuch 1979: "Fast alle Schallplattengesellschaften sind hier vertreten, große Musikverlage residieren an der Alster, und auf den Konzertpodien geben sich internationale und nationale Stars die Klinke in die Hand." Dazu ein Foto von Udo Jürgens - als nationaler Star gerühmt, obwohl er ja Österreicher ist, geboren in Klagenfurt 1934 als Udo Jürgen Bockelmann. Er steht auf der Bühne, verschwitzt, aber mit ordentlicher Hose und Hemd; der Kragen ist gelockert, das Jackett hat er wohl ausgezogen. In der einen Hand hält er das Mikrofon, mit der anderen scheint er das Publikum zu dirigieren. Einige Fans stehen direkt vor der Bühne, klatschen oder heben die Arme in die Luft. Ein junges Mädchen hat sich durchgedrängt, sitzt keinen halben Meter entfernt vor Udo Jürgens und reicht ihm eine einzelne Rose. Er sieht sie aber nicht.

Schon damals ist Udo Jürgens weltberühmt, einer der erfolgreichsten Unterhaltungskünstler im deutschsprachigen Raum. 1979 setzt er sich - gleichsam am Ende des Goldenen Zeitalters der Überflussgesellschaft - mit "Udo '80" einen Höhepunkt seiner Karriere.

"Ich weiß, was ich will", ein Liebeslied mit Text von Fred Jay, das sich zum Tanzrhythmus lustvoll-körperbetont zur leidenschaftlichen Zweisamkeit bekennt, i. e. zur erotischen Beziehung, ein Lebensentwurf, der nichts mit Ehebund und Alltagstrott zu tun haben will. Geschmeidige Streicher und treibende Bläsersätze verzieren diese Euphorie musikalisch. Der zweite Song; "Auch heute noch", handelt von der Sehnsucht einer verlorenen Liebe; um Liebe geht es auch bei "Sie ist nicht so wie du". Tatsächlich dienen die Liebesmotive der Illusion von emotional gesicherter Ich-Stärke, dem postmodernen Individualismus: "Alles, was ich bin" ist dazu die Hymne.

"Disco-Stress" probiert einige elektronische Gimmicks und ist Klamauk, wenngleich auch der erste politische Song auf dem Album: "Was auch passiert in unserer Epoche, / mir egal - bin im Disco-Stress!"

Die Position des Schlagers ist, bei aller Massentauglichkeit und kollektivistischer Ideologie, die ihn bestimmt, die Position des Individuums; seine Hochzeit hat er allein deshalb auch in den siebziger und achtziger Jahren, weil hier erstmals Individualismus in Lebensweisen realisierbar war. Der Schlager ist dazu der Soundtrack und eröffnet eine Welt jenseits der Klassengesellschaft. Das Versprechen einer Scheinwelt wird hier ganz offen gegeben: Leidenschaft, Sehnsucht, Zweisamkeit sind Illusionen, die als Tagträume zumal für die weiblichen Fans den gewöhnlichen Alltag, den Terrorzusammenhang Familie, erträglicher gemacht haben; auch die Hausfrau darf sich nun sozialen Aufstiegsphantasien hingeben. Unterstützt durch die markante, fast skandierende Stimme Udo Jürgens' werden solche Illusionen dann auch immer wieder sachlich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: das schwärmende Individuum legitimiert sich durch den sozialen Realismus, und das sind um 1980 Umweltprobleme, steigende Lebenshaltungskosten, Krieg und Wettrüsten, die atomare Drohung und der Hunger in der so genannten Dritten Welt. Diesem Themenfeld gehört zunächst die zweite Seite des Albums "Udo '80": "Ist das nichts, dass du sagen kannst: 'Ich esse mich satt'. / Während irgendwo jemand kein Reiskorn mehr hat." (Text: Irma Holder)

Nach dem Fauxpas "Jamaica Mama" (Text: Udo Jürgens) und dem erst klugen, dann aber dämlich belehrenden "Tausend Jahre sind ein Tag" (Text: Siegfried Rabe) kommt zum Abschluss "Wort".

Die mit den Berliner Philharmonikern aufgenommene Komposition mit einem Text von Oliver Spiecker von immerhin acht Minuten Länge bietet hübsche Melodien, die alle Klischees der Spätromantik bedienen, ohne spätromantisch oder auch nur überhaupt romantisch zu sein: Das äußerst dynamische Arrangement funktioniert wie eine Tonfassade, eine Wall of Sound, die gleichermaßen lieblich und klanggewaltig einen Raum erfüllt, in den Udo Jürgens dann mit prägnantem Ausdruck seine Stimme setzt: ganz leise wird es nach einem aufbrausenden Vorspiel, das Orchester schweigt, und Udo Jürgens singt zaghaft, aber doch kräftig: "Wort! Du bist Gedankenelement, / kannst Illusion sein, die verbrennt." Nun ist die Stimme wieder anrufend, fast anklagend: "Bist unbegreiflich, / wenn man dich begriffen nennt."

Es folgt nach einigen Strophen ein Zwischenspiel, wenn man so will: der "Rockpart", bis nach ein paar Steigerungen die Grundmelodie wieder eingefangen ist und Udo Jürgens weitersingt, noch zwei Strophen und dann die letzte: "Wort! Du wirst melodisch, wenn man singt," - und jetzt setzt eine mäandernde Geige ein - "bist ein Signal, das in uns dringt." Schließlich: "Du bist die Symphonie, die nie verklingt." Und dann gibt es eine Reprise, wird das Anfangsthema noch einmal aufgenommen und zum Final gesteigert - als eben Sinfonie, nämlich Zusammenklang.

"Udo '80" erscheint 1979 zu einer Umbruchszeit; der Kapitalismus ist global geworden, der Zusammenbruch des Realsozialismus kündigt sich an, die Moderne wird postmodern. Gerade die Trivialontologie des Schlagers bietet in dieser Epoche der sich anbahnenden neuen Unübersichtlichkeit (Jürgen Habermas 1985) zwar nicht Aufklärung und Klarheit, aber doch Sicherheit, und zwar eine, die es gestattet, sich weiterhin den Illusionen wider die Realität hinzugeben und ein wenig zu schwelgen.

Udo Jürgens komponierte mehr als 1000 Lieder, verkaufte über 105 Millionen Tonträger. "Er zählt damit zu den erfolgreichsten männlichen Solokünstlern der Welt", weiß Wikipedia. "Mitten im Leben" heißt das letzte (zweiundvierzigste!) zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Studioalbum, "Mitten im Leben" hieß auch die letzte große (fünfundzwanzigste!) Konzerttournee, konzipiert als Gala zu seinem 80. Geburtstag, den Udo Jürgens Ende September 2014 feierte. Drei Monate später, am 21. Dezember 2014, stirbt Udo Jürgens an Herzversagen.

*

Den Kapitalismus vor sich selber retten?

von Lorenz Glatz

Vielleicht ist es ja unvermeidlich, dass über die Rettung einer herrschenden Lebensweise am erbittertsten gestritten wird, wenn sie nicht mehr zu retten ist, wenn sie sich allenthalben aufzulösen beginnt. Es wird "um Arbeitsplätze gekämpft", als ob Hackeln der Sinn des Lebens wäre. Und für das Gedeihen von Kapital und Arbeit zittert man allenthalben um das "Wirtschaftswachstum", als ob das nicht das Krebsgeschwür des Lebens auf der Erde wäre.

Man merkt das nicht unbedingt sofort, denn so wie die Menschenwelt heute aussieht, erscheint das Geld als der Boden, auf dem das Leben wächst. Der globale Standard für Glück, Moral, Erfolg ist der Lifestyle der Metropolen. Nicht so, wie er ist, sondern so, wie die Arbeits- und Konsumhysterie ihn in tausend Facetten des ewig Gleichen in die Köpfe einpaukt. Die hier verordneten Konsumpflichten und Konkurrenzen lassen die Monaden laufen und hetzen, in der Arbeit, auf der Suche nach einer und während des Freigangs. Und Verzweiflung greift nach denen, die den besagten Boden ganz zu verlieren fürchten, schon verloren haben oder von ihm nur träumen können.

Die Marktwirtschaft ist nach ihren eigenen Kriterien bankrott. Ihr Betrieb lässt sich nur noch mit wachsenden Schulden und mit Spekulation auf eine Zukunft, die es nicht mehr geben wird, aufrechterhalten. Selbst von den Gründerstaaten der EU erfüllt nur mehr der Banken- und Schwarzgeldstandort Luxembourg die Aufnahmekriterien. Der Kapitalismus ist eine Glaubensgemeinschaft. Ihr Credo ist der Glaube an den Credit, die eitle Hoffnung, dass die sich auftürmenden Geldversprechen und Schulden noch was wert sind.

Im Fall der hochverschuldeten USA zögern "die Märkte" und Lieferanten noch nicht, Billionen Dollar und die "Sicherheit der Arbeitsplätze" auf den Sand des Defizits zu gründen. Das kapitalistische Grundvertrauen in die blanke Gewalt meint unverdrossen, dass die US-Armee notfalls dem Dollar noch ganz direkt Wert verleihen kann.

Zwar sind auch in der EU die Schulden des Südens im Norden Arbeitsplätze. Aber der Glaube an die Zahlungsfähigkeit weicht dem Zweifel, der sich vergewissern will. Das Pfändungsregime der Troika hat jedoch in Griechenland Verarmung, Hunger, Wut und Verzweiflung ausgebreitet, die Wirtschaft in die Rezession getrieben - und den Schuldenstand immens erhöht, weil das neu geborgte Geld für alte Zinsen und die Bankenrettung draufgeht. Das Land könnte als erstes im Domino von EU-Pleitestaaten fallen, dem Euro, ja der EU droht der Zerfall mit allen Folgen für das globale System von Geld und Arbeit.

Doch eine Art Rettung steht bereit. Im Süden macht sie sich als radikale Linke an die "Rettung des Kapitalismus vor sich selbst" (Y. Varoufakis, jetzt griechischer Finanzminister). Das Problem soll mindestens auf Ebene der EU angegangen werden. Weitgehende Entschuldung der maroden Länder (wie 1953 Deutschland), und den Rest der Verbindlichkeiten "aus neuem Wachstum" zahlen. Dazu braucht es einen "europäischen New Deal mit öffentlichen Investitionen für Wachstum", mit dem man "Arbeitsplätze schaffen" kann. Dazu soll die Staatsverschuldung EU-weit nochmals einen großen Sprung nach vorn machen und ein neues Wirtschaftswunder stiften wie weiland vor fünfzig, sechzig Jahren. Ob dazu das Geldvertrauen in der EU noch reicht? Für den liberalen Ökonomen und Nobelpreisträger Paul Krugman aus den USA immerhin klingt das griechische Ansinnen weniger links als vielmehr zahm: "Das Problem der Pläne Syrizas", meint er, könnte sein, "dass sie vielleicht nicht radikal genug sind."

Seit den 80er Jahren wird immer wieder nach einem neuen "New Deal" und "Marshallplan" gerufen. Selbst wenn er heute unternommen wird, kann er vielleicht verzögern, d.h. auch: die Wucht der multiplen Krise schließlich steigern. Die globale Blase von Spekulation und Schulden ist ein unhaltbares Fundament. Und die vom Kapital zum Zwecke seiner Vermehrung voran getriebenen Technologien sind so hochproduktiv geworden, dass sie mehr Arbeit "freisetzen" müssen als neu sich einverleiben. Der Ramsch, mit dem sie die Märkte jetzt schon überschwemmen, vergiftet und vermüllt bei Herstellung und Entsorgung die Luft, die Erde und die Meere. Das Erbe schon des alten Wirtschaftswunders ist eine ökologische Katastrophe, wer ein neues will, mag sich nicht wirklich. Wieviel Konsumismus und Zugriff des Staats und seiner Wirtschaft aufs Leben von der Wiege bis zur Bahre noch?

Der Staat ist, ob rechts, ob links regiert, vor allem Staat, eine Maschine, die sich vom Geld der Wirtschaft nährt und für eine Ordnung sorgt, die dazu passt. Er kann besser oder schlechter auszuhalten sein, aber Selbstbestimmung, freie Entfaltung der Menschen in Eintracht miteinander und der Mitwelt ist weit jenseits seiner Sorge. Diese heißt vielmehr würgende Kontrolle, selbst dort, wo er im Notfall, den er herbeiführt, einmal hilft.

Weithin auf der Welt hat der grassierende Zerfall von Staat und Wirtschaft Menschen aufgescheucht. Zu fanatisch-rassistischem Weitermachen um jeden Preis zum einen. Zugleich aber tun sich überall Menschen zusammen. Sie "versuchen, sich selbst zu organisieren, etwas zwischen uns in Bewegung zu setzen, aufbauend auf Vertrauen, Solidarität und Gleichheit, im Grund ein paar Dinge umzusetzen, eine Art zusammen zu leben und zu arbeiten", ja es ist zu hören, "dass Profit Beziehungen schlecht macht, er macht sie nicht menschlich. - Also gefällt vielen Menschen die Idee, das Geld loszuwerden und menschlicher zu sein." (Bericht aus Griechenland) Diese Leute haben senkrecht.

Projekte kollektiver Selbsthilfe, aus denen solche Worte und Haltungen kommen, werden auch von Kritikern des Kapitalismus oft als bloßer "Notbehelf" unsichtbar gemacht. Was eins als Monade in der "Gesellschaft der Sachen" lebender Mensch leicht übersieht, ist der Umstand, dass sich hier in nuce das bildet, was allein uns noch in eine bessere Welt führen könnte: die "power of community". Vom Standpunkt und von den Bedürfnissen der Entwicklung solcher Selbsthilfe her sollte eins herangehen an alles, was der Menschheit da im Niedergang der alten Ordnung an Grausig-Brutalem zugemutet, aber auch als "Rettung des Kapitalismus vor sich selbst" angetragen wird. Staat und Geld jedoch brüten auf menschenfeindlicher Gewalt.

*

Auslauf

Fatales Rendezvous

von Petra Ziegler

"Frech und unverschämt", der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger zeigte sich brüskiert. Frech und unverschämt - wie kleine Kinder gerne abgekanzelt werden, wenn Altgewordene in deren Verhalten oder Äußerungen Unbotmäßiges zu erkennen glauben. Wenn aufbegehrt wird gegen ihr Regelwerk, Etabliertes in Frage gestellt wird, wenn so eins sich undankbar zeigt gegenüber dem, was doch nur zum eigenen Besten auferlegt wurde. Frech und unverschämt also die Bestrebungen der neuen griechischen Regierung, sich den Vorgaben von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds nicht weiter widerspruchslos zu fügen.

Bestenfalls Kopfschütteln ruft derart aufmüpfig vorgetragene Unvernunft hervor, gefolgt von den üblichen Ermahnungen: der Sparkurs sei ohne Alternative, Privatisierungen sowieso und Vereinbarungen schließlich dazu da, um eingehalten zu werden. Da wissen sich die Staatstragenden einig mit der veröffentlichten Meinung (vom sogenannten Qualitätsmedium bis zur Gratisgazette) und den vereinigten Stammtischen. Zusehends ringen die Politprofis und Kommentatoren um Geduld mit den renitenten Südländern, wenn auch noch kaum einer offen "nach dem Psychiater" (J. Fleischhauer, der uns im Spiegel Online vom 10. März an seiner Diagnose teilhaben lässt) rufen mag, wo es hier doch ganz offensichtlich an "Wirklichkeitsbezug" mangelt.

Realitätsverweigerung wird denen attestiert, die im Verlust von Lebensperspektiven, in massenhafter Prekarisierung, im Entzug selbst geringfügiger sozialer Errungenschaften die Grenzen des Zumutbaren überschritten sehen. Und noch diejenigen, die Verständnis artikulieren, beeilen sich besorgt, den Blick auf die Tatsachen einzufordern. "Regieren ist ein Rendezvous mit der Realität", weiß Wolfgang Schäuble, ganz langgedienter Veteran, und in diesem Punkt widersprechen wir ihm gar nicht. Über das Regieren ist damit fast alles gesagt, zu den gegenwärtigen Verhältnissen nichts Gutes.

Mit ihrem Programm bleiben Tsipras & Co. freilich ebenso in der Realität - also der obligatorischen Selbstaufopferung im Dienste marktwirtschaftlicher Verwertung - befangen wie die Amtsführenden und -anwärterInnen andernorts. Was da als "radikal" wie der Teufel an die Wand gemalt wird, kann gerade mal als hilflos keynesianischer Wiederbelebungsversuch bezeichnet werden, ein "europäischer New Deal" verbunden mit dem Gelöbnis in Zukunft nie ("Nie!") wieder über die Stränge zu schlagen. Immerhin - sie pochen auf genügend Spielraum, wenigstens die ärgsten Härten für die Bevölkerung zu dämpfen. So weit zeigt das in die richtige Richtung. Immerhin. Allerdings: Verhaltene Wendemanöver unter lauter Geisterfahrern verbessern nicht eben die Überlebenschancen der Beteiligten. Also: "Runter von der Autobahn!" und das schnellstmöglich.

Die unselige Gewohnheit, ein auch nur einigermaßen menschenwürdiges Auskommen an den Erfolg eines reinen Selbstzweckunternehmens (nämlich aus Geld mehr Geld zu machen) zu knüpfen, vernebelt die Köpfe. So vollständig, dass ein Hinterfragen erst gar nicht in den Sinn kommt. So selbstverständlich, dass alle Verrücktheiten, die die kapitalistische Logik produziert, als Sachzwänge akzeptiert und vor jedes Bedürfnis gestellt werden.

Die Vorgaben von Ware und Wert schaffen Fakten. Sie erst formen, was uns als Realität tagtäglich konfrontiert und wir fortgesetzt reproduzieren. "Das Gesetz, nach dem die Fatalität der Menschheit abrollt, ist das des Tausches." Die herrschende Realität bleibt, solange wir danach handeln, tatsächlich unhintergehbar. "Der Tauschwert, gegenüber dem Gebrauchswert ein bloß Gedachtes, herrscht über das menschliche Bedürfnis und an seiner Stelle; der Schein über die Wirklichkeit. Insofern ist die Gesellschaft der Mythos und dessen Aufklärung heute wie je geboten. Zugleich aber ist jener Schein das Allerwirklichste, die Formel, nach der die Welt verhext ward." (Theodor W. Adorno, Soziologie und empirische Forschung, 1957)

*

AutorInnen

Roger Behrens, Streifzüge-Kolumnist.

Uwe von Bescherer, 1955. Halbherziges Studium der Philosophie, danach bis heute Kampfkunstlehrer. Zappelt schon viel zu lange in den elenden Netzen des bürgerlichen Lebens.

Ilse Bindseil, 1945. Veröffentlichungen zu Philosophie, Politik, Psychoanalyse. Redakteurin von Ästhetik & Kommunikation.

Dieter Braeg, 1940. Vom Hilfsarbeiter zum (stellv.) Betriebsratsvorsitzenden. Autor von Wilder Streik - das ist Revolution.

Meinhard Creydt, 1957. Soziologe und Psychologe, lebt in Berlin. Zuletzt erschienen: Wie der Kapitalismus unnötig werden kann (2014). www.meinhard-creydt.de

Nikolaus Dimmel, 1959. Studierte Rechtswissenschaften, Politikwissenschaften, Soziologie. Lehrtätigkeit u.a. an der Univ. Salzburg. Schwerpunkte: Armut/Reichtum/Ungleichheit, Sozialwirtschaft, Sozial- und Migrationsmanagement sowie Arbeits-, Kriminal- und Rechtssoziologie.

Andreas Exner, 1973. Studium der Ökologie. Gesellschaftskritischer Publizist, u.a. bei social-innovation.org aktiv.

Thomasz Konicz, 1973. Studierte u.a. Geschichte, Soziologie, Philosophie. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa.

Dominika Meindl, 1978. Studium der Philosophie. Freibeutende Schreibmaschine von Texten aller Art, Bloggerin und Poetry Slammerin. minkasia.blogspot.com

Stefan Meretz, Streifzüge-Kolumnist.

Emmerich Nyikos, 1958. Historiker, lebt als freier Autor in Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozess. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems (2010).

G. M. Tamás, 1948. Ungarischer Philosoph sowie ehemaliger und gegenwärtiger Dissident in Budapest.

Karin Wachter, 1970. Studium der Erziehungswissenschaft in Wien und Innsbruck mit Schwerpunkt Frauenforschung. Seit 2008 als psychosoziale Beraterin im Verein Frauen gegen VerGEWALTigung beschäftigt.

Sowie: Lorenz Glatz, Franz Schandl, Martin Scheuringer, Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

*

IMPRESSUM

ISSN 1813-3312

MEDIENINHABER UND HERAUSGEBER
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche
Transformationskunde,
Margaretenstraße 71-73/1/23, 1050 Wien.
E-Mail: redaktion@streifzuege.org
Website: www.streifzuege.org

DRUCK
H. Schmitz, Leystraße 43, 1200 Wien
Auflage: 1200

COPYLEFT
Alle Artikel der STREIFZÜGE unterliegen,
sofern nicht anders gekennzeichnet,
dem Copyleft-Prinzip: Sie dürfen frei verwendet,
kopiert und weiterverbreitet werden unter Angabe
von Autor/in, Titel und Quelle des Originals
sowie Erhalt des Copylefts.

OFFENLEGUNG
Der Medieninhaber ist zu 100 Prozent
Eigentümer der STREIFZÜGE und an
keinem anderen Medienunternehmen beteiligt.

Grundlegende Richtung: Kritik-Perspektive-Transformation

REDAKTION
(zugleich Mitglieder des Leitungsorgans des
Medieninhabers)
Lorenz Glatz, Severin Heilmann, Franz Schandl,
Martin Scheuringer, Ricky Trang,
Maria Wölflingseder, Petra Ziegler

Covergestaltung: Isalie Witt
Layout: Françoise Guiguet

KONTO
Kritischer Kreis
IBAN: AT87 60000 0000 9303 8948
BIC: OPSKATWW

ABONNEMENTS
Aborichtpreise für 3 Hefte pro Jahr.
1 Jahr 21 Euro, 2 Jahre 39 Euro, 3 Jahre 54 Euro.
Probenummer gratis

*

Quelle:
Streifzüge Nr. 63, Frühling 2015
Kritischer Kreis - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde
Margaretenstraße 71-73, A-1050 Wien
E-Mail: redaktion@streifzuege.org
http://www.streifzuege.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang