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STREIFZÜGE/022: Zeitschrift des Kritischen Kreises, Nr. 49, Juli 2010


Streifzüge Nummer 49 / Juli 2010

Zeitschrift des Kritischen Kreises - Verein für gesellschaftliche Transformationskunde




INHALT

Andreas Exner: Einlauf

Emmerich Nyikos: Schattenwelt oder: Das postmoderne Verschwinden des Werts

Petra Ziegler und Andreas Exner: Kein Staat zu machen oder: Warum Keynes unsexy ist

Alfred Fresin: Der bürgerliche Staat. Kritik und Alternativen

Franz Schandl: Das Besondere und das Allgemeine
Spurenelemente einer Kritik des Staates. Inklusive Hegels Hymnen

Peter Samol: Wahl und Qual. Von der Unterschiedslosigkeit der Parteien

Paolo Lago: Die Angst Italiens vor den Fremden

Peter Pott: Staat ohne Staatsapparat

Joachim Hirsch: Krise und staatliche Transformation

Der Staat und ich: mit Beiträgen von Dominika Meindl, Martin Scheuringer und Andreas Exner

Andreas Exner: Die "Große Transformation" zur "Großen Kooperation"
Commons, Markt, Kapital und Staat

Lorenz Glatz: Die "Konsumismusglocke"

Andreas Exner: Dissidenz

Tomasz Konicz: Auslauf: Was kommt danach?

Kolumnen
Dead Men Working von Maria Wölflingseder
Rückkopplungen von Roger Behrens
Immaterial World von Stefan Meretz

Rezensionen
Franz Schandl (F.S.) zu jour fixe initiative berlin (Hg.):
Souveränitäten. Von Staatsmenschen und Staatsmaschinen

Andreas Exner (A.E.) zu "...ums Ganze!"-Bündnis (Hg.):
Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit

Raute

Einlauf

von Andreas Exner

Staat muss sein. Das scheint Credo fast aller sozialer Bewegungen zu sein. Veränderung wird hier letztlich immer von oben her gedacht. Der Sinn sozialer Bewegung scheint sich in dieser Sicht darauf zu beschränken, den Staat auf Missstände aufmerksam zu machen. Man will ihn auf die eigene Seite ziehen, aber nicht, dass er verschwinde, nein. Vielmehr soll er der Wirtschaft Regeln verpassen. Man meint, daran krankt's. Tatsächlich tappt eins damit nur in die Falle, die der Staat uns stellt.

Unser von der Konkurrenz zerrissenes soziales Beziehungsfeld kann überhaupt nur existieren, wenn sich der Zusammenhang von den Beziehungen scheinbar abtrennt - in die "relative Autonomie" (Nicos Poulantzas) des Staates. Diese ungute Situation leidet an einem ständigen Widerspruch. Einerseits sind die Individuen Wirtschaftssubjekte, die objektiv und vorab bestimmte Interessen verfolgen, die im Gegensatz zueinander stehen: die Kapitalisten wollen Profit, Lohn, wer davon leben muss. Andererseits erscheint der Staat als Verkörperung einer politischen Sphäre "allgemeinen Wohls" jenseits von Konkurrenz und Gegensätzen. Dort kann mensch per Votum für eine Partei mitbestimmen - und ganz staatskonform eben jenes System der Konkurrenz befestigen, das die sozial Bewegten zu Recht kritisieren. Konformität mit dem Staat heißt hier: Akzeptanz des Privateigentums, von Markt und Kapital; Akzeptanz der Trennung von Ökonomie und Politik, Öffentlich und Privat.

Fast zwanzig Jahre nach der Auflösung der UdSSR sollte sich von selbst verstehen, dass man das Kapital nicht durch Verstaatlichung aufheben kann; und dass das personifizierte Kapital, der Kapitalist, nur seine Erscheinungsform verändert, wenn die politische Klasse die Funktion des Managements übernimmt. Es sollte sich auch von selbst verstehen, dass ein staatlich geplanter oder "regulierter" Markt in keiner Weise eine Alternative zur real existierenden Marktwirtschaft darstellt. Da dem nicht so ist, gibt's diese Nummer.

Raute

Schattenwelt oder: Das postmoderne Verschwinden des Werts

Überlegungen zu einer Theorie der Unwirklichkeit

von Emmerich Nyikos

1.

Bisweilen kann es auch vorkommen, dass (Meister-)Denker einen Ausdruck prägen, der malgré eux den Geist einer Epoche präzis auf den Punkt bringt. So geschehen mit dem mot d'ordre, das die Gegenwart feiert und als Postmoderne firmiert. Man könnte dies auch die List der semiologischen Vernunft nennen, denn was diese Vorzeigedenker der Bourgeoisie auch immer im Sinn gehabt haben mögen, der Ausdruck Postmoderne markiert genau den gegenwärtigen Status der bürgerlichen Welt: post, weil nicht ante, nicht mehr dies, aber auch noch nicht das, also ein Schwebezustand, ein Zustand der Unwirklichkeit. Die Zeit der bürgerlichen Gesellschaft ist schon abgelaufen, allein, es lassen sich keine Totengräber mehr finden oder genauer: der Pfahl, der der post-mortalen Existenz des Untoten, des Zombies, der post-modernen Gesellschaft, ein Ende setzen würde, ist noch nicht gefunden.


2.

Hegel sagt irgendwo, dass der Begriff der Wirklichkeit den Begriff der Notwendigkeit impliziert. Was wirklich ist, das ist notwendig, sonst ist es unwirklich, auch wenn es nach wie vor existiert, so wie das ancien régime vor der Revolution, das nur mehr als Schatten seiner selbst dahinvegetierte. Notwendig in einem präzisen Sinne: es muss so, es kann nicht anders sein, selbst wenn man sich auf den Kopf stellen würde. In diesem Sinne war die Klassengesellschaft eine historische Notwendigkeit, denn jeder Versuch, sie zu beseitigen, hätte unweigerlich auf der Basis der gegebenen Produktivkraftniveaus dazu geführt, dass der Streit um das Notwendige und damit, wie Marx und Engels es salopp formulierten, die ganze alte Scheiße ein Da capo erlebt haben würde (Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 34f.). Das ist heute, angesichts der ungeheuren Produktionskapazitäten, die uns das Kapitalsystem beschert hat, offenbar nicht mehr der Fall.


3.

Unwirklich ist, was nicht mehr notwendig ist: also das, was seine Substanz, seine raison d'être, eingebüßt hat. Was aber ist die Substanz der bürgerlichen Gesellschaft? Das Kapital. Und was ist die Substanz des Kapitals? Der Wert, denn das Kapital ist nach Marx nichts als der sich selbst verwertende Wert. Und was ist dann dieser ominöse Wert? Offenbar die Tauschfähigkeit der Produkte in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft, in welcher privat produziert wird und daher getauscht werden muss, also in einer Warengesellschaft. Diese Tauschfähigkeit fällt aber mitnichten vom Himmel: Die Waren sind vielmehr tauschfähig, weil sie an der gesamtgesellschaftlichen Arbeitszeit partizipieren, also schon in statu nascendi infolge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der separation of crafts, in bestimmten gesellschaftlichen Relationen zueinander stehen, so dass sie dann als Produkte im Austausch zwanglos allseitige Beziehungen gesellschaftliche Tauschbeziehungen, die sich lediglich formal als private Transaktionen erweisen, eingehen können: nämlich ringsum die Stellen zu wechseln. Der Wert der Waren ist demnach die gesellschaftliche Dimension privat produzierter Produkte.

Man täusche sich nicht: Der Wert ist eine rein gesellschaftliche Qualität dieser Produkte, auch wenn er als solcher in den Waren tatsächlich verkörpert, inkorporiert ist, die Waren mithin Werte sind und nicht nur als solche erscheinen. So ist der König ein König, ist die Königsfunktion in ihm durchaus verkörpert auch wenn sein Königsein ganz von der bestimmten Form der Gesellschaft abhängig ist, in der er König sein darf, nämlich davon, dass man im Kontext der Monarchie als einer Institution sich zu ihm als einem König verhält.


4.

Das Kapitalsystem ist nicht statisch, es durchläuft wie jedes Gesellschaftssystem eine seiner spezifischen Logik, seinem modus operandi gemäße Trajektorie. So folgt auf die Vorphase der embryonalen Warenproduktion (historisch, wenngleich noch nicht logisch) das primitive Kapitalsystem, in welchem die organische Zusammensetzung der Kapitale annähernd uniform und die intersektorale Konkurrenz noch wenig akzentuiert ist. Das primitive Kapitalsystem wiederum wird abgelöst (und dieses Mal schon mit Notwendigkeit aufgrund seiner inneren Logik) von dem klassischen System des Kapitals mit intersektoraler Konkurrenz, Ausgleich der Profitraten und Bildung von Produktionspreisen, so wie es Marx gekannt und analysiert hat, nur um sogleich wieder dem Monopolsystem Platz zu machen, einer Systemphase, die, wie im Übrigen von Marx selbst scharfsinnig vorausgesagt wurde, infolge von Konzentration und Zentralisation des Kapitals unweigerlich aus der klassischen Konkurrenz, dem bellum omnium contra omnes, hervorwächst.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Ablöse der Vorphase, der Start in eine neue Gesellschaftsformation, hat, da es sich hier um einen historischen Wendepunkt handelt, noch nichts Zwangsläufiges an sich. Denn es wäre durchaus denkbar gewesen, dass, hätte England im Anschluss an die Glorious Revolution von 1688 nicht die Suprematie im Welthandel errungen (woraus sich der äußere Kontext für die Mechanisierung der Produktion, nämlich die Potenzierung der Nachfrage nach Textilprodukten, ergab), ein Prozess der "Refeudalisierung" der (Proto-)Bourgeoisie hätte stattfinden können. Solche Tendenzen der Rückzug auf das Land als Grundeigentümer und der Erwerb von Adelspatenten waren im Übrigen schon zuvor etwa in Italien, England und Frankreich unmittelbar vor dem Zeitalter der überseeischen Expansion gehäuft aufgetreten.


5.

Das Kapitalsystem ist aber nicht nur nicht statisch, sondern auch revolutionär, in dem präzisen Sinne, dass es die Produktivkräfte schon von seinem Anbeginn an beständig umwälzt und das Produktivkraftniveau so von Mal zu Mal auf eine jeweils höhere Stufe der Vervollkommnung hebt. Im Monopolsystem mit seinen gigantischen Kapitalkomplexen wird nun aber erst die Grundlage dafür geschaffen, dass die Wissenschaft nicht nur der Produktion dient, in diese einverleibt wird, sondern die avanciertesten Resultate des wissenschaftlichen Denkens auch praktisch realisiert werden können. Denn erst die großen und verbürgten Monopolprofite erlauben die Inkorporierung der Forschung (die ja unmittelbar keinen Profit abwirft) in die Kapitalgesellschaften selbst (direkt oder indirekt über die Kooperation mit externen Forschungszentren). Und andererseits sind große Kapitalmassen überhaupt die Voraussetzung für den Einsatz von Großtechnologien, die auf den Ergebnissen der Computer- und Roboterforschung beruhen. Das Monopolsystem markiert so die Phase der Automatisierung der Produktion auf der Basis der Computertechnologie und der Robotertechnik.


6.

Automatisierung aber bedeutet: Auslagerung des Stoffwechsels mit der Natur aus der Gesellschaft in automatisierte Apparaturen, Eliminierung der lebendigen Arbeit, um an ihre Stelle tote, geronnene Arbeit zu setzen. Wohlgemerkt: Die Automatisierung der Produktion könnte in der Tat durchgängig sein, was schon früh von John von Neumann nachgewiesen wurde, indem er zeigte, dass Automaten in der Lage sind, sich selbst zu reproduzieren. Roboter, die Roboter bauen, gibt es im Übrigen schon seit geraumer Zeit. Das soll natürlich nicht heißen, dass in absehbarer Zukunft alle Produktionsarbeiter tatsächlich freigesetzt würden. Wir sprechen hier nur von bestimmenden Tendenzen.

Wird der Prozess der Automatisierung nun aber bis an sein (hypothetisches) Ende geführt, dann verschwindet der Wert der Waren, denn dieser ist, wie wir sahen, nichts als deren gesellschaftliche Dimension. Wo nämlich Apparate die Produktion übernehmen, da arbeitet offenbar die Gesellschaft nicht mehr, und wo nicht mehr gearbeitet wird, da verliert sich der Wert als Reflex der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit in den Waren, ein Gedanke, der von Marx schon in den Grundrissen genialerweise antizipiert worden ist. Es kann im Übrigen mathematisch exakt nachgewiesen werden, dass, wenn die lebendige, aktuelle Arbeit gleich Null ist, die gesellschaftlich notwendige Arbeit insgesamt Null wird, so dass der Wert der Waren, dessen Substanz die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist, tatsächlich eliminiert wird, auch wenn sich in diesen Waren konkrete Arbeit als tote, vergangene Arbeit nach wie vor dargestellt findet.

Diese Eliminierung des Werts gilt insbesondere für den gesamten Bereich des Stoffwechsels mit der Natur oder der Produktion im engeren Sinn. Denn selbst wenn in anderen Bereichen (Pflegedienst, Schulwesen, Sport usw.) nach wie vor lebendige Arbeit eingesetzt würde (und diese Sphären durchgehend kapitalistisch organisiert wären, nämlich als Pflegedienstfirmen, Privatschulen, Fußballclubs à la Manchester United usw.), selbst in diesem Fall würde der Wert bei Vollautomatisierung der unmittelbaren Produktion aus diesem Bereich vollständig verschwinden, da wir es bei den betreffenden Dienstleistungswaren (Pflege, bearbeitete Kinderköpfe, Champions-League-Partien) mit Nichtbasiswaren im Sinne von Sraffa zu tun haben würden, die ja bekanntermaßen nicht in die Produktion aller anderen Waren eingehen.


7.

Verschwindet damit aber auch automatisch die bürgerliche Gesellschaft, das System des Kapitals? Offenbar nicht. Es bleibt vielmehr als Fassade, als Zombie, als untoter Toter auf der Basis des Privateigentums an den Produktionsgegenständen zurück. Alle äußeren Formen des Kapitalsystems, die da sind: Geld, Preis, Profit, Zins usw. entschwinden nicht automatisch, denn wenn die gesellschaftliche Tauschfähigkeit der Produkte verschwindet, so heißt das noch lange nicht, dass nicht doch noch (im Rahmen des Monopols) getauscht werden könnte, wenn auch als sinnlose, weil nicht mehr notwendige, nicht mehr vernünftige Praxis. Genau in diesem Sinne tritt das System in eine Phase der Unwirklichkeit ein, und genau in diesem Sinne ist es als post-modern treffend beschrieben.


8.

Dem ist leider so, und das sollte realistischerweise auch anerkannt werden: Die finale Krise wird es nicht geben, auch wenn die Krise als periodisches Stottern im Getriebe des Systems die bürgerliche Gesellschaft immer und immer wieder heimsuchen wird, ganz abgesehen von den anderen Kalamitäten und ganz abgesehen davon, dass das Kapital in seiner Gier und aufgrund seines Wachstumsdiktats ökologische Desaster gebiert. Das hat aber nichts zu bedeuten: Das Kapitalsystem kennt, wie wir wissen, den horror miseriae nicht.

Wie aber, so könnte man fragen, sollte denn dieses System mit dem Umstand fertig werden, dass, wenn in der Perspektive die gesamte Produktion in automatisierte Apparate ausgelagert sein wird, die Lohnarbeit in der Produktion, und damit die Basis des Massenkonsums, der Lohn, aus der Gesellschaft verschwindet?

Offenbar hilft es hier nichts, in den Dienstleistungen zu suchen. Hier kann man genauso gut automatisieren wie sonst überall auch, obgleich es durchaus noch Spielräume gibt, etwa im Wachdienst für die Bourgeoisie, wie dies Eric J. Hobsbawm halb ernst, halb ironisch vorausgesagt hat (Globalisation, Democracy and Terrorism, Abacus (2007), S. 141).

Freilich, es spielt für den globalen Absatz überhaupt keine Rolle, ob man für zehntausend Haushalte Wohnungen baut oder für einen Krösus einen Palast. In beiden Fällen werden Waren glücklich absorbiert. Wer sie aber absorbiert, das ist für das Kapitalsystem prima facie ganz unerheblich. Hinzu kommt dann noch, dass das Heer der co-partners des Kapitals, derjenigen, die am Profit mitprofitieren, der Rattenschwanz an Beratern, Rechtsanwälten, Spin-Doktoren und die ganze Schicht derer, die kreative Berufe ausüben dürfen: Werbetexter, Sänger, Akademiker, Fernsehkomiker und Performance-Künstler unentwegt wächst, und last but not least wird der Staat nach wie vor entweder indirekt (über Staatsbeamtengehälter oder Transferzahlungen) oder direkt als Konsument (von Schreibutensilien, Raketen und Bombern) seine Rolle als sicherer Abnehmer spielen. Denkbar ist aber auch, dass das System in einem Anfall von Verzweiflung auf den bekannten Einfall eines Grundeinkommens zurückgreifen wird, um so die freigesetzten Proletarier in alt-römische proletarii (im eigentlichen Wortsinn) zurückzuverwandeln, denen man panem (das Grundeinkommen) gratis zukommen lässt und die man dann mit den circenses (dem Fernsehen und den anderen Spielen) glücklich abspeisen wird.


9.

Eine Endkrise im Sinne eines Finalspiels oder des Jüngsten Gerichts wird es nicht geben. Wohl aber einen permanenten Zustand weit weg vom Gleichgewicht des Systems, das heißt, eine Instabilität, die, als Dauerzustand, uns nichts Gutes verheißt. Oder anders formuliert: Das System überlebt, während es nicht mehr als solches funktioniert, während es vielmehr so tut, als ob es noch funktionierte. Das kann endlos dahingehen, sofern dem Treiben kein Ende gesetzt wird.

Überhaupt ist es so, dass jedes Gesellschaftssystem eine ihm spezifische Trajektorie im historischen Phasenraum durchläuft, die mitunter bis zu dem Punkt führt, wo es sich weit weg von seiner Gleichgewichtslage befindet. Sobald es nun aber gemäß seiner inneren Logik dort angelangt ist, hört die Gesetzmäßigkeit auf und der Ausgang wird offen. Es gibt dann drei Eventualitäten seiner weiteren Performance: entweder es verharrt dort für eine längere Zeit oder es fällt auf den Status quo ante zurück, oder aber eine zufällige Konstellation von Faktoren treibt es über sich selbst weit hinaus, was nichts anderes besagt, als dass es in ein anderes Gesellschaftssystem transformiert wird. Hier spielt der Zufall in der Tat eine wesentliche Rolle.

Nun, aufgrund des erreichten Produktivkraftniveaus ist ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft auf eine frühere Stufe wenig wahrscheinlich. Bleibt nur, dass es, wie zu befürchten, in der Phase seiner Unwirklichkeit (mit barbarischen Auswüchsen und zunehmender ökologischer Tristesse) verharrt oder aber der Zufall will es, dass das System sich nicht nur entwirklicht, sondern ins Museum der Altertümer versetzt wird: dass die Potenzen, die es über Jahrhunderte hinweg generiert hat, in einer freien Assoziation freigesetzt werden. Der Zufall aber kann hier nur die bewusste Praxis auf der Basis der Einsicht in den Gesamtzusammenhang sein. Zufällig ist diese Einsicht jedoch (in einem historischen Sinn), weil sie hergestellt werden muss, und sich nicht (mehr) automatisch aus den Verhältnissen ergibt, wenn dies überhaupt jemals der Fall war (und nicht nur in dem Sinn, dass die Kooperation in der Großen Fabrik die praktische Basis des Klassenbewusstseins dargestellt hatte). Zufällig, jedoch nicht beliebig: Denn das Denken steht hier offenbar ganz im Einklang mit den realen Tendenzen des bürgerlichen Systems.


10.

Nach wie vor sucht die Intelligenz, die sich mit der Herrschaft der sachlichen Mächte nicht abfinden kann, verzweifelt nach einem Subjekt der Geschichte. Bisweilen glaubt man sogar, es in der multitudo oder in einem Patchwork der Minderheiten gefunden zu haben. Das freilich sind reine Kindereien, Ausdruck purer Ratlosigkeit.

Was aber, wenn sie selbst dieses Subjekt ist? Wenn es in ihrer Hand liegt, den Anstoß zu einer radikalen Verwandlung der Gesellschaft zu geben? Und warum eigentlich nicht? Warum sollte es nicht die Kritik sein, die diesen Part übernimmt? Wo es in letzter Instanz um die bewusste Kontrolle, die Planung der gesellschaftlichen Belange zu tun ist, da ist das Denken, die Bewusstheit, die Kritik die Voraussetzung überhaupt von allem anderen auch.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Wenn ich in diesem Zusammenhang mangels eines besseren Ausdrucks den Terminus "Intelligenz" verwende, ist damit natürlich nicht eine Berufsgruppe, eine Schicht oder gar eine Klasse im soziologischen Sinne gemeint, sondern lediglich diejenigen, die dem kapitalistischen Treiben kritisch gegenüberstehen (im Hinblick worauf Intelligenz offensichtlich nicht schadet).

Im Übrigen ist es in der Geschichte nie die surplusproduzierende, also unterdrückte Klasse gewesen, die als Demiurg einer neuen Gesellschaft gewirkt hat. Die Bourgeoisie als Subjekt der bürgerlichen Transformation des feudalen Systems (wenn auch nicht als eigentliches Subjekt der bürgerlichen Revolutionen) war nie eine surplusproduzierende Klasse gewesen, als Proto-Bourgeoisie, also als Klasse von Händlern, hat sie vielmehr das Surplus anderer über den profit upon alienation, Kauf und Verkauf, annektiert. Die einzige Klasse, die surplusproduzierend war und tatsächlich aufgrund ihrer Lebenslage der Großen Fabrik als Subjekt einer Umwälzung hätte auftreten können, die Arbeiterklasse, hat den richtigen Zeitpunkt dafür leider verpasst oder man wusste ihr das Erstgeburtsrecht mit einem Linsengericht abzukaufen. Jetzt, wo sie sich auflöst, ist es für Reue freilich zu spät.


11.

Das ist kein Handicap. Derselbe Umstand, dessen Ausdruck das Verschwinden der working class ist (oder ihre Verwandlung in eine unverkäufliche Reservearmee), die Produktivkraftforcierung, ist zugleich die absolute Voraussetzung einer freien Assoziation.

Einerseits nämlich wird der Streit um das Notwendige mit dem enormen Produktionsapparat ein für allemal gegenstandslos, was nicht impliziert, dass dabei über alle Grenzen hinaus produziert werden müsste. Denn in einer freien Gesellschaft wird der Konsum in seiner Form als Kompensation für Frustrationen, die sich aus der Natur der bürgerlichen Gesellschaft ergeben, von alleine verschwinden, ganz zu schweigen davon, dass sinnlose, weil nur der bestimmten Form der bürgerlichen Gesellschaft entspringende Betätigungen wie Kommerz und Reklame, Überwachung, Rüstung oder auch solche, die sich der geplanten Obsoleszenz oder den Modetrends schulden, mit dem entsprechenden Ressourcenverbrauch und den entsprechenden Schadstoffemissionen ersatzlos gestrichen werden könnten. Das heißt, es ist ein Überfluss an Notwendigem denkbar - an dem, was für die volle Entfaltung einer freien und bewussten Persönlichkeit notwendig ist -, der sich mit ökologischen Erfordernissen durchaus verträgt. Und auf der anderen Seite bedeutet die Eliminierung der lebendigen Arbeit, dass man sich nur mehr mit der Verwaltung von Sachen wird herumschlagen müssen. Dies alles zusammen würde es so der Gesellschaft erlauben, auf Repression im Hinblick auf die Verteilung wie auch im Hinblick auf die Herstellung von Arbeitsdisziplin zu verzichten, damit aber auch auf Repression überhaupt.

Sollte sich daher die Einsicht in den Gesamtzusammenhang in der Gesellschaft etablieren, dann wäre im Grunde schon ein großer (wenn auch zweifellos nicht der endgültige) Schritt hinaus aus dem Reich der Schatten, aus der Unwirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft getan. Denn wie heißt es bei Marx? - Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände. (Brief an Ludwig Kugelmann vom 11. Juli 1868, in: MEW 32, S. 552) Und ohne den Glauben kann man auch das Versetzen von Bergen nicht so einfach verhindern.

Die Durchsetzung dieser Einsicht indessen wäre die ureigenste Funktion der Intelligenz - und nicht die "Anleitung" der Akteure oder die Ausgabe strategischer Parolen, wie das so oft der Usus ist. Dies aber erfordert die organisierte Kritik jenseits der Sektenbildung, die Kooperation und Verständigung all derer, die nicht geneigt sind, das Gegebene als das Nonplusultra hinzunehmen. Wollte man im Übrigen ein historisches Vorbild für dieses Vorhaben suchen, so könnte man es zwanglos im Diderotschen Enzyklopädieprojekt finden. Voltaire, d'Holbach oder Turgot könnten unterschiedlicher nicht sein; das hinderte sie freilich nicht, gegen den gemeinsamen Feind zusammenzuwirken. Und genau dies sollten wir auch tun.


Emmerich Nyikos, Das Kapital als Prozeß. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems,
Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2009, 640 Seiten, ca. 98 Euro

Raute

Kein Staat zu machen oder: Warum Keynes unsexy ist

von Petra Ziegler und Andreas Exner

Die Krise gilt großen Teilen der Linken als Spätfolge politischer Entscheidungen, deren Korrektur mehr als überfällig ist. Entsprechend harsch fällt das Urteil gegen die herrschende politische Klasse aus: wenig einsichtig, unwillig, hörig gegenüber den Interessen der Finanzindustrie.

"Obwohl die gegenwärtige Lage durch geringes und unsicheres Wachstum bei abnehmender Beschäftigung gekennzeichnet ist, geht die Regierung wieder zur neoliberalen Tagesordnung über", beklagt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik in ihrem MEMORANDUM 2010 (www.memo.uni-bremen.de) und hält resignierend fest: "Die aus der Not geborene aktive Krisenbekämpfung stellt allerdings keineswegs einen Paradigmenwechsel der herrschenden Politik dar."

Die Allianz für alternative "Wege aus der Krise", ein Zusammenschluss aus Attac Österreich, mehreren Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen und Gewerkschaften, hat ebenfalls "genug von dieser Politik" und vermisst "echten" Reformwillen seitens der Regierungen. Weil aus der Krise nichts gelernt wurde - so der gemeinsame Tenor -, würden seitens der politischen Machthaber immer noch "einseitig die Interessen der Reichen bedient".

Von der heilsamen oder verderblichen Wirkung staatlicher Einflüsse war bereits John Maynard Keynes überzeugt. Ihm galt der Staat als "bestimmender Agent", dessen Tätigkeit in die eine oder andere Richtung wesentlich beeinflusst werden kann. Die Mehrheit der heute in Gewerkschaften und Globalisierungskritik Aktiven ebenso wie die meisten linksorientierten Ökonom_innen teilen diese Sichtweise. Staatliches Handeln wird interpretiert als Ergebnis widerstreitender Interessen, ebenso gut auf das naiv verstandene "Allgemeinwohl" gepolt, wie dagegen. Ein vermeintlich fehlgeleitetes Verhalten der staatlichen Akteure wird auf eine Schieflage politischer Kräfteverhältnisse zurückgeführt, der es vor allem mittels "Demokratisierung" entgegenzuwirken gilt. Der Staat erscheint gleichsam als neutrale Instanz in einem ungesellschaftlichen Außerhalb, die - entsprechende Einsicht und Vernunft ihres Personals vorausgesetzt - als Korrektiv gegen die selbstzerstörerischen Tendenzen und Zwänge des Marktes angerufen werden kann.


Weiter so, nur "anders"?

Unter dem Motto "Überfluss besteuern, in die Zukunft investieren!" appelliert die Kampagne der zivilgesellschaftlichen Allianz (www.wege-aus-der-krise.at) an eben diese Vernunft der Regierenden, um sie in keynesianisches Fahrwasser zu lotsen. Mit umfassenden Investitionen in öffentlichen Verkehr, thermische Sanierung, Bildung, Gesundheit, Pflege etc. und "auch mit einer Kürzung der Arbeitszeit" erhofft sie sich "Antworten auf die soziale Dimension der Krise" und die Grundlage für "ein gutes Leben für alle".

Beinahe gleichlautend fordert die Memorandum-Gruppe ein "mittelfristig angelegtes Zukunftsinvestitionsprogramm": mehr Beschäftigte im öffentlichen Bereich, "sozial-ökologische Regulierung", einen "Umbau der Wirtschaft in Richtung demokratischer Strukturen, weg vom heute einseitig vorliegenden Machtdiktat des privaten Kapitals". Die alternativen Wirtschaftsweisen wähnen mit ihren Forderungen einen "Entwicklungsweg" befördert, der "Wachstum und Wohlstand" nicht vorwiegend "in Beton gegossen" sehen möchte. Die "Allianz" wiederum verspricht sich "erste Schritte in Richtung eines ökologisch nachhaltigeren Wirtschaftssystems". Mittel und Zweck, da wie dort, die Schaffung bzw. Sicherung von Arbeitsplätzen.

Mit jeweils deutlichen Anklängen an den "Green New Deal", ansonsten ganz gemäß dem klassischen keynesianischen Ansatz soll via Erhöhung der öffentlichen Nachfrage für mehr Beschäftigung gesorgt und über die so gesteigerte Massenkaufkraft die Konjunktur in Schwung gebracht werden. 250.000 neue Arbeitsplätze errechnet die "Allianz" auf ihrem Weg aus der Krise.


Verengung auf Verteilungsfragen

Nicht "ein Herumdoktern an Symptomen" nimmt das Programm der Memorandum-Gruppe für sich in Anspruch, "sondern eine Beseitigung der Krisenursachen". Sie versteht "alternative Wirtschaftspolitik" als "Gegenstück zu den neoliberal gewollten Umverteilungen von unten nach oben", in denen - im Verbund mit Entstaatlichung und Deregulierung - die wesentlichen Ursachen für die aktuelle Krise gesehen werden.

Auch für Attac & Co. setzt "ein gutes Leben für alle" vorderhand ein Umleiten von "Überfluss" in "sinnvolle" Bahnen voraus. Mit Nachdruck wird eine "gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen" eingefordert. "Überfluss", hier freilich rein monetär gedacht, soll via deutlich erhöhter Steuern auf Gewinne und Vermögen abgeschöpft, "sinnvoll" investiert und sohin zur Bedürfnisbefriedigung aller nutzbar gemacht werden.

Der Selbstzweck der kapitalistischen Verwertung (als solcher unangetastet) wäre somit in den Dienst der Allgemeinheit gestellt. Die Frage der - politisch richtig oder falsch gesteuerten - Distribution wird ganz zu Unrecht zur eigentlichen "Systemfrage" aufgeblasen, die in der kapitalistischen Produktionsweise selbst wurzelnden Widersprüche und Irrationalitäten dagegen bleiben ausgeblendet.

Zielt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik mit ihren Vorschlägen vorrangig auf den Schutz "des Systems" vor sich selbst ("Es wird einfach nicht begriffen, dass die von Gier getriebenen Spekulationen auf den Finanzmärkten negative Effekte für die Wirtschaft und die Gesellschaft auslösen, ja, eine Systembedrohung darstellen"), so sei Attac & Co. hier freundlich unterstellt, eine Überwindung des marktwirtschaftlichen Konkurrenzsystems zumindest anzustreben. Unglücklicherweise über den Versuch von dessen Reanimation.

Geradezu beschworen wird die "Zurückführung" des Finanzsektors auf eine "dienende", seine "eigentliche" Funktion. "Die Gewinnorientierung hat die Banken von ihren angestammten Aufgaben weggeführt. Anstatt kostengünstige Finanzierung für realwirtschaftliche Aktivitäten bereitzustellen, haben sie aus Profitorientierung ein gefährliches globales Finanzkasino errichtet."

Gerade so, als ob "realwirtschaftliche Aktivitäten" jenseits der Gewinnlogik angesiedelt wären und der ersehnte, reregulierte Kreditfluss nicht zuvorderst die Akkumulation über die Reinvestition bereits realisierter Gewinne hinaus ermöglichte, nichts anderes als die Maximierung des Profits. Komfortable Bedingungen dafür zu schaffen, wäre denn wohl auch in Zukunft erste Pflicht einer "anderen Politik", andernfalls wäre an Abschöpfung ja erst gar nicht zu denken. Wobei die Frage erlaubt sei, wo die neu zu beackernden Felder privatwirtschaftlicher Aktivität zu orten wären. Waren doch die bereits in der Vergangenheit eher mauen Gewinnaussichten in der vielgepriesenen "Realwirtschaft" - also der Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft in der Selbstzweckmaschinerie des Profits - ursächlich für den Run auf das "Kasino". Die genannten Hoffnungsgebiete Bildung, Gesundheit und Pflege können es wohl nicht sein, sollen diese Bereiche doch gerade nicht profitlogisch zugeschnitten werden.


Kapitale Abhängigkeit

Was sagt der Meister selbst? Keynes, in einem Essay über die "wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkelkinder": "... es mag bald ein Punkt erreicht werden, an dem diese Bedürfnisse in dem Sinne befriedigt sind, dass wir vorziehen, unsere weiteren Kräfte nicht-wirtschaftlichen Zwecken zu widmen."

Die "Enkelkinder", ganz im fröhlichen Glauben, die Akkumulation des Kapitals sei sich selbst nicht genug, sondern stehe tatsächlich zuvorderst im Dienste der Deckung dringlichen Bedarfs, pochen auf dessen zweckdienliche Verwendung. So als wäre das Kapital nur fehlgeleitet, irgendwie an seiner wirklichen Aufgabe vorbei. Als wäre nicht stockende Kapitalverwertung der historische Kern der Krise, der im Profitratenfall der 1970er Jahre und den polit-ökonomischen Reaktionen darauf (Reallohnstagnation, Finanzmarktliberalisierung etc.) zu suchen ist, sondern würde das Kapital seiner tatsächlichen Bestimmung nur böswillig vorenthalten und so als sei, wären die "absoluten" (Keynes) Bedürfnisse erst einmal gestillt, der Hunger nach Akkumulation ebenso Vergangenheit.

Solcherart Vorstellung vom "guten Leben" entpuppt sich als nicht viel mehr als die nostalgisch verklärte Erinnerung an vorgeblich "bessere" Zeiten. An die Jahre der anschwellenden Massenproduktion und der massenweisen Vernutzung menschlicher Arbeitskraft - damals, als die Marktwirtschaft noch "sozial" und die Verteilung zwar auch irgendwie ungerecht war, aber eben nicht so sehr, dass die Mehrwertproduktion selbst dabei in Bedrängnis geraten wäre.

Keynes selbst - das ist ihm gegenüber den meisten seiner Adept_innen zugute zu halten - vertrat immerhin keine gänzlich unkritische Vorstellung wirtschaftlichen Wachstums oder der Lohnarbeit. Ein Umstand, der in der heterodoxen Keynesdebatte hervorgehoben wird. So meinte Keynes etwa 1930 in dem oben genannten Essay, dass "das wirtschaftliche Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst sein dürfte ...", nahm aber an, dass "für lange Zeiten ... der alte Adam in uns noch so mächtig sein (wird), dass jedermann wünschen wird, irgendeine Arbeit zu tun, um zufrieden sein zu können. ... Mit Drei-Stunden-Schichten oder einer Fünfzehn-Stunden-Woche kann das Problem eine ganze Weile hinausgeschoben werden. Denn drei Stunden am Tag reichen völlig aus, um den alten Adam in den meisten von uns zu befriedigen!"

Das war freilich die langfristige Perspektive von Keynes. Auf absehbare Zeit sollte der Staat dagegen danach trachten, Vollbeschäftigung durch eine entsprechende Investitionspolitik zu schaffen - ein Programm, das Keynes in der "General Theory" von 1936 skizziert: "Der Staat wird einen lenkenden Einfluss auf die Konsumneigung teils durch sein Steuersystem, teils durch die Fixierung des Zinssatzes, teilweise vielleicht noch auf andere Weise auszuüben haben". (Übers. aller Zitate A.E.) Da Keynes dem Bankensystem nicht zutraut, den Zinssatz im Sinn der "optimalen Investitionsrate" zu manipulieren, schlägt er einen weitergehenden Ansatz vor: "Deshalb, so denke ich, wird eine ziemlich vollständige Sozialisierung der Investitionen sich als das einzige Mittel erweisen, annähernde Vollbeschäftigung zu erreichen; dies schließt nicht notwendigerweise alle möglichen Arten von Kompromissen und Instrumenten aus, mit der die öffentliche Gewalt mit der privaten Initiative kooperieren wird". Im selben Atemzug verwahrt Keynes sich freilich gegen ein "System des Staatssozialismus" und hält fest: "Es ist nicht das Eigentum an Produktionsmitteln, das der Staat in die Hände bekommen muss".

Doch auch in der "General Theory" kommt Keynes auf eine Perspektive zu sprechen, die nicht in das übliche Bild keynesianisch inspirierter Politik passen will, dass nämlich der Zinssatz langfristig gegen Null gehen müsse: "Ich bin mir sicher, dass die Nachfrage nach Kapital strikt limitiert ist, und zwar in dem Sinn, dass es nicht schwierig wäre, den Kapitalstock bis zu dem Punkt auszudehnen, wo seine Grenzeffizienz auf einen sehr tiefen Wert gefallen wäre. Das würde bedeuten, dass die Nutzung der Produktionsmittel fast nichts mehr kosten würde...". Unter diesen Umständen, so meint Keynes, würden die Einnahmen der Unternehmen nur mehr die Produktionskosten plus einen Aufschlag für Managementaufgaben und das Risiko ausmachen, und er schließt daraus: "Obwohl nun diese Lage der Dinge recht gut mit einem gewissen Individualismus verträglich wäre, so würde dies doch die Euthanasie des Rentiers bedeuten, und folglich die Euthanasie der kumulativen Unterdrückungsmacht des Kapitalisten, den Knappheitswert des Kapitals auszubeuten."

Ins Auge fällt hier nicht nur, dass Keynes offenbar die Renditewünsche der "Rentiers" als Ursache der Akkumulation angibt, sondern auch ein naives Vertrauen in die "Vernünftigkeit" des Staates und seine Fähigkeit, eine "Sozialisierung der Investitionen", also eine umfassende Investitionslenkung, ins Werk zu setzen. Dies soll noch dazu ohne einen Angriff auf das Privateigentum geschehen.

Diese Widersprüche bei Keynes selbst setzen sich bei seinen "Enkelkindern" fort. Die Kunstfigur des "Rentiers" steht wieder im Kreuzfeuer von Kritik und mehr noch im Zentrum des Ressentiments; der Staat gilt nach wie vor als eine Verkörperung des "allgemeinen Wohls"; und nicht selten tritt eine vage Kritik des wirtschaftlichen Wachstums zusammen mit dem Glauben auf, der Staat könne in irgendeiner Art die wirtschaftliche Entwicklung planen und entsprechend steuern. Weitreichende Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen sind in linkskeynesianischen Kreisen heute ebenso tabu wie für Keynes, von einer Aufhebung des Eigentums schon gar nicht zu reden.


Der Staat sind wir, bin ich!

Der exzessive Bezug weiter Teile der globalisierungskritisch gesinnten sozialen Bewegungen auf Keynes ist Symptom einer generellen Malaise. Anstatt von den eigenen Strebungen, Sehnsüchten und Leiden auszugehen, nach Verbindungen zu anderen, ähnlich gelagerten Erfahrungen zu suchen und sich auf solcher Grundlage für ein besseres Leben zu organisieren, wird die Gesellschaft mit dem Blick des Staates betrachtet, agiert und argumentiert als Einflüsterer der Regierung, als Berater der Machthaber.

Der Berater ist auf Ordnung aus, sein Zauberwort ist Regulierung. Der sprachliche Kontext dieses Begriffs verweist auf Flüsse und auf Zähne. Dies ist kein Zufall. Die Regulierung unterstellt ein zu Regulierendes, das problematisch, aber grundsätzlich brauchbar ist. Wie die Wildwasserverbauung einen Fluss nicht austrocknen, sondern harmlos machen und die Spange die Zähne nicht ziehen, sondern ansehnlich machen soll, so soll Regulierung den Selbstzweck der Kapitalakkumulation keineswegs aushebeln, sondern irgendwie den Menschen dienstbar machen.

Der staatsförmige Blick auf die Gesellschaft ist der Blick der Kontrolle, der Disziplinierung, der obrigkeitlichen Ordnung. Er existiert nur in der Vorstellung jener, die sich der abstrakten Allgemeinheit "Staat" und ihrer polizeilich-militärischen Konkretisierung unterwerfen - und diese damit überhaupt erst ins Leben rufen. Der reelle Staat blickt nicht, er denkt und handelt nicht, existiert nicht als Subjekt. Was hier als Subjekt erscheint, ist eine zerklüftete Apparatur von Disziplinierung und sozialen Kämpfen, die darum toben - innerlich gebrochen, inkohärent und erratisch, ständig im Fluss.

Die Subjekthaftigkeit des Staates ergibt sich aus der Entsubjektivierung seiner Glieder. Wo eine reelle Gemeinschaftlichkeit nicht besteht, die Einzelnen aber de facto nur in Gemeinschaftlichkeit bestehen können, entsteht "er", der Fetisch der Gemeinschaft. Die Gemeinschaftlichkeit der Menschen wird zu einer fiktiven Gestalt, die menschlicher Projektion entspringt, von ihren reellen Beziehungen abgehoben, scheinbar mit einem eigenen Leben, eigener Macht begabt. Nur durch den Bezug auf "ihn", den Staat, gewinnen die Menschen Beziehung - so verkehrt spielt es sich in den Köpfen ab. Der Staat zeigt dabei ähnlich wie Arbeit, Ware und Kapital einen abstrakt-konkreten Doppelcharakter, ist Einheit zweier widersprüchlicher Momente.

Die abstrakte Allgemeinheit der "Gemeinschaft selbst" erscheint konkret als Polizei und Militär, als ein besonderer Körper der Gemeinschaft, der im gegebenen Fall an die leere Stelle der gemeinschaftlichen Halluzination von Gemeinschaft tritt. Umgekehrt erscheinen Polizei und Militär nicht als konkrete Trupps Bewaffneter, sondern als Verkörperungen der abstrakten Allgemeinheit. Die Möglichkeit ins Gefängnis zu kommen besiegelt nicht den Ausschluss, sondern gerade die Zugehörigkeit zur staatlich verfassten Gemeinschaft. Zugehörigkeit durch Einschluss.

Und ähnlich wie das Kapital, dem das Alltagsbewusstsein ebenso gern einen sich selbst bewussten Zweck und eine ungebrochene Einheit unterstellt, die es nicht hat, wird der Staat als ein Übersubjekt suggeriert, das für die ihm Untergeordneten sorgt oder sorgen soll, die Spekulanten an die Leine zu legen hat und ganz allgemein damit beauftragt ist, zu tun, was "die Mehrheit will". Weil der Staat nun nicht das "tut", was er laut Meinung vieler Staatsangehörigen tun soll, versetzt man sich flugs in die Position der Phantasiefigur, die man im Kopf hat: eines Souveräns, der hegt und straft und reguliert. L'état c'est moi, der Staat bin ich, so lautet der unausgesprochene Ausgangspunkt der sozial bewegten Keynesgemeinde.

Was damit unterstellt und befestigt wird, ist die Einbildung, das Leben der Gesellschaft, das sich aufgrund seiner besonderen (bürgerlichen) Struktur in Staat und zivile Gesellschaft spaltet, wäre etwas anderes als die sozialen Beziehungen selbst. Anstatt diese zu verändern, aus denen der Staat hervorgeht, wird Veränderung über "ihn", das vermeintliche Subjekt der Macht, angestrebt. Die keynesianisch geprägte Identifikation mit dem Staat ist deshalb im wörtlichen Sinne kindlich. Des Staates Personal ist nicht nur de facto immer noch ein Männerbund, dem seine Politik entspricht, sondern erstens ist der Staat schon als solcher patriarchal bestimmt und zweitens, genauer noch, als der Familienvater, als der Patriarch schlechthin: zur Gewährleistung der Kontinuität, der Sicherung des Lebens, der Regelung der Fortpflanzung, zur Strafe der Bösen und zur Ermunterung der Guten, zur Stärkung der Schwachen und um die Starken in ihre Schranken zu weisen. Die Kindposition des keynesianischen Standpunkts hat im Gestus des Patriarchen, den man bei wirtschaftspolitischen Vorschlägen und Forderungen nimmt, ihr Pendant: Die neoliberale Deregulierung (de facto nur eine andere Art der Regulierung) wird als Tat eines harten Vaters imaginiert, der Mutter und Familie vernachlässigt, die stärkeren Brüder schalten und walten lässt, ja, ihnen sogar die schwächeren Geschwister dienstbar macht und sie für Vergehen bestraft, deren sie sich gar nicht schuldig gemacht haben, zur Rettung braucht es den guten Vater, der für eine gerechte Ordnung sorgt.

Der gute Vater ist freilich nicht weniger patriarchal. Seine (vermeintlich aus ihm selbst entspringende) Macht erhält er aus der monopolistischen Verfügung über die legitimen Mittel der Gewalt - Mittel, die legitim "sind", weil sie als legitim anerkannt werden und so als lender of last resort der Disziplinierungsprozedur zur Verfügung stehen. Wer nicht hören will, muss fühlen, sagt auch der gute Vater.

Der Staat als "materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses" (Nicos Poulantzas) ist eine Verdichtung von Verhältnissen der Unterordnung: zwischen Kapital und Lohnarbeit, "Mann" und "Frau", Einheimischen und Zugewanderten, Mehrheiten und Minderheiten, Mensch und Natur. Die Beziehung der Individuen auf das verdichtete und scheinbar außer ihnen existierende, also fetischisierte Verhältnis der Unterordnungen ist selbst ein Verhältnis der Unterordnung. Es erfordert Zustimmung und Konstanz, andernfalls endet der Versuch der Unterordnung, der Versuch, Menschen zu einem Mittel zu degradieren, mit Vernichtung entweder der Unterzuordnenden oder der Unterordnenden. (Geschichtlich selten ist der Fall, dass ein Vorhaben der Unterordnung einfach aufgegeben wird.)

Der staatsförmige Blick der keynesianisch Bewegten zieht also die Vorstellung des organisierten, geregelten, normierten Menschen, des organisierten Lebens im Unterschied zur Selbstorganisation nach sich. Der Staat kann nur existieren, wo Selbstorganisation nicht existiert. Eine gesellschaftliche Selbstorganisation, die ihren Kontext und ihre Form verändern kann, ist mit Staat unverträglich. Umgekehrt verträgt sich die staatliche Regulierung nicht mit einer Selbstorganisation der Individuen, die massenhafte Dimension erhält, ihre Beziehungsform transformiert und damit die Individuen selbst.

Weil aber Selbstorganisation als Ausdruck von Autonomie ein irreduzibles Moment des Menschen (und damit auch der kapitalistischen Produktionsweise) darstellt, schlagen sich selbstorganisierte Bewegungen früher oder später auch im Staat nieder, wenngleich in einer erstens durch das Erfordernis der Selbsterhaltung seines Personals und zweitens der Selbsterhaltung der Kapitalakkumulation gebrochenen und selektiven Form. Die Akkumulation des Kapitals ist Quelle der Mittel staatlichen Handelns. Wo das Kapital nicht akkumuliert, wird auch nicht in größerem Umfang produziert. Und wo nichts zu besteuern ist, gibt es keinen Steuerstaat. Die Akkumulation ist über ihren Beschäftigungseffekt auch eine wesentliche Quelle der Legitimität staatlichen Handelns, das in die Krise gerät, wenn Steuereinnahmen für "soziale Leistungen" aufgrund von Akkumulationsschwäche sinken und Beschäftigte aus dem Arbeitsprozess ausgestoßen werden.


Optische Täuschung

Die Attraktivität von Keynes und des Bezugs auf vermeintliche Steuerungspotenziale des Staates verdankt sich jedoch nicht nur der verdeckten autoritären Prägung vieler Aktivist_innen in den sozialen Bewegungen, die aus dem Gefühl der Schwäche heraus einen vermeintlich Starken, den Vater Staat, anrufen und mit vernünftigen Argumenten von der Rechtmäßigkeit ihres Begehrs in Kenntnis setzen und auf ihre Seite ziehen oder sich selbst gedanklich an seine Stelle setzen wollen - denn diese Orientierung bildet die Peripherie des Autoritarismus, dessen bekannte Zuspitzungen ja nicht isolierte Inseln in einer anti-autoritären Gesellschaft formen, sondern sich vielmehr aus einem weiten Feld hierarchiegläubiger und obrigkeitsfokussierter Einstellungen in der Gesellschaft erheben, wozu eben auch große Teile der sozialen Bewegungen beitragen.

Ein wesentliches Moment der keynesianischen Fixierung ist neben einem verdeckten Autoritarismus auch eine Art von optischer Täuschung. Weil erstens in den 1950er und 1960er Jahren Prosperität und, so wird behauptet, eine "demokratische Aushandlung" wichtiger Fragen existierten, und zweitens die Keynessche Theorie das offizielle Instrumentarium der Wirtschaftspolitik darstellte, sei die sich keynesianisch gebende Wirtschaftspolitik Ursache der Prosperität gewesen. Im österreichischen Kontext einer schwachen Tradition militant-autonomistischer Selbstorganisation und der sich daraus ergebenden starken Staatsfixierung verdichten sich Autoritarismus und optische Täuschung in einer hartnäckigen Kreisky-Nostalgie, die sich dem historischen Zufall der personellen Passung eines Patriarchen der guten, keynesianischen Bauart mit dem Strukturpatriarchen Staat ergab. Wohlgemerkt: Hier ist die Rede von strukturellen Phänomenen, die keine Frauenministerin der Welt verändern kann, solange sie Ministerin eines Staates ist.

Es ist den tiefer gehenden autoritären Prägungen geschuldet, dass sich auf der Ebene der polit-ökonomischen Analyse nicht viel gegen diese optische Täuschung ausrichten lässt. Die Argumente sind oft entwickelt worden, und seien hier nur kurz zusammengefasst. Die Zeit zwischen 1914 und 1945 war von einer systemischen Krise geprägt, die das politische System auf internationaler und nationaler Ebene ebenso wie das ökonomische, globale System umfasste. Die Frage, ob die Krise von einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft abgelöst oder aber in einem brutalen Akt "schöpferischer Zerstörung" (Joseph Schumpeter) Durchsetzungsphase eines neuen Akkumulationsregimes sein würde, fand ihre Schreckensantwort in letzterer Option. Der Zweite Weltkrieg war nur oberflächlich ein Desaster für das deutsche und österreichische Kapital. Tatsächlich waren die intensivierte Ausbeutung der Lohnabhängigen, die endemische Zwangsarbeit und nicht zuletzt die Aneignung von Ressourcen und Produktionsmitteln in den besetzten Gebieten Grundlage einer verbesserten Mehrwertrate. Die Erfolge der kriegerischen "Akkumulation durch Enteignung" (David Harvey) wurden durch die anhaltende Offensive des Kapitals gegen die Lohnabhängigen in den 1950er Jahren konsolidiert und erweitert. Niedrige Reallöhne, eine in den Produktionsschlachten des Krieges modernisierte Infrastruktur und nicht zuletzt die in Schützengräben und an der "Heimatfront" disziplinierte Arbeiter_innenklasse schufen die Voraussetzungen für das nachfolgende "Wirtschaftswunder". Marshallplan und Wiederaufbau spielten dafür keine entscheidende materielle (wiewohl eine wichtige ideologische) Rolle.

Die wesentliche soziale Neuerung des Faschismus in seiner italienischen wie deutschen Ausprägung war die "Sozialpartnerschaft" zwischen Kapital und Arbeit. Während tripartistische Arrangements zwischen Staat, Kapital und Arbeit, die der Krieg zur Steigerung der Arbeitsdisziplin erzwang, nach dem Ersten Weltkrieg wieder in der Versenkung verschwunden waren, wurden sie nach dem Zweiten Weltkrieg zum festen Bestandteil der post-faschistischen Gesellschaften. Die "Sozialpartnerschaft" erfüllte weniger die Funktion einer Abstimmung sachlich-wirtschaftspolitischer Natur, sondern die einer Disziplinierung der Arbeiter_innenklasse. Angemerkt sei an dieser Stelle lediglich, dass die Ansicht, der Neoliberalismus hätte zu einer "Aushöhlung" demokratischer Verfahrensweisen geführt, nicht einmal eine optische Täuschung ist, sondern schlicht falsch. Der von Poulantzas Ende der 1970er Jahre so genannte, sich damals im Vorlauf zur neoliberalen Konterrevolution der 1980er Jahre entwickelnde autoritäre Etatismus beschreibt zweifelsohne eine veränderte Ausprägung des Staates. Dies allerdings nicht vor dem Hintergrund seliger keynesianischer Nachfragesteuerung und "Sozialpartnerschaft", sondern als Gegenangriff auf die militant-autonomistischen Bewegungen nach 1968.

Solange die Forderungen nach mehr Lohn und weniger Arbeit sich in die Grenzen der aufgrund der Modernisierungsleistung des Krieges (vor allem der Einführung und Ausweitung von Fließbandtechnologie) hohen Produktivitätszuwächse bannen ließen, unterfütterte der Reallohnzuwachs eine dynamische, von hohen Profitraten angetriebene und durch weite Territorien der inneren "Landnahme" (Burkhart Lutz) für die Warenproduktion begünstigte Akkumulation. Keynesianische Politik spielte dafür keine wesentliche Rolle.

Mit den Bewegungen nach 1968 zerbrach der gesellschaftliche Konsens, auf dem die keynesianische Regulationsweise beruhte. Die Reallohnzuwächse begannen die Produktivitätszuwächse zu übersteigen, zulasten der Profite. Weitere Produktivitätszuwächse gingen aus technologischen Gründen, aber auch aufgrund zunehmender Arbeiter_innen-Militanz zurück, während der Kapitalaufwand wuchs. Es sank die Profitrate, die Akkumulation ging zurück und im Gegenzug wuchsen Erwerbslosigkeit, staatliche Haushaltsdefizite und die Inflation. Dazu kam, dass mit dem Aufholen der Kriegsverlierer Japan und Deutschland und der nachlassenden Konkurrenzfähigkeit der USA das System von Bretton Woods (Wechselkursbindung, Kapitalverkehrskontrollen, Goldstandard des Dollars) aufgelöst wurde, die Hegemonie der USA ins Wanken geriet und damit die relative internationale Stabilität der "Wirtschaftswunderjahre". Kurzum: Keynesianische Politik war vor allem eine Ideologie - als solche ein wichtiges Moment der Herrschaftsstabilisierung in den 1960er Jahren, aber keinesfalls eine Perspektive für heute.

Der vor kurzem verstorbene Jörg Huffschmid schrieb in seiner theoretischen Grundlegung von Attac, der "Politischen Ökonomie der Finanzmärkte" (1999) von einer "historischen Alternative", die sich Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zwischen "Vertiefung oder Aufkündigung der Reform" - womit er die Ausbreitung der keynesianischen Ideologie und den internationalen Apparat von Bretton Woods meinte - gestellt hätte. Tatsächlich lag die aus emanzipatorischer Sicht wesentliche Entscheidung in der Zeit von Mitte bis Ende der 1970er Jahre. Die fortschreitende Unterminierung repressiver Ideologien und disziplinierender Arrangements inklusive "keynesianischer Wirtschaftspolitik" hätte ab diesem Punkt auch einer breiten Bewegung hin zu einer alternativen Form der Reproduktion abseits von Staat, Markt und Kapital bedurft. Die Welle der Unterdrückung und Vernichtung der antisystemischen Bewegungen im Verlauf der 1970er Jahre und der Kooptation ihrer Ausläufer in den 1980ern bereitete dem jedoch ein Ende. Vorerst.


Der wirkliche Ausweg

Auf der Suche nach schnellen Auswegen aus der Krise verfällt die nach wie vor mehrheitlich neoliberalismuskritische Linke prompt wieder der oberflächlichen Praxistauglichkeit des Keynesschen Maßnahmenkatalogs. Ansätze einer grundlegenden Systemkritik, die mittlerweile etwa in der Attac-internen Debatte durchaus breiten Raum einnehmen, bleiben gegenüber scheinbar "realistischen", breit "anschlussfähigen" fiskal- und konjunkturpolitischen Forderungen nachrangig - beziehungsweise wird der langfristige Umstieg in ein "anderes Wirtschaftssystem" als eine Art zweistufiges Verfahren vorgestellt. Wogegen wenig einzuwenden wäre. Es braucht die massenhafte Verweigerung gegenüber weiteren Zumutungen im Krisenzusammenhang ganz unmittelbar. Die jüngsten Ankündigungen von Regierungsseite schreien geradezu nach Mobilisierung, um drohende Repressalien gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft abzuwehren, der Kampf um Rahmenbedingungen für gesellschaftliche Selbstorganisation, er stünde notwendig auf der Tagesordnung. Auch Vermögenssteuern sind kurzfristig äußerst brauchbar, andernfalls wird der vermeintlich notwendige "Sparzwang" vom "sozialen Netz" kaum mehr als einzelne Fäden übriglassen.

Was es nicht braucht, ist das Schüren illusionärer Hoffnungen auf ein alternatives Regierungsprogramm. Der krisenbedingt erzwungene Anstieg der staatlichen Interventionen ist entgegen mancher Darstellung kein Indikator vorhandener Spielräume für regulierende und umverteilende Maßnahmen, ebenso wenig sind die in Panik geschnürten Rettungspakete Beweis für eine grundsätzliche Gestaltungsmacht der Politik, sie verdeutlichen lediglich deren Ohnmacht.

Es ist dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs zweifellos Positiveres abzugewinnen, als mittels staatlich subventionierter Verschrottung die Überkapazitäten der Autoindustrie zu mindern. Mehr Geld für "Sinnvolles", die Umlenkung monetärer Mittel dahin, wo sie fehlen - wer würde nicht zustimmen?

Perspektive lässt sich damit allerdings keine verbinden. Im Gegenteil: Insoweit der dringend notwendige Abschied von der fossilen Ressourcenbasis in den keynesianischen Ideen eng an Kapitalwachstum gebunden wird, torpediert er sich selbst. Es gilt ja weite Bereiche der Produktion schlicht stillzulegen - netto kommt da kein Wachstum mehr heraus. Und wo sollen die investiven Mittel für den Öko-Umbau herkommen, wenn das Wachstum des Gesamtkapitals aus ökonomischen und absehbar auch aus ökologischen Gründen zum Erliegen kommt? Davon abgesehen ist es schon rein technisch nicht möglich, das herrschende, an kapitalistische Produktionslevel gebundene Konsumvolumen umstandslos und von heute auf morgen mit erneuerbarer Energie zu speisen.

Und schließlich: Sollen wir etwa keine thermische Sanierung vornehmen oder Energiekooperativen aufbauen, nur weil das Kapital uns nicht das Geld dafür zur Verfügung stellt? Das wäre angesichts des Klimawandels und Peak Oil wahnwitzig. Angesichts der bestehenden Illusionen über einen kapitalistischen Ausweg aus der Krise freilich erscheint die Art, das Problem so zu stellen, wie der reinste Wahnwitz. Das Maß der Realität liegt dabei jedoch nicht beim Kapital und seinen keynesianischen Anhänger_innen - ob die sich von der fixen Idee, es müsse mit dem Kapitalismus doch noch irgendetwas halbwegs Erträgliches anzustellen sein, aus Verzweiflung, Ohnmacht, Phantasielosigkeit, Opportunismus oder anderen Gründen nicht lösen wollen, ist in dem Zusammenhang letztlich bedeutungslos. Die Realität ist, dass es keine Alternative gibt zu einer Alternative, die aus Warenproduktion und Staat herausführt.

Das "gute Leben" als Abfallprodukt gelingender gesamtgesellschaftlicher Wertverwertung, es war und ist so nicht zu haben. Holen wir raus, was noch zu holen ist, aber vergeuden wir keine Zeit mit dem Versuch, den Karren wieder flott zu kriegen, der zieht uns nur mit in den Sumpf. Die Abhängigkeit vom Kapital (und damit von der Lohnarbeit) muss Schritt für Schritt reduziert, Auskommen und Einkommen müssen entkoppelt werden. Nicht die Nachfrage gilt es zu stimulieren, den Aufbau von Alternativen gilt es zu fördern. Nicht "Beschäftigung" ist gefragt, sondern freie Verfügung über die eigene Zeit. Nicht das Festklammern an Geld und Tausch, sondern der zunehmend freie Zugang zu Gütern und Leistungen ist Zukunftsprogramm.

Das gute Leben für alle, es wäre längst zu haben. Der Umweg über die kapitalistische Verwertung allerdings führt dran vorbei und mit Fortschreiten der Krise immer weiter davon fort.

Raute

Der bürgerliche Staat

Kritik und Alternativen

von Alfred Fresin

Der bürgerliche Staat übt per Staatsgewalt Herrschaft über ein Staatsvolk in einem gewissen Territorium aus. Er beansprucht diesbezüglich das Gewaltmonopol. Seine heutige Herrschaftsform ist die Demokratie, seine Wirtschaftsform der Kapitalismus. Der Zweck dieses Staates besteht in der Benutzung der kapitalistischen Wirtschaft, um seinen nationalen Reichtum und seine nationale Macht zu erhalten bzw. zu vergrößern.

Der bürgerliche Staat und dessen Gewalt haben sich weitgehend von der Abhängigkeit bestimmter Personen emanzipiert. Der Monarchenspruch "Der Staat bin ich" würde heutzutage von keinem Regierungschef oder Präsidenten verkündet werden können. Der bürgerliche Staat hat sich eine Dreiteilung der Gewalt in Legislative, Judikative und Exekutive verordnet, deren Prinzipien jeweils unabhängig von bestimmten Regenten funktionieren. Ein Heer von Beamten ist mit Staatsangelegenheiten beschäftigt, deren Grundlage Gesetze, Verordnungen und Bescheide sind. Wesentlich für moderne Staaten ist, dass die Ausübung der Gewalt nicht mehr durch bestimmte Personen kraft ihrer Stellung (z.B. Adel) ausgeübt wird. Die Regierenden, die alle paar Jahre ausgewechselt werden, und deren Mannschaft mögen zwar jeweils individuell unterschiedlichen Charakters sein, im Vollzug der Staatsangelegenheiten sind sie, marxistisch gesprochen, Charaktermasken, die das vollziehen, was gemäß des Zwecks des bürgerlichen Staates ansteht.

Schon bei der Entstehung der bürgerlichen Staaten ist Gewalt im Spiel. Sie haben sich ihre Ökonomie kraft ihrer Gewalt (und nicht umgekehrt die Ökonomie den Staat) eingerichtet, die als Kapitalismus bzw. Marktwirtschaft bezeichnet wird. Das heißt nicht, dass der bürgerliche Staat den Kapitalismus erfunden hat. Die Machthaber bezogen sich auf schon vorhandene ökonomische Entwicklungen und Gegebenheiten und sahen darin die Möglichkeit, Staatsmacht bzw. Souveränität besser voranzubringen als mit einer feudalen Wirtschaft.

Der bürgerliche Staat gibt sich eine Verfassung, die in seinem Staatsgebiet per Staatsgewalt gilt. Zu den Grundprinzipien, die der bürgerliche Staat in seiner Verfassung (bzw. Staatsgrundgesetz) festhielt und festhält, zählen Gleichheit und Freiheit der Bürger.

Gleichheit bedeutet die Gleichheit vor dem Gesetz - siehe dazu die Österreichische Bundesverfassung Artikel 7: "Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen...". Unterschiedslos sollen für alle die Gesetze und damit auch die Prinzipien der eingerichteten Ökonomie gelten.

Freiheit lt. Verfassung heißt, dass sich jeder frei mit seinen privaten Mitteln (Eigentum) verdingen kann. Die Bürger sind also nicht Eigentum von anderen Bürgern (wie Sklaven) oder gewissen Bürgern von der Geburt bis zum Tod verpflichtet (wie Leibeigene). (Siehe dazu vor allem die Artikel 4, 6, 7, 8 des Österreichischen Staatsgrundgesetzes.)

Dieser Staat bezieht sich auf eine Ökonomie, die aus "freien" Warenbesitzern besteht. Die existenzielle Grundlage der Untertanen beruht auf dem Verkauf und Kauf von Waren auf dem Markt. Da treten sie tatsächlich formal als Gleichberechtigte und Konkurrenten auf. Unangenehm ist das allerdings für den Großteil der "Marktteilnehmer", denn sie besitzen nur die Ware Arbeitskraft und müssen sich als Lohnarbeiter verdingen. Der "stumme Zwang" der in Kraft gesetzten ökonomischen Verhältnisse scheidet die Gesellschaft in Warenbesitzer und Warenhersteller - die Produzenten sind von ihrem produzierten Reichtum ausgeschlossen, denn die Waren sind Eigentum des kapitalistischen Unternehmers, und "Eigentum ist unverletzlich" (Artikel 5 des Österreichischen Staatsgrundgesetzes).

Auf diese Crux der Klassengesellschaft bezieht sich die Gesetzgebung mit der nötigen (Staats-)Gewalt unterfüttert. (Privat-)Eigentum ist die Grundlage für die kapitalistische Warenwirtschaft. Für den Bürger gilt: Sich an fremdem Eigentum zu vergreifen, ist Unrecht und wird bestraft. Da braucht es schon eine Gewalt, die dafür sorgt, dass dieses Prinzip auch praktisch gilt. Sie garantiert in dieser Gesellschaft das Eigentum als Rechtstitel - was ökonomisch bedeutet, dass Eigentum in dieser Gesellschaft seinen vornehmlichen Wert im Tauschwert und einen reflexiven Bezug auf sich selbst hat, nämlich sich zu vermehren vor allem in Geldform.

Der Staat garantiert ebenso die "Macht" des Geldes, des universellen Tauschmittels, mit der die Warenwelt erschlossen werden kann. An Geld kommen zu müssen, um leben zu können, kennzeichnet die Brutalität der Ökonomie des bürgerlichen Staats - denn Geld wächst nicht auf Bäumen. Alle sind auf das Geld als "Lebensmittel" verwiesen. Der Staat hat die Geldhoheit, er allein verleiht Papierzetteln kraft seiner Gewalt die Gültigkeit als Geld. "Du sollst keine anderen Gelder neben mir haben, ich bin einzig und alleine für das Geld in meinem Staat zuständig" ist das gewaltträchtige Gebot des Staates. Denn Geld ist schließlich der Reichtum, auf den es im Kapitalismus ankommt, auf den nicht nur die Bürger, sondern auch der Staat scharf sind. (Auf Gold und Goldraub ist der moderne Staat nicht mehr angewiesen, und heutzutage gehen Staaten nicht wegen eines Mangels an Gold pleite.) Die Anerkennung der monetären Papierzettel wird per Gewalt hergestellt - das Vertrauen in deren Wertigkeit ergibt sich allerdings aus dem (inter)nationalen Erfolg der jeweiligen nationalen Wirtschaft. Auch wenn es Staaten nicht darauf anlegen, so können sie sich im Unterschied zu ihren Bürgern im Prinzip grenzenlos verschulden - Pleite gehen können sie schon, aber das sieht anders aus als bei ihren Untertanen und bedeutet nicht, dass ihre Gewalt ausgedient hätte und der Staat aufhört zu existieren wie eine Firma mit ihrem Konkurs.

Die Gewalt des Staates bezieht sich nicht bloß auf sein Staatsgebiet, sondern geht auch nach außen - bürgerliche Staaten sind imperialistisch unterwegs, ob nun mit der Armee in Eigenregie, im Rahmen der NATO, der UNO oder ganz "friedlich" mit den sogenannten "Handelsbeziehungen". Zwar anerkennen sich Staaten im Handel als sozusagen gleichberechtigte Vertragspartner - doch da es keine allgemeine Weltgewalt gibt, ist diese Anerkennung dann letztlich auch nur so gut wie die jeweils nationale Gewalt, die hinter ihr steht. Wenn nationale Interessen inakzeptabel beeinträchtigt werden (da ist die jeweilige Interpretation sehr unterschiedlich), dann wird auch die Gewalt zum Einsatz gebracht. Schon alleine, um dem gewappnet zu sein, um sich die staatliche Souveränität nicht so ohne weiteres streitig machen zu lassen, bedarf es auch bei kleinen Staaten einer (Auf-)Rüstung.


Die ideologische Verbrämung von Staatsgewalt und Recht

In der Regel wird die Notwendigkeit der Staatsgewalt nicht aus den politökonomischen Verhältnissen dieser Gesellschaft abgeleitet, sondern aus der Natur menschlichen Verhaltens mit dem Verweis auf die prinzipiell unverträgliche Menschennatur ("Homo homini lupus").

Auch hierbei stellt der bürgerliche Verstand alles verkehrt dar (wie Marx in anderen Zusammenhängen so treffend nachweist). Aus der Tatsache, dass die Bürger beim Bestreiten ihrer Reproduktion und in der Konkurrenz notwendigerweise auf Gesetze und deren Einhaltung verwiesen sind (z.B. Anerkennung und Einhaltung von Verträgen), wird eine Naturnotwendigkeit für Staatsgewalt schlechthin. Es ist doch gerade der Staat, der mit seinen Gesetzen, mit denen er den Kapitalismus installiert und durchsetzt, permanente Interessensgegensätze schafft, die von "Natur" aus gar nicht auftreten, z.B. den Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital. Er verpflichtet alle auf das Privateigentum und das Geld und setzt den Ausschluss der Produzenten von dem von ihnen produzierten Reichtum in Kraft, er legt die Unternehmer und Arbeitnehmer auf die Konkurrenz fest. Im bürgerlichen Bewusstsein erscheint der Staat als eine Art Schiedsrichter bzw. Schlichtungsinstanz von immer schon gegebenen Animositäten.

Ähnlich verhält es sich bei den vom bürgerlichen Staat definierten Grundrechten Freiheit und Gleichheit. Sie werden als gleichsam naturgegebene, dem Menschsein innewohnende Wesenszüge betrachtet ("Menschenrechte"). Diesbezüglich stellt sich die Frage, weshalb es eigentlich einer Gewalt bedarf, welche die natürlich vorgegebenen Rechte definiert - sie würden ja ohne Zutun der Gewalt natürlich gelebt werden. Rechte sind nichts "Natürliches", sie werden immer von Gewalten definiert und verliehen, und zwar mit einem bestimmten Bezug versehen. Gleichheit der Bürger wäre als allgemeiner Grundsatz absurd, da Menschen nun mal individuell verschieden sind. Die Geltung des gleichen Rechts für alle im bürgerlichen Staat ist auf die Gesetze bezogen, welche für die ökonomischen Ungleichheiten bei den Bürgern sorgen. Freiheit als allgemeiner Begriff ist ebenso absurd. Per se ist der Wille des Menschen frei - Substanz bekommt der Begriff erst, wenn der spezifische Gehalt der Freiheit angegeben wird: frei von materieller Not, frei von bestimmten Zwängen etc. Hinsichtlich der Befreiung von materieller Not und den ökonomischen Zwängen findet sich keine Verpflichtungserklärung in der bürgerlichen Verfassung (wie z.B.: Als Staat garantiere ich jedem die Freiheit von materieller Not und von Ausbeutung der Arbeitskraft.). Historisch gesehen bezieht sich das Freiheitsgebot des bürgerlichen Staates auf die Befreiung von der Leibeigenschaft. Jeder kann, frei von Unterwerfung unter irgendeine andere Privatperson, am Markte kaufen und verkaufen, auch wenn es nur seine Arbeitskraft ist.

Es wäre auch krumm, dem Staat vorzuwerfen, die Rechte seien mangelhaft oder überhaupt nicht verwirklicht. Solche Kritiker beziehen sich zwar auf diese vom bürgerlichen Staat in die Welt gesetzten Rechte, machen sich aber ihre eigenen Idealvorstellungen davon und halten dies dem Staate bzw. den Bürgern vor (siehe auch Abschnitt "Demokratie"). Sie unterliegen außerdem einem Fehler, den Marx schon anno dazumal bei einigen Genossen festgestellt hat: "Die deutsche Arbeiterpartei - wenigstens, wenn sie das Programm zu dem ihrigen macht - zeigt, wie ihr die sozialistischen Ideen nicht einmal hauttief sitzen, indem sie, statt die bestehende Gesellschaft (...) als Grundlage des bestehenden Staats (...) zu behandeln, den Staat vielmehr als ein selbständiges Wesen behandelt, das seine eignen 'geistigen, sittlichen, freiheitlichen Grundlagen' besitzt." (in "Kritik des Gothaer Programms") Die Genossen verkennen den Staat, wenn sie ihn gegen die Ökonomie hochhalten und ihn freier und gleicher gestalten wollen. Nach dem Motto: Der Staat wäre dann im Sinne des Proletariats, würden seine Prinzipien Freiheit und Gleichheit so richtig wahr gemacht.


Wie bezieht sich der Staat auf seine Bürger?

Der Staat sieht für alle Lebensbereiche der Staatsbürger Gesetze vor. Dabei achtet er stets darauf, dass sich seine Bürger im Sinne der Mehrung des kapitalistischen Reichtums betätigen können. Bei all dieser Einmischung geht es dem Staat also nicht nur um die Kodifizierung der Interessensgegensätze, sondern auch um die Erhaltung der Funktionalität der Bürger für den Staatszweck.

Was die Arbeiterklasse betrifft, so haben diesbezüglich einige Nationen den sogenannten Sozialstaat eingerichtet. Historisch gesehen hatte der geistige und körperliche Zustand der Arbeiterklasse den bürgerlichen Staat dazu bewogen, die Lebensbedingungen so weit zu verbessern, dass ihm genügend gesunde Soldaten und Arbeiter zur Verfügung standen, die in der Lage waren, für ihn einerseits in den Krieg zu ziehen und andrerseits Reichtum zu vermehren. Sozialisten, die sich dafür stark machten, erreichten auch die Machtbeteiligung im bürgerlichen Staat.

Der Sozialstaat im heutigen Sinn wurde nach dem zweiten Weltkrieg im "westlichen" Europa in unterschiedlichen Varianten eingerichtet. Das Staatsvolk sollte für das Vorhaben des "Wiederaufbaus" und der Rückerlangung der politischen und wirtschaftlichen Souveränität benützt werden und die politische Stabilität gewahrt werden. Dazu gehören ein staatlich aufgezogenes Ausbildungs- und Gesundheitssystem, ein für alle geltendes Sozialversicherungssystem, staatliche Begünstigungen für Familien und Bürger, die nur eingeschränkt bzw. nicht mehr als Produzenten eingesetzt werden (Arbeits- und Sozialrecht). Diese Zuwendungen bzw. Begünstigungen werden je nach Maßgabe des Budgets und Berechnungen des volkswirtschaftlichen Nutzens gewährt oder gestrichen. Der Sozialstaat als Teil des Staatsbudgets wird ständig neu berechnet und beständig reformiert - Sozialschmarotzer soll es ebenso wenig geben wie Massen, die gänzlich verwahrlost dahinvegetieren. Eine Mindestsicherung von 733 Euro/Monat ist in Österreich das aktuelle Mindestmaß des staatsbürgerlichen Funktionierens, die in der breiten Öffentlichkeit als großzügiger Gnadenakt des Staates wahrgenommen wird.

Der Stellenwert des Sozialbudgets wurde bei der letzten Finanzkrise deutlich. Bei der Unterfütterung des Bankensystems mit staatlichem Geld, wie in der laufenden Wirtschafts- bzw. Finanzkrise, wurde weniger lang gerechnet und gefeilscht. Klotzen statt kleckern, lautete da die Devise - es ging ja um "die Wirtschaft" und ihre Grundlage schlechthin (Kredit und Geld) -, und es gab da großes Staunen in der Welt, wie viel Manna in kurzer Zeit auf das Finanzkapital herabrieselte. Wer das letztlich auszubaden hat, war auch bald klar: Weitere Armut und eine Neuberechnung des Sozialwesens stehen an.

An sich sind die Kapitalisten die Lieblingsbürger des bürgerlichen Staates. Sie sind es ja, die mit ihrem Erfolg (Reichtumsvermehrung = Geldvermehrung) wesentlich zur Erfüllung des Staatszwecks beitragen. (Wenn die Wirtschaft wächst, bringt dies schließlich dem Staat mehr Steuereinnahmen und überdies auch bessere Voraussetzungen für seine Verschuldungsmöglichkeiten.) Falsch wäre es, zu behaupten, dass die Kapitalisten, bzw. die "Wirtschaft", die Gesetze diktieren. Es ist zwar so, dass mit den Gesetzen und Staatsausgaben Bedingungen geschaffen werden, die das Geschäftemachen und dessen Erfolg allgemein befördern sollen, aber diese Gesetze schränken durchaus auch gewisse Interessen der Kapitalisten ein, ob das etwa die allzu rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskräfte (z.B. hinsichtlich Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen) oder Belastungen der Natur betrifft (z.B. Umweltschutzauflagen für Betriebe). Dabei wägt der Staat ab, wie weit er seine Kapitalisten (auch hinsichtlich der weltweiten Konkurrenz) belasten kann. Eine 20-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich kommt ebenso wenig in Frage wie das Zusperren von industriellen Dreckschleudern.

Auch weibliche Staatsbürger werden vom Staat und seiner Politik sehr funktionell betrachtet. Einerseits soll die Nation nicht unter einem Mangel an Nachwuchs leiden und andrerseits sollen weibliche Arbeitskräfte auch den Reichtum der Nation befördern. Insofern dreht die Politik an mehreren Schrauben (Familienpolitik, Steuerpolitik, Sozialrecht, Arbeitsrecht etc.), um beides unter einen Hut zu bringen. Ebenso hat die Gleichberechtigung darin ihren Platz, solange sie sich als wirtschaftstauglich erweist: "Nach einer im Auftrag der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft durchgeführten Modellsimulation würde die völlige Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt die Wirtschaftsleistung der EU-Mitgliedsländer zwischen 15 Prozent und 45 Prozent erhöhen." (M. Schratzenstaller im Standard, 10.04.2010)


Wie beziehen sich die Bürger auf den Staat?

Die Staatsbürger beziehen sich positiv auf diese Staatsgewalt. Sie erachten die vom Staat eingerichtete Ökonomie, Eigentum, Geld, Lohnarbeit, als unumstößliche Postulate und Bedingungen ihres Fortkommens. Sie halten sich in der Regel an die Gesetze, teils weil sie wissen, dass eine Gewalt dahinter steht, die bei Nichteinhaltung auch tätig wird, und teils weil sie sich moralisch darauf verpflichtet sehen ("Diebstahl gehört sich nicht; wo kämen wir denn hin, wenn das alle täten."). Vom Staat erwarten sie, dass er Bedingungen schafft, die ihnen ihr Fortkommen ermöglichen - nicht zu verwechseln mit der Garantie eines zufriedenstellenden Lebensunterhaltes, was die Bürger auch gar nicht erwarten, denn schließlich "ist jeder selbst seines Glückes Schmied". Ständig bemäkeln sie das Staatswesen, vor allem dessen personelle Ausstattung, statt sich Staat und Marktwirtschaft zu erklären und deren Sachzwänge, die ihr Leben so mühselig ausfallen lassen, zu kritisieren. "Würdige und fähige Politiker und das bewusste Vorleben von Werten bräuchte das Land - aber das gäbe es so selten, und bei der nächsten Wahl werde man denen die Meinung sagen", u.a., wenn man aus Protest gar nicht wählen geht.

Nur wenn der Staat in den Augen der Bürger dabei versagt, die Bedingungen für das jeweilige Funktionieren seiner Staatsbürger zu schaffen bzw. zu erhalten, dann kann es sein, dass es Proteste größerer Art gibt. Da werden z.B. die großteils arbeitslosen Bewohner der französischen Stadtslums aufsässig und fordern, sie nicht als Bürger zweiter Klasse zu behandeln, die Griechen demonstrieren, streiken und einige randalieren wegen des staatlichen Sparprogramms, oder deutsche Arbeiter gehen auf die Straße, weil Fabriken zugesperrt bzw. verlagert werden. Da sie ihre Reproduktion nur schaffen, wenn sie sich als nützlich für Kapital und Staat erweisen, klagen sie die Möglichkeiten des sich Nützlichmachens als Anspruch an den Staat auch ein - der Staat sollte ihnen zumindest Chancen dafür geben.

So manche wünschen sich einen starken erfolgreichen Staat, wobei sie einerseits ganz ohne eigene materielle Vorteilsberechnung auskommen, andrerseits aber ganz scharf auf eine ideelle Genugtuung sind. Für Nationalisten gibt es keine Unterschiede zwischen Staat und Bürger, keine Gegensätze zwischen den Bürgern selbst - es gibt nur das "Wir", das gepflegt gehört und sich gegen Nichtdazugehörige - wer die seien, da gibt es unterschiedliche Ansichten - zu behaupten hat. Solch nationalistisch gesinnte Idioten geraten in der harmlosen Variante in Verzückung, wenn "ihre" Nationalmannschaft gewinnt oder ein Landsmann Papst wird ("Wir sind Papst" - Titel der Bild-Zeitung nach der Papstwahl). In der weniger harmlosen Variante gehen sie gegen "Schädlinge" und selbsternannte "Feinde" der Nation vor, die in ihren Augen vom Staat viel zu gut behandelt würden. Und wenn es sein muss, wird für den Staat auch in den Krieg gezogen - das bestimmt allerdings nicht das Fußvolk.


Demokratie

Die Herrschaftsform moderner bürgerlicher Staaten ist die Demokratie. Schon die Bezeichnung dieser Herrschaftsform weist sie als Herrschaft (Kratie) aus, was auch bedeutet, dass es Herrscher und Beherrschte gibt. Es ergibt sich die eigentümliche Dialektik, dass das Staatsvolk (Demos) einerseits seine Herrscher durch Wahlen ermächtigt, andrerseits selbst herrscht, also Herrscher und Beherrschter in einem ist. Das Volk staatspolitisch betrachtet ist nichts anderes als die personelle Ausstattung des Staates. Die Brecht'sche Frage "Die Gewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?"

Demokratien kommen in den verschiedensten Ausprägungen vor. Charakteristisch für alle ist das aktive Wahlrecht der Staatsbürger. Welches Angebot wird den Bürgern bei Wahlen gemacht? Sie haben das Recht, ihre Herrscher auszuwählen. Zur Wahl stehen mit diesen verschiedene Angebote des "guten" Regierens: Personen oder Parteien, die jeweils von sich behaupten, die Staatsinteressen am besten zu vertreten. Dabei heucheln sie vor jeder Wahl den Wählern vor, das Interesse des Großteils der Bürger zu vertreten. Dass bei Wahlversprechen auch gelogen wird, gehört dazu. Die meisten Wähler wissen das auch und bilden sich ihre geschmäcklerische Meinung hinsichtlich unterschiedlicher Glaubwürdigkeit der Politiker. Trotz all dieser "Schönheitsfehler" hat es der bürgerliche Staat geschafft, seine Herrschaft als eine vom Bürgerwillen gegebene zu etablieren, den Bürger diesbezüglich auch zu adeln und zu erreichen, dass die Demokratie als Wert hochgehalten wird - vor allem als Wert gegenüber Faschismus und Kommunismus, der ja politisch gesehen mit Stalinismus gleichgesetzt wird. Während der Faschismus, der aus dem bürgerlichen Staat erwuchs, das demokratische Prozedere mit Wahlen und Parlament ("Quatschbude") als unnötig für die Durchsetzung des Staatsinteresses erachtete, beriefen sich die Sowjets auf eine Partei als alleinige Vertreterin des Volkes. Sie sahen in den bürgerlichen Parteien Vertreter unterschiedlicher ökonomischer Interessen, die sie in ihrem Staatswesen ja als beseitigt wahrnahmen. Innerhalb der einzigen Partei, die alle Interessen vertrat, sollten dann die divergierenden Ansichten zu staatlicher Politik ausgefochten werden.

Jedenfalls sind sich die demokratische Herrschaft und ihre Untertanen darüber einig, schon deswegen eine geglückte Staatsverfassung zu sein, da darin auch die Meinungsfreiheit Platz hat. Dem Bürger wird großzügig zugestanden, seine Privatmeinung vertreten zu können - sofern diese konstruktiv staatsdienlich vorgebracht wird, ist sie sogar willkommen. Auch staatskritische Äußerungen werden toleriert, solange sie sich als Meinungen artikulieren und solche auch bleiben, also nicht staatsfeindlich tätig werden. Doch es gibt auch Meinungen, die in einer Demokratie verboten sind, und auf die Einhaltung dieses Verbots achten besonders die Vertreter des Meinungspluralismus. Auch daran sieht man, dass sich die gewährten Rechte immer an der jeweils gültigen Herrschaft relativieren.


Kritische Affirmation

Kritiker des bürgerlichen Staates unterliegen oft einem geharnischten Demokratieidealismus. Sie halten staatlicher Politik vor, die eigentliche Demokratie gar nicht verwirklicht zu haben bzw. nicht zuzulassen - die Bürger sollten prinzipiell überall mitbestimmen und ihren Interessen Geltung verschaffen.

Würden sich mit einer stärkeren Beteiligung der Bürger an "ihrer" Demokratie die Verhältnisse zum Besseren wenden? Solange die Grundprinzipien des bürgerlichen Staates, sein Recht auf Freiheit und Gleichheit, das (Privat-)Eigentum, die Konkurrenz auf dem Markt, die Geldwirtschaft, von den Bürgern mitgetragen werden, solange wird das Leben der Bürger eine abhängige Variable von nationalen politischen und ökonomischen Kalkülen sein. So gesehen sind die Bürger heutzutage viel zu sehr an ihrer Nation interessiert. Dem Staat kann es nur recht sein, wenn seine Zwecke und die der Wirtschaft durch rege demokratische Beteiligung konstruktiv befördert werden. Deshalb sieht er sich durch die Parole "mehr Demokratie" auch nicht herausgefordert. Solange er sich auf seine staatstreue Wählerschaft verlassen kann, sind ihm auch Volksabstimmungen willkommen. Eine Volksabstimmung über die Abschaffung des Privateigentums würde er sich allerdings verbieten, nicht weil er sich vor dem Ergebnis fürchten würde (leider hätte er derzeit da nichts zu befürchten), sondern weil es seiner Staatsräson zuwiderliefe.


Kurzer Ausblick

Die Erläuterungen sollten klarlegen: Falsche Vorstellungen vom bürgerlichen Staat hegen falsche Hoffnungen in eine Herrschaft, die abgeschafft gehört. Nicht die Politik der kleinen Schritte im herrschenden Staatswesen und idealistische Forderungen an den Staat führen zu einem Gemeinwesen, in dem es um das gute Leben geht, sondern ein großer Schritt, eine Zäsur.

Und diese Zäsur besteht vorerst darin, Kapital und auch Staat auf den "Müllhaufen der Geschichte" zu befördern. Danach ist eine Produktion aufzuziehen, die weder Privat- noch Staatseigentum, noch Markt und Geld kennt. Nicht aus Geld mehr Geld zu machen, sondern eine bedürfnisorientierte Versorgung soll der Zweck der Ökonomie sein. Zweck der Arbeit ist dann nicht das Schaffen von (Mehr-)Wert, sondern von Voraussetzungen für das gute Leben. Dass dies nicht ohne eine Planung der Produktionsprozesse vonstatten gehen kann, versteht sich von selbst: "An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen" (Engels in "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"). Und eines hat sich dann auch erübrigt: zur Wahl zu gehen und ein Kreuzchen für seine Herrschaft abzugeben. Vielmehr wird es auf die Mitbestimmung bei Planung und Produktion ankommen.

Sicherlich tun sich da viele Fragen auf: Wie ist die Planung organisiert? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Arbeit und Verteilung? Wenn ja, worin besteht dieser? Was bedeutet das für Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen? Wie sieht die Organisation der "Verwaltung von Sachen" aus?


PS: Zu all diesen Fragen und mehr wird im Buch "Die bedürfnisorientierte Versorgungswirtschaft - eine Alternative zur Marktwirtschaft" von Alfred Fresin Stellung genommen. Auch online verfügbar unter www.stattkapitalismus.blogsport.de.

Raute

Das Allgemeine und das Besondere

Spurenelemente einer Kritik des Staates. Inklusive Hegels Hymnen

von Franz Schandl

Die Frage, was der Staat ist, ist doch von eminenter Bedeutung. Unsere Sicht soll noch einmal resümiert und an einigen Punkten auch präzisiert werden. Freilich ist das alles nur kursorisch und kann keine umfassende Untersuchung ersetzen. Keinesfalls handelt es hier um einen systematischen Durchgang, sondern lediglich um Fährten.

G.W.F. Hegel empfiehlt im § 274 seiner Rechtsphilosophie nichts weniger als Huldigung: "Man muss daher den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren und einsehen, dass, wenn es schwer ist, die Natur zu begreifen, es noch unendlich herber ist, den Staat zu fassen." (Werke, 7:434) Dieser Affirmation wollen wir uns dezidiert verweigern. Uns dem Herben auszuliefern, ist unser Anliegen nicht, im Gegenteil. Aber Vorsicht: Gegen den Kapitalismus zu sein, das ist jedem und jeder unbenommen, aber gegen den Staat, also ein Staatsfeind zu sein, das gilt noch immer als ein kriminelles Vorhaben.


Bürgerlicher Charakter

In unseren bisherigen Analysen definierten wir Politik als Verallgemeinerung und Staat als Allgemeinheit bürgerlicher Gesellschaftlichkeit. "Politik als bürgerliche Verallgemeinerung war dazu da, aus der gesellschaftlichen Unordnung Ordnung zu machen, die als gesonderte Allgemeinheit, eben Staat, auftreten kann." "D.h. der Staat greift im Sinne der kapitalistischen Formation klassenübergreifend ein, er ist nicht der Ausschuss der Bourgeoisie, sondern der Ausschuss des gesamten Kapitalverhältnisses. Diese Differenz gilt es sich immer vor Augen zu halten, wenn man vom bürgerlichen Staat spricht. Der bürgerliche Staat ist nicht der Staat der Bourgeoisie, sondern der des Kapitals. Bürgerlich heißt, dass der Staat den Staatsbürgern ihre bürgerlichen Bestimmungen als Warenbesitzer in Freiheit und Gleichheit sichert und aufnötigt." (Franz Schandl, Kurswechsel am sinkenden Schiff. Der Staat und seine historischen Schranken. Notizen, Streifzüge 1/2000, S. 10)

Politik und Staat bilden also zwei Seiten einer Zusammengehörigkeit. "Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus", schreibt Carl Schmitt (Der Begriff des Politischen, Berlin 1932, S. 20). Und Niklas Luhmann meint: "Der Staat wird zum Bezugspunkt der Universalisierung von Politik. Man dokumentiert guten Willen im Bekenntnis zu 'Werten'." (Niklas Luhmann, Die Politik als Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 215) Recht haben sie.

Der bürgerliche Charakter des Staates steht außer Frage, als Klassenstaat ist er aber nicht zu begreifen. Bürgerlich muss als die gesellschaftliche Formation betreffend dechiffriert werden, die Kategorie ist nicht reservierbar für eine spezifische Klasse der Produktionsverhältnisse. Natürlich mag der Staat des Öfteren (und insbesondere bourgeoise!) Klasseninteressen vertreten, aber das trifft erstens nicht seinen Kern und zweitens nicht nur auf die Bourgeoisie zu, sondern auch auf alle subalternen Klassen, Schichten und Fraktionen.

Zweifellos, der Staat ist nicht neutral, aber er ist nicht deswegen nicht neutral, weil er einer bestimmten Klasse gehorcht oder gar gehört, sondern weil er eine bestimmte Struktur und Form aufweist, an der nicht beliebig hantiert werden kann. Wer etwa die Staatsmacht erobert, kann nur bürgerlich regieren. Selbst wenn die Kapitalisten enteignet werden und der Reichtum umverteilt wird, ist damit das Kapitalverhältnis als Vergesellschaftung über Markt und Arbeit, Staat und Steuer noch nicht gebrochen, sondern es wird bloß planwirtschaftlich rekonfiguriert.

Der Staat achtet darauf, dass die Gesellschaft auf sich eingespielt ist und dies auch bleibt. Die gängigen Raster destillieren sich in erster Linie aus dem bürgerlichen Alltag. Die Leute sollen daran glauben, wie ihnen geschieht. Diese ideologische Haltung ist aber mehr Usus als Konsens, d.h. sie reproduziert sich durch stetes Erfüllen der bürgerlichen Pflichten: Arbeiten und Kaufen, Konsumieren und Reproduzieren, Autofahren und Fernsehen.

Bürgerliche Allgemeinheit ist nicht etwas, das dem Proletariat äußerlich ist, es ist vielmehr mit dazu da, diese herzustellen. Und dies tut es nicht gegen die eigenen Klasseninteressen, sondern durchaus im Sinne dieser, vor allem dann, wenn die Arbeiterklasse trade-unionistisch nichts anderes sein will als verwertbare Arbeitskraft. Das Klassenbewusstsein, die proletarische Identität ist nicht (weder an sich noch für sich) jenseits der bürgerlichen anzusiedeln, sondern immanenter Bestandteil dieser. Das Proletariat ist neben der Bourgeoisie die zweite bürgerliche Hauptklasse. Bürgerlich wohlgemerkt, nicht verbürgerlicht. Die Identität speist sich aus der täglichen Praxis des unbedingten sich "In-Wert-Setzen", den dazugehörigen gemeinsamen aufklärerischen Werten (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit), und sie liegt weiters im Bekenntnis zu Demokratie und Politik, Standort und Staat. Für Wachstum, Arbeitsplätze und Autobahnen ist man sowieso. Der Wille ist affirmativ.


Substanzielle Immanenz

Der Staat ist also nicht von kapitalistischen Interessen durchdrungen, der Staat ist das organisierte kapitalistische Interesse. Die Kräfteverhältnisse in ihm sind nur Variablen dieses Formprinzips, interne Faktoren, die über jenes Grundinteresse, das vornehmlich ein Geldinteresse ist, nicht hinausgehen können. Die unterschiedlichen Interessen haben durchaus Platz, sofern sie mit den Gesamtinteressen vermittelbar und budgetär finanzierbar sind. Bei allen Gegensätzlichkeiten verweisen alle Partikularinteressen auf eine schier unhintergehbare Eigenart: Sie wollen Geld. Ihr Verhältnis kann nicht ohne Behältnis gedacht werden. Der Staat ist mehr als ein verdichtetes Kräfteparallelogramm.

Hier sei auch eine kurze Abschweifung zum Staatspersonal gestattet. Auch wenn jetzt nicht en passant eine Theorie der Bürokratie (etwas frühreif und wild und manchmal auch ziemlich daneben bei Franz Schandl, Demos und Büros, FORVM, Nummer 452-454, Juli 1991, S. 64-73) beigegeben werden kann, wäre es doch zu schlicht gedacht, diese als verlängerten Arm des Kapitals zu deuten. Die Bürokratie entwickelt als unabdingbare Stütze der Verwaltung auch eigene Kapazitäten, die eben ihrer unmittelbaren Position entspringen und nicht ihrer gesellschaftlichen Funktion, somit also keiner abgeleiteten, sondern ihrer sich originär selbstermächtigenden Natur geschuldet sind. Bürokratien sind da nicht bloß instrumentell zu deuten, sie entfalten vielfältige Eigeninteressen, die nicht mit den Besonderheiten des Allgemeinen identisch sind, sondern dieses sogar konterkarieren können, denken wir an die effiziente Lohnpolitik der Staatsdiener, ihre Unkündbarkeit oder ihre Sonderstellung im Sozialversicherungssystem. Aber das nur nebenbei.

Primär ist der Staat nicht eine Agentur von Sonderinteressen, selbst wenn die Stellung der Bourgeoisie oder auch der Bürokratie eine günstigere ist als die des Proletariats, dessen Position wieder günstiger ist als die der Prekarisierten und Deklassierten. Das Sonderinteresse, das der Staat vertritt, ist das besondere Interesse des Allgemeinen an seinem Bestehen. Der Staat ist keineswegs der Ausschuss einer Klasse, wohl aber der Ausschuss einer Form durch Konstitution einer Sonderform, auf die sich alle beziehen müssen und bezogen werden. Der Staat ist auch mehr als der politische Ausdruck einer Herrschaft. Es kann durchaus Gesetze geben, die Bauern oder Arbeiter, Frauen oder Mieter bevorrechten. Nicht zufällig gilt der Staat als der allgemeine Ansprechpartner für alle spezifischen Anliegen, ist also die Appellationsinstanz per se. In ihm laufen die Sonderinteressen ihrer Regelung zu. Nur der Staat kann umsetzen oder zulassen, was gefordert wird.

Der Staat verkörpert das Allgemeininteresse, bloß folgt das Allgemeininteresse einer besonderen Vorgabe, die nicht mit Gemeinschaftlichkeit oder Gesellschaftlichkeit schlechthin verwechselt werden sollte. Mit keinem besonderen Interesse im System identisch zu sein, heißt freilich gerade das spezifische Interesse der bürgerlichen Gesellschaft an sich seine Eigenheit zu nennen. Die Gesellschaft ist nämlich das Allgemeine, das sich partout nicht als Besonderes zu erkennen geben will, sondern als Vorausgesetztes, ja ewig Bedingtes wie Bedingendes. "Der Staat ist wirklich, und seine Wirklichkeit besteht darin, dass das Interesse des Ganzen sich in die besonderen Zwecke realisiert. Wirklichkeit ist immer Einheit der Allgemeinheit und Besonderheit, das Auseinandergelegtsein der Allgemeinheit in die Besonderheit, die als eine selbständige erscheint, obgleich sie nur im Ganzen getragen und gehalten wird." (G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7:428-429)


Hegels Hymnen

An anderer Stelle, im § 537 seiner "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" fasst Hegel das so zusammen: "Das Wesen des Staates ist das an und für sich Allgemeine, das Vernünftige des Willens, aber als sich wissend und betätigend schlechthin Subjektivität und als Wirklichkeit ein Individuum. Sein Werk überhaupt besteht in Beziehung auf das Extrem der Einzelheit als der Menge der Individuen in dem Gedoppelten, einmal sie als Personen zu erhalten, somit das Recht zur notwendigen Wirklichkeit zu machen, und dann ihr Wohl, das zunächst jeder für sich besorgt, das aber schlechthin eine allgemeine Seite hat, zu befördern, die Familie zu schützen und die bürgerliche Gesellschaft zu leiten, - das andere Mal aber beides und die ganze Gesinnung und Tätigkeit des Einzelnen, als der für sich ein Zentrum zu sein strebt, in das Leben der allgemeinen Substanz zurückzuführen und in diesem Sinne als freie Macht jenen ihr untergeordneten Sphären Abbruch zu tun und sie in substantieller Immanenz zu erhalten." (Werke 10:330-331)

Zweifelsfrei, um diese substanzielle Immanenz geht es. Der Staat ist in seiner bürgerlichen Notwendigkeit die richtige Versöhnung auf falscher Basis. Das ist auch mit ein Grund, warum er in der gesellschaftlichen Linken meist hoch angesehen ist und als Rechts- und Sozialstaat geradezu angehimmelt wird. Ganz daneben ist das wiederum auch nicht, denn nur über ihn vermittelt konnten unterschiedliche Gruppen und Zusammenhänge ihre Anteile an gesellschaftlichen Möglichkeiten lukrieren. Immer wieder soll der Staat gutmachen, was der Markt schlecht gemacht hat. Das paradoxe Verhältnis lässt sich vielleicht so beschreiben: In einer Warengesellschaft sorgt der Staat gerade deswegen für den Markt, weil er dessen destruktives Potenzial permanent bremst und konterkariert. Er schützt damit den Markt vor sich selbst. Das unmittelbare Resultat jedoch schaut auf den ersten Blick so aus, als hätte es mit dieser Intention nichts zu tun.

Hegel präzisiert im § 289 seiner Rechtsphilosophie diese Differenz auf geradezu katechetische Weise: "Wie die bürgerliche Gesellschaft der Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle ist, so hat hier der Konflikt desselben gegen die gemeinschaftlichen besonderen Angelegenheiten, und dieser zusammen mit jenem gegen die höheren Gesichtspunkte und Anordnungen des Staats, seinen Sitz." (7:458) Ganz unverblümt erklärt der deutsche Meisterdenker den (preußischen) Staat im § 258 zum Absolutum der Möglichkeit: "Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewusstsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substanzielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein." (7:399)

Wahrlich, die Pflicht zum Staat und der Wille zum Bürger sind es, die die Staatsbürger auszeichnen. Von Menschen ist da nicht die Rede. Tatsächlich richtet sich das Interesse des Staates immer an bestimmte Subjekte, an Staatsbürger, Rechtsträger, Käufer, Verkäufer, Geschäftsleute, Arbeiter, Unternehmer. Menschen interessieren in einem bürgerlichen Kostüm. Für den Hegel-Kritiker Marx war klar, dass der "moderne Staat selbst vom wirklichen Menschen abstrahiert oder den ganzen Menschen auf eine nur imaginäre Weise befriedigt" (MEW 1:385). Emanzipation kann daher nicht von Staatsbürgern ausgehen, sondern lediglich von Menschen, die sich abseits der Maskierungen verwirklichen wollen.


Staatsbürgerkunde

Die klassische Staatslehre postulierte, dass erst Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt einen Staat ausmachen. Staat ist also Raum für ein Volk mit Gewalt. Als Staatsvolk gelten die als Staatsbürger zusammengefassten Subjekte. Sie müssen als Inländer geboren sein oder zu solchen ernannt werden. Sie werden als Staatsangehörige definiert und das sind sie auch im engsten Sinne des Wortes. Erst der Staat formiert die ihm Unterworfenen zu Staatsbürgern, d.h. zu ihm gehörigen Personen mit Rechten und Pflichten. Der Begriff handelt von spezifischen Leuten in einem spezifischen Raum mit spezifischen Instrumenten. Sie haben ein spezifisches Interesse zu haben, das staatlicherseits als nationales Anliegen inszeniert wird.

Auffällig ist, dass bei dieser taxativen Aufzählung die Zeit fehlt. Obwohl historisch geworden, will kein Staat sich als historisch betrachten. Akkurat nicht. Die historische Stellung des Staates soll sich als ahistorische Vorstellung in den Köpfen der Subjekte spiegeln. Nicht zufällig kommt Staat von "status", was bloß bedeuten kann, dass der Staat, trotz aller Dynamiken, das System vor grundsätzlichen Änderungen bewahren möchte und darin auch seine Aufgabe sieht. Der Staat konstituiert sich als eherne Statik. Stabilität ist Bedingung wie Ziel.

Der Staat soll nicht als temporale Größe kategorisiert werden. Kaum jemand käme auf den naheliegenden Gedanken, neben dem Staatsgebiet eine Staatsdauer anzugeben. Das Gewordene hat nie das Gewesene zu werden, lautet seine unheimliche Maxime, die einmal mehr synthetischer als analytischer Natur ist. Karl Renners Satz "Der heutige Staat ist eine Übergangserscheinung der sozialen Entwicklung" (Mensch und Gesellschaft. Grundriss einer Soziologie, Wien 1952, S. 279) hat da schon fast ein staatsfeindliches Bukett.

Und noch ein Geltungsbereich ist in der Staatsbürgerkunde verloren gegangen: das Budget. Auch die Staatsfinanzen wurden in der klassischen Definition unterschlagen. Geldmonopol meint mehr als Steuermonopol, es meint auch das ausschließliche Recht, Geld zu drucken, es für gültig und ungültig zu erklären. Das Medium für den freien Markt als Zeichen ist staatsmonopolistisch geprägt, obwohl dessen Wertung eine marktwirtschaftliche Angelegenheit ist. Man sieht, es ist alles sehr kompliziert. Der Staat verfügt über das Monopol des Geldes, weil er es herstellt und ausgibt, aber erst Arbeit und Markt können das Geld mit Wert erfüllen, ohne den es ja nichts ist. Diese gegenseitige wie eherne Angewiesenheit ist prinzipiell kein Verhältnis der Subordination, sondern eines der Koordination. Ihre Gemeinsamkeit liegt in abstrakter Arbeit und Wert.


Gewalt als Recht

Staat bedeutet Monopolisierung von Gewalt, Recht und Steuern. Er ist die organisierte Gewalt, die sich in einem Raum zu einer Zeit durchgesetzt hat. Aber nicht nur der historische, auch der aktuelle Schlüssel zum Staat ist die Gewalt. Gerade die Gewalt ist es, die für Ordnung sorgt. Zuerst. Zwischendurch. Zuletzt. Gewaltmonopol bedeutet, dass der Staat es sich vorbehält, Gewalt anzuwenden oder Gewalt zuzulassen.

Die Selbstverpflichtung des Staates wiederum nennt sich Rechtsstaat. In ihm soll die Gewalt der Strukturen gar nicht mehr durchschimmern, sondern das Bild freiwilliger Vertragsverhältnisse annehmen. Indes ist diese Selbstverpflichtung nur dann zugegen, wenn der Staat selbst nicht zur Disposition steht. Ist Letzteres der Fall, offenbart der Ausnahmezustand den wahren Charakter des Staates durch die ihm innewohnende, aber nun offen eingesetzte Gewalt. Es ist nicht einfach so, dass das durch Gewalt Geschaffene sich von dieser emanzipiert hat und bloß noch zivilisiert auftritt. Das ist eher Maniküre. Gewalt ist eine Realität, auch dort, wo sie nicht erscheint. So lange es ein Recht gibt und geben muss, ist zu sagen, dass es kein höheres Recht gibt als die Gewalt.

Auch in den entwickelten Demokratien ist der Krieg der Menschen gegeneinander nicht aufgehoben, er wird nur durch staatliches Recht reglementiert und als Konkurrenz ausgelobt. Aus den Wölfen sind Hunde geworden. Der moderne Staat ist die Materialisierung der Gewalt über ihre Unmittelbarkeit hinaus. Je stärker der Staat ist und die Subjekte sich als Staatssubjekte begreifen, desto weniger muss er sie aktivieren. Gewalt ist nicht mehr flüssig, sie hat sich gefestigt und wurde in das Korsett des Rechts gesteckt. Die westliche Zivilgesellschaft, so ihre liebgewonnene Eigendefinition, möchte jene am liebsten gar nicht demonstrieren müssen. Es geht um Versubjektivierung des Zwanges, sodass aus Herrschaft Selbstbeherrschung wird. Diese Zurichtung der Akteure ist wiederum kein Beschluss, sondern ein Fazit. Das, was täglich abverlangt und eintrainiert wird, erscheint als freier Wille und nicht als individuelle Ohnmacht. Diese Selbsttäuschung ist konstitutiv für die bürgerliche Psyche. Ich verwechselt sich stets mit sich.

In den kapitalistischen Zentren beschneiden Markt und Staat einander die destruktiven Potenzen. Der Staat ist aber nicht bloß das Institut der gesellschaftlichen Befriedung, sondern auch der Hort konzentrierter Aggressivität. Man denke an den großen Ernstfall, den Krieg, der ohne ihn nicht nur nicht machbar ist, sondern den der Staat ausruft und für den er seine Bürger mobilisiert und verpflichtet. Kriegsmonopol bezeichnet sich das und Kriegsrecht...


Versicherung und Verträglichkeit

Man darf den Staat wohl zu Recht als den zentralen Garanten der bürgerlichen Gesellschaft interpretieren. Alle seine Werkzeuge und Instrumente, Institutionen und Apparate werden dafür eingesetzt, den Kapital- und Herrschaftsverhältnissen Bestand zu gewähren. Das Arsenal ist groß. Man denke etwa an die infrastrukturellen Bedingungen. Die sind trotz aller Privatisierungen noch immer staatliches Terrain.

Soziale Wohlfahrt und polizeiliche Gewalt unterscheiden sich zwar als Mittel, aber nicht als Zweck. Repression (Überwachen, Strafen, Kontrollieren, Sortieren) und Fürsorge (Beihilfen, Förderungen, Zuschüsse) sind unterschiedliche Varianten einer Sicherheit versprechenden Maschine. Der Staat, das ist das große Zentralversicherungssystem der bürgerlichen Gesellschaft. Droht dieser Versicherung die Insolvenz, dann steht die gesellschaftliche Entsicherung auf der Tagesordnung, das Gewaltmonopol wird sich entweder verschärfen oder in Gewaltpole zerfallen.

Wenn immer mehr auf immer weniger zugreifen können, wird der Kampf um die staatlichen Ressourcen schriller und heftiger. Das Hauen und Stechen, das Schimpfen und Rempeln ist auch unübersehbar und unüberhörbar. Ohne die "sozialstaatliche Redistribution" (Ernst Lohoff, Out of area, Streifzüge 31/2004, S. 10) hätte sich die moderne Demokratie schon gesprengt, indes gehen wir Zeiten entgegen, wo jene immer unmöglicher wird, der Staat zusehends auf seine vermeintlichen Kernaufgaben, die Verwaltung der öffentlichen Ordnung, reduziert werden soll. Soziale Abfederung erscheint dann als Luxus, für die der Staat nicht mehr zuständig ist, sondern jede und jeder Einzelne. Vorsorge statt Fürsorge nennt sich dann dieses Programm. Sozialstaat und Rechtsstaat gehören freilich zusammen. Wird jener abgebaut, ist dieser in Gefahr.

Verträglichkeit ist jedenfalls nicht unmittelbar vorhanden, sondern muss durch gesonderte Verträge gesichert werden. Unser Stoffwechsel und unsere Dienste bedürfen der rechtlichen Kodifizierung. Diese fällt in den staatlichen Bereich und ist Folge politischer Verhandlung. Das Misstrauen, das zur mentalen Grundkonstitution der bürgerlichen Subjekte gehört, muss eben durch Verträge entschärft und kanalisiert werden. Der Kauf ist ein klassischer Vertrag, d.h. jede ökonomische Transaktion bedarf der staatlich durchgesetzten Rechtsform. Ist ein Konflikt zwischen den Geschäftspartner genannten Tauschgegnern nicht lösbar, ist die staatliche Gerichtsbarkeit gefordert.

Verträge sind wie Sicherheitszertifikate, sie stabilisieren den ökonomischen Verkehr, indem sie Tauschgeschäfte zu Rechtsgeschäften machen. Verträge unterstreichen also nicht die profane Verträglichkeit des Marktes, sondern seine wesensmäßige Unverträglichkeit. Daher schreien auch jene, die den blanken Markt schlechter vertragen, unaufhörlich nach Recht und Gesetz. Was bleibt ihnen heute auch anderes übrig, als Vater Staat anzurufen? Nicht zufällig ist daher das Proletariat staatsfreundlicher als die Bourgeoisie. Ein Umstand, den Vertreter eines offensiven Klassenkampfs wohl schwer erklären können.

Verträglichkeiten, die stets aufs Neue hergestellt werden müssen, stabilisieren allerdings nur, solange Zahlungsfähigkeit gegeben ist. Ist diese Flüssigkeit bedroht oder verschwunden, stockt der Warenverkehr: Käufer können nicht mehr kaufen, Verkäufer können nicht mehr verkaufen. Nicht bloß das Geschäft kommt zum Erliegen, auch viele Bedürfnisse können nicht mehr befriedigt werden. Insbesondere wenn die Ware Arbeitskraft nicht mehr verwertbar ist, zeitigt das böse Konsequenzen. Wie sollte das in einer Gesellschaft anders sein, wo Leben von Kaufen und Verkaufen abhängig ist? Wenn dann noch sozialstaatliche Sicherungssysteme ausbrennen oder abgebaut werden, sind Absturz und Demütigung unvermeidlich.

Garantie heißt auch Sozialisierung von Verlusten, die vom Markt nicht mehr gedeckt werden können. Natürlich übernimmt der Staat und mit ihm die Gesellschaft (genauer: die Steuerzahler) diese Haftungen. Wer sonst sollte sie auch übernehmen können? Gerade darin besteht ja die Aufgabe des Staates: Koste es, was es wolle, der Markt ist zu gewährleisten. Wenn dieser zusammenzubrechen droht, dann ist es die vornehmste Aufgabe seines Staates, ihn in dieser Situation zu retten. Fragt sich nur, wie lange er das noch umsetzen kann, ohne dass es zur monetären Implosion führt.


Perpetuationen

Der Staat verdeutlicht, dass das äquivalente Tauschprinzip nicht auf den gesamten Stoffwechsel verallgemeinerbar ist. Die totalitäre Tendenz der Ware-Geld-Beziehungen kann also nie total werden. Das staatliche Rezept besteht nun in der Alimentierung, in der Substitution von Zahlungen. Der Staat baut Umleitungen, die wiederum Zuleitungen zur Zirkulation sein sollen. Er ist vielmehr der Pol, der die Warengesellschaft im Gleichgewicht halten will. Der Staat funktioniert nicht wie der Markt, aber er funktioniert für den Markt. Den Staat kann man wohl nicht aus der Ökonomie ableiten, man kann ihn aber auch nicht ohne sie denken. Ein klassisches Basis-Überbau-Schema erklärt da viel zu wenig.

Gemeinhin galt der Staat als Gegensatz zum Markt. Aber das ist falsch, denn es handelt sich nicht um zwei einander äußere Objekte, die jeweils zueinander sich bestimmen müssen. Selbst "der wirtschaftliche Interventionismus ist nicht, wie die ältere liberale Schule meint, systemfremd aufgepfropft, sondern systemimmanent, Inbegriff von Selbstverteidigung; nichts könnte den Begriff von Dialektik schlagender erläutern. Analog wurde einst von der Hegelschen Rechtsphilosophie, in der bürgerliche Ideologie und Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft so tief ineinander sind, der von außen, angeblich jenseits des gesellschaftlichen Kräftespiels intervenierende, die Antagonismen mit polizeilicher Hilfe mildernde Staat von der immanenten Dialektik der Gesellschaft selbst herbeizitiert, die sonst, Hegel zufolge, sich desintegrierte." (Theodor W. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, Gesammelte Werke 8, S. 367)

Der Staat ist eine ganz spezifische Form öffentlicher Verwaltung, nicht diese schlechthin. Die res publica muss kein Staat sein, aber in der bürgerlichen Ordnung kann sie nichts anderes sein als dieser, er ist nur notwendig, wo es eine "ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit" (Marx) gibt. Erst der Staat integriert die Gesellschaft in sie selbst. Er ist "the helping hand", die stets eingreift, damit die Verhältnisse nicht sich selbst erledigen. Der Staat organisiert die Gesellschaft. Er ist der vom Markt ausgehaltene Regulationsapparat, der wiederum von ihm gesicherten kapitalistischen Gesellschaft. Staat und Markt bilden eine ausdifferenzierte, aber systemische Einheit, ihre Sphären sind zwar theoretisch zu trennen, aber praktisch sind sie unteilbar. Staat und Markt, das ist ein unauflösbares Verhältnis gegenseitiger Angewiesenheit. Der Staat perpetuiert den Markt perpetuiert den Staat perpetuiert...

Ökonomisch sind die öffentlichen Einrichtungen der Großkunde und der Subventionsgeber der sogenannten Privatwirtschaft. Dass der Staat schlecht wirtschaftet, ist sage und schreibe Unsinn, denn es ist nicht Aufgabe des Staates, Profit zu machen, sondern die von der Verwertung geschädigten Objekte (Menschen, Infrastruktur, Umwelt) zu sanieren und reparieren, gerade mit Geldern, die aus den Verwertungsprozessen stammen (= Steuern). Das tut er mehr schlecht als recht und vor allem auch immer weniger. Nicht der Gewinn ist Ziel des Staates, sondern die Garantie des Marktes und seiner Gesellschaft, auf dass diese bestehen bleiben kann.


Aufgepumpte Staatsblasen

Ein Grundproblem des Staates ist freilich, dass er aus der Wirtschaft alimentiert wird. Auch der Staat verkehrt mit dem Zahlungsmittel des Marktes. Obwohl er sie druckt und prägt, schafft er seine Mittel nicht selbst, sondern muss sie durch Besteuerungen lukrieren. Eine gelingende Verwertung ist somit Voraussetzung seiner Tüchtigkeit. Staatliches Handeln ist gebunden an das zentrale Medium der Ökonomie, das Geld. Steuern müssen in der Ökonomie durch Arbeit erwirtschaftet werden, um abgeführt werden zu können. Politische Entscheidungen sind nicht Entscheidungen, so nach dem Motto: Was wollen wir?, sondern sie sind budgetär prädisponiert und limitiert. Leistbar ist das, was finanzierbar ist oder sein wird. Daher auch die permanenten Debatten über die Leistungsfähigkeit des Staates, über Staatsschulden und Budgetdefizite.

Es ist letztlich nicht der politische Beschluss, der den Staat prägt, sondern die ökonomische Potenz, die seine Handlungen dimensioniert. Jener ist innerhalb dieser zu verorten, seine Eigenständigkeit ist als Bewegung auf diesem Feld und nicht außerhalb davon zu suchen. Jeder politische Beschluss kennt so die Summe seiner Kosten und sollte er sie nicht erkennen bzw. ignorieren, so erfährt er sie aus den monetären Konsequenzen.

Indes ist nicht immer leicht zu sagen, was da nun noch real oder schon fiktiv ist an den vagabundierenden Geldern. Gemeinhin erscheint es so: Die Realität des Geldes beweist sich in der Realisierung des Kaufakts. Ist das Geschäft gemacht, dann muss das Geld wirklich gewesen sein, sonst hätte es nicht kaufen können. Realhalluzination nennt sich das. Wenn jetzt jemand einwendet, das seien Zirkelschlüsse, die der primitivsten Logik ins Gesicht schlagen, dann ist zu antworten: Genau das. Die Rationalität war immer irrational gewesen, es sollte bloß nicht auffallen.

Inzwischen wird der Kapitalismus zusehends zum Pyramidenspiel. Würden tatsächlich die Gelder sich gleichzeitig zu realisieren versuchen, wäre der Zusammenbruch eine Frage von Stunden. Man sieht dem Geldschein, der Wertkarte, dem Konto nicht an, ob sie nun real oder fiktional sind. Ein nicht unbeträchtlicher Teil, das ahnen wir alle, ist reine Halluzination. Aber bis zu einem gewissen Grad trägt dieser Bluff. Was soll auch sonst noch tragen? Dort, wo das Getäuscht-werden-Wollen und das Täuschen zur Grundkonstitution der Subjekte gehört, ist das so. Zumindest so lange, bis eine Blase platzt. Gegenwärtig erleben wir ja eine Phase sich aufpumpender Staatsblasen.

Der Staat als kapitaler Herrschaftsraum wird allerdings poröser. Dem flanierenden und marodierenden Kapital kann er kaum noch etwas entgegensetzen. Globalisierung heißt, dass der Markt den Staat sprengt. Staaten haben Grenzen, Märkte nicht. Das Steuermonopol einzelner Nationalökonomien wirkt immer lächerlicher. Die funktionalen Eigenschaften erschlaffen. Was die Geschwindigkeit betrifft, scheint der Weltmarkt immer schneller und der Nationalstaat immer langsamer zu werden. Er gibt nichts mehr vor, er gibt nur mehr nach.

Vor 200 Jahren sagte ein Schuldirektor namens Hegel seinen Nürnberger Gymnasiasten: "Wenn eine Familie sich zur Nation erweitert hat und der Staat mit der Nation in eins zusammenfällt, so ist dies ein großes Glück." (4:246) Wahrlich, diesen Strömen des Glücks entspringen fast alle modernen Katastrophen. Das schiere Gegenteil ist zu behaupten: Der Staat, das ist nichts weniger als das heimliche Eingeständnis des menschenfeindlichen und autoaggressiven Charakters der kapitalistischen Gesellschaft. Das Glück ist jenseits davon.

Raute

Rezension

jour fixe initiative berlin (Hg.), Souveränitäten. Von Staatsmenschen und Staatsmaschinen,
Unrast Verlag, Münster 2010, 202 Seiten, 16 Euro.

Sammelbände. Nicht selten beschleicht einen das Gefühl, dass Artikel nicht nach einem Konzept in Auftrag gegeben, sondern einfach zusammen getragen wurden. Am interessantesten sind jedenfalls die beiden Artikel von Bini Adamczak und Ulrich Bröckling. Letzterer meint, der Protestdiskurs sei allemal enteignet: "Diejenigen, die Protest artikulieren, sind niemals Souveräne ihrer Aktionen, weder im Hinblick auf die Adressaten noch auf die Botschaften." Das stimmt schon, aber was sagt das? Solange wir uns in dieser Matrix bewegen müssen, bewegen wir uns auch im souveränen Schein. Sich darüber lustig zu machen, dass die widerständigen Elemente keine Souveräne seien, ist billig.

Adamczaks diskutiert die scharfe Auseinandersetzung zwischen Kautsky und Lenin / Trotzki über "Terrorismus und Kommunismus". Kommunismus und Antikommunismus haben inkommunserabel zu sein. Da hat Adamczak recht. Indes kommunistische und antikommunistische Politik sind wohl kommunserabel, weil eben Politik keine beliebig funktionelle, sondern eine vorformatierte Größe ist. Adamczaks Problem ist, dass sie Politik selbst nicht zum Gegenstand macht, sondern den Begriff verwendet, wie es im Alltag üblich ist. Und doch: Adamczaks Beitrag scheint mir auf hohem Niveau gescheitert zu sein. Ihre Intentionen gilt es aufzunehmen, die Fragen sind richtig gestellt. Bevor der Kommunismus wieder Zukunft haben kann, muss er Trauer tragen, Trauer auch für das, was er sich und den Seinen angetan hat.

F.S.

Raute

Wahl und Qual

Von der Unterschiedslosigkeit der Parteien

von Peter Samol

Angeblich werden in Demokratien durch Wahlen wesentliche Fragen der Gesellschaftsordnung frei bestimmt. Aber zur Wahl stehen ausschließlich Personen und Parteien. Die gesellschaftlichen Grundstrukturen, die ihrerseits wesentlich ökonomisch bestimmt sind, stehen dagegen nicht zur Disposition. Obendrein sieht sich das politische Personal ausnahmslos einem ökonomischen "Realismus" verpflichtet, der vor allem auf Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen abzielt. Wie realistisch diese Ziele sind, wird gar nicht erst zur Debatte gestellt. Als oberste Priorität gilt von rechts bis links, den zunehmend ins Trudeln geratenden gesellschaftlichen Formzusammenhang zu erhalten. Streitigkeiten gibt es zwar im Hinblick auf Verteilungsfragen, aber hier tendieren die Spielräume zusehends gegen Null. Den politischen Akteuren bleibt auch gar nichts anderes übrig, als zuallererst für das Wohl der Wirtschaft zu sorgen. Denn nur wenn es der gut geht, kann der Staat im erforderlichen Umfang Steuern, Gebühren und Abgaben einnehmen, um selbst handlungsfähig zu bleiben.


Politikillusion

Über das strukturelle Primat der Ökonomie täuscht oberflächlich die Tatsache hinweg, dass Wirtschaftsunternehmen und politische Herrschaft in den modernen Demokratien von verschiedenen Personen betrieben werden. Diese Trennung wird zwar faktisch nicht konsequent durchgehalten - insbesondere wechseln Politiker häufig am Ende der politischen Karriere in die Wirtschaft -, aber selbst wenn sie rigoros durchgesetzt würde, änderte das nichts daran, dass der Staat die Gesellschaft nicht nach eigenen Regeln bestimmen kann, sondern sie zuallererst nach den Zwängen des ökonomischen Verwertungsprozesses zu regulieren hat.

Seine besondere Aufgabe besteht gerade darin, den Rahmen des allgemeinen Konkurrenzgeschehens gegen die jeweiligen Partikularinteressen zu vertreten und zu erhalten. Zur Erfüllung dieser Aufgabe muss er alle Beteiligten gleichermaßen zwingen, sich gemäß den ökonomischen Zwängen zu verhalten. So gilt etwa jeder Versuch von Individuen, anders als über die allseitige Konkurrenz und das universelle Tauschgeschehen an ihre benötigten Lebensmittel zu kommen, zumindest als anrüchig. Ähnliches gilt für die Unternehmen: Auch für diese sind bestimmte legale Wege vorgesehen, um an ihre Produktionsmittel zu gelangen. Dass von Seiten der Wirtschaft immer wieder versucht wird, staatliche Institutionen zu instrumentalisieren, steht freilich außer Frage. Aber sowohl im Hinblick auf die personelle Durchlässigkeit zwischen Politik und Ökonomie als auch in Fällen der Instrumentalisierung staatlicher Institutionen (Stichwort: Lobbyismus) darf Staatskritik nicht auf die "Entlarvung von Machenschaften" reduziert werden. Sonst wäre das grundlegende Problem nicht einmal annähernd erfasst.

Weil der Staat von einer gelingenden Wirtschaftstätigkeit innerhalb seines Hoheitsgebietes abhängig ist, muss er wohl oder übel nach dem Motto handeln: "Demokratisch ist, was vernünftig, und vernünftig ist, was ökonomisch notwendig ist." Keine Regierung kommt daran vorbei. Was Staaten droht, die sich allzu großzügig über dieses Grunderfordernis hinwegsetzen, wird aller Welt gerade am Beispiel Griechenlands demonstriert. Die betreffenden Länder verlieren sukzessive ihre Handlungsmacht und werden zunehmend von internationalen Institutionen gegängelt, die ohne Rücksicht auf Verluste die ignorierten ökonomischen Prinzipien durchsetzen. Durch die damit verbundene Verschlechterung der allgemeinen Lebensbedingungen schwindet der Rückhalt der Politik in der Bevölkerung, anomische Tendenzen machen sich breit und das Land wird zunehmend unregierbar. Die Politik gerät in einen Zangenangriff, der ihre Entscheidungsspielräume weiter einengt. Als Endpunkt einer solchen Entwicklung drohen völlige Entstaatlichung und allgemeine Barbarei.


Ununterscheidbarkeit der Parteien

Wachsender Unmut gegen den Staat kann durch Wahlen von den grundlegenden Problemen abgelenkt und gegen das gerade amtierende Personal und dessen Partei(en) gerichtet werden. Im Wahlkampf werden dann vorgeblich fundamentale Differenzen proklamiert. Meist ist dann von einer "entscheidenden Richtungswahl" die Rede, und es wird gern so getan, als stünde das Schicksal ganzer Dekaden auf dem Spiel. Faktisch sind aber die Differenzen zwischen den Parteien oft so klein, dass sie den Streit kaum lohnen. Und sobald sich eine Equipage an der Macht befindet, exekutiert sie - egal ob alt oder frisch installiert - nichts anderes als den totalitären Anspruch der Ökonomie. Dann wird wieder auf die Alternativlosigkeit anstehender Entscheidungen hingewiesen und Einsicht in angeblich unabweisliche Notwendigkeiten gefordert. Eng hiermit zusammen hängen auch die großzügig gegebenen Wahlversprechen, von denen sich die meisten bald als unerfüllbar, weil "nicht finanzierbar" herausstellen.

Die Wähler sollen also im Grunde nur über ein mehr oder weniger effizientes Verwaltungspersonal entscheiden. Das ist dann in erster Linie damit beschäftigt, "Reformen" auf den Weg zu bringen, die das Wohl der Wirtschaft fördern sollen und regelmäßig mit der Verschlechterung von Lebensbedingungen der Bevölkerung verbunden sind. Dass sich in der vorausgegangenen Wahl also faktisch eine Mehrheit für eine Politik gefunden hat, die gerade die Interessen dieser Mehrheit missachtet, lässt sich nur dadurch erklären, dass die angebotenen Alternativen gar keine echte Wahl darstellten. Selbst die Verteilungsfragen, in denen sich die Parteien vorgeblich voneinander unterscheiden, spielen kaum eine Rolle, da Verteilungsspielräume in einer Ökonomie, die sich seit Jahrzehnten in einer Dauerkrise befindet, fast nicht mehr vorhanden sind.

All das hält das gewählte Personal jedoch keineswegs davon ab, sich in den nächsten vier oder fünf Jahren auf das Wählervotum zu berufen. Solange der Staat in dieser Situation noch einigermaßen stabil bleibt, wird gern ein "moderner" Pragmatismus an den Tag gelegt. Mustergültig verhält sich in dieser Hinsicht die an sich mit einer Richtlinienkompetenz ausgestattete deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU): Sie lässt vom Regieren lieber die Finger und versteckt sich hinter ihren Kabinettsmitgliedern, an die sie nach angemessener Zeit und je nach öffentlicher Reaktion entsprechende Rügen oder Fleißkärtchen verteilt. Das funktioniert zwar desto weniger, je mehr Politik nichts anderes darstellt als den Abklatsch ökonomischer Diktate, wie übrigens auch die stetige Zunahme der Nichtwähler signalisiert. Aber noch funktioniert es.

Wenn jedoch das Tagesgeschäft mit seinem Pragmatismus nicht mehr zum Erfolg führt und die Chancen für die nächste anstehende Wahl einbrechen, dann schlägt die Stunde der Sündenbockideologien. So geschehen beim Regierungspartner von Merkels Partei: Weil die FDP mit ihrem ungebrochenen Neoliberalismus bei einer zunehmend skeptischen Wählerschaft kaum noch punkten kann, suchte ihr Parteichef Guido Westerwelle das Heil im Ressentiment und begann gegen die Empfänger staatlicher Transferleistungen zu hetzen. Fleißige Bürger, so der Plan, sollten darauf anspringen und brav FDP wählen. Zu seiner eigenen Verwunderung hat sich Westerwelle damit jedoch mächtig verkalkuliert. Wie weiland der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) mit seinen Attacken auf U-Bahn-Schläger, die er obendrein noch unverhohlen mit ausländerfeindlichen Ressentiments vermengte, musste auch Westerwelle erfahren, dass man mit der Hetze gegen Minderheiten nicht in jedem Fall Erfolg hat. Das dürfte auch daran liegen, dass die Anzahl derjenigen Menschen zunimmt, welche die zugrunde liegenden strukturellen Ursachen mitsamt der auf sie selbst zielenden Bedrohung zumindest erahnen. Ihnen ist offenbar im in Deutschland sehr dramatischen Verlauf der Krise mehr oder weniger klar geworden, dass Arbeitslosigkeit usw. nicht auf ein massenhaftes Versagen bzw. verwerfliches Handeln der von Westerwelle und Co. attackierten Individuen zurückzuführen ist.

Sobald neue Parteien die Schwelle der öffentlichen Wahrnehmbarkeit überschreiten, bewegen sie sich zwischen den Polen der Marginalisierung und der Etablierung. Entweder werden sie alsbald wieder ins Abseits gestellt und verschwinden kurz darauf. Oder aber sie werden nach und nach domestiziert. Denn bevor es eine Partei schafft, auch nur in die Nähe einer Regierungsbeteiligung zu kommen, durchläuft sie in der Regel einen Anpassungsprozess, in welchem sie die herrschende Logik immer weiter verinnerlicht. Am Ende geben Pragmatiker, Realos und Karrieristen den Ton in der Partei an, und der ursprüngliche kritische Impuls geht verloren.

So war es bei den GRÜNEN, die sich längst zum real existierenden Pragmatismus durchgearbeitet haben. So ist die Tendenz bei der Linkspartei. Und so wird es absehbar auch bei der Piratenpartei sein. Die radikaleren unter den Gründungsmitgliedern werden enttäuscht, fühlen sich verraten und wenden sich nicht selten der Gründung einer neuen Partei zu, die es dann wirklich anders machen soll. Politiker dagegen, die erkennen, dass sich ein besseres Leben innerhalb der bestehenden Verhältnisse nicht mehr verwirklichen lässt, sind bald keine mehr. Im etablierten Politikbetrieb bleiben daher am Ende nur pragmatische Sachstandsverwalter, Populisten und allenfalls noch notorische Neugründer übrig, die in der x-ten Partei ihre politische Heimat suchen.


Marktgängige Professionalisierung

Nach der Wahl ist das Wahlvolk für die anstehenden Entscheidungen überflüssig. Das war nie anders. Ein neueres Phänomen stellt dagegen die Tatsache dar, dass selbst die gewählten Vertreter nicht gefragt werden, sondern politische Entscheidungen in Kommissionen, Experten- oder Konsensrunden vorbereitet werden, während das Parlament erst ganz am Ende des Entscheidungsprozesses die ausgearbeiteten Fassungen vorgelegt bekommt und zum reinen Abnickinstrument degradiert wird. Ein "Meilenstein" in dieser Entwicklung war die im Februar 2002 eingesetzte Hartz-Kommission. Sie bestand aus 15 Mitgliedern, darunter acht (!) Repräsentanten der Wirtschaft, zwei Gewerkschaftern, zwei Wissenschaftlern, zwei (!) Politikern und einem Beamten. Der größte Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik wurde faktisch am Parlament vorbei in einem parastaatlichen Organ ausgeheckt, in dem Politiker eine kleine Minderheit darstellten.

Das ist letztlich nichts anderes als "Outsourcing" von Politik. Hinzu kommt, dass der Staat auf allen Ebenen (Bund, Ländern, Kommunen, Ämtern etc.) immer mehr bezahlte Berater engagiert. Und auch die Wahlkampagnen der politischen Parteien werden zunehmend von externen Beratern geführt, sodass sie folgerichtig kaum noch von Werbefeldzügen für x-beliebige Produkte zu unterscheiden sind. Durch den Einzug der Marktlogik wird die Trennung von Politik und Ökonomie quasi durch die Hintertür unterlaufen. Und die letzten Unterschiede zwischen den Parteien reduzieren sich auf Fragen der Werbestrategie und des Politmarketings.

Raute

Die Angst Italiens vor den Fremden(*)

von Paolo Lago

Ein fundamentales Charakteristikum der postmodernen Staaten scheint die Angst zu sein. Um dieser abzuhelfen, hat jeder Staat eine eigene Abwehr errichtet. Vielleicht ist schon die Schaffung der EU eine Art Abwehr der reicheren und "fortgeschritteneren" Länder gegen die armen im Süden und Osten der Welt gewesen. Paradoxerweise hat jedenfalls die Abschaffung der Grenzen zwischen etlichen Unionsstaaten die Barrieren zwischen diesen und den ärmeren Ländern verstärkt und eine noch höhere Mauer gegenüber den "nicht-europäischen" Staaten entstehen lassen, vor allem gegenüber den so genannten "unterentwickelten".

Eine solche Angst entlädt sich leicht in kriegerischen und gewalttätigen Formen: Denken wir z.B. an den "Krieg gegen den Terror", den die USA (und die mit ihnen alliierte Europäische Union) gegen bestimmte arabische Länder entfesselt haben, und an die Verteidigungsmaßnahmen, die im Inneren gegen die Migranten aus diesen Regionen getroffen wurden. Möglicherweise hat auf ökonomischem Gebiet dieselbe Angst dazu beigetragen, die "fortgeschrittenen" Länder zu der zügellosen Verschuldung anzutreiben, die in die gegenwärtige Krisensituation geführt hat, in der, wie Tomasz Konicz analysiert hat, Griechenland sozusagen überall ist (siehe "Griechenland ist überall" auf streifzuege.org).

Auch der italienische Staat wird von dieser Angst vor den Fremden geschüttelt, die angeblich unsere Identität und Lebensweise bedrohen. Man kann das allein schon von den jüngsten politischen Entscheidungen zur Immigration ablesen, die dem bestimmenden Einfluss zu verdanken sind, den die rassistische und xenophobe Lega Nord derzeit in der Regierung des Landes hat. Denken wir z.B. an den Erlass des Unterrichtsministeriums, demgemäß vom kommenden Schuljahr an höchstens 30 Prozent der Schüler einer Klasse aus Migrantenfamilien stammen dürfen, oder daran, dass nunmehr diejenigen Einwanderer, die ihre Arbeit verloren haben, von der Erlangung der Staatsbürgerschaft und jeglichen anderen Rechten ausgeschlossen sind, auch dann, wenn sie schon zehn oder mehr Jahre in Italien sind. All dies sind Gewaltmaßnahmen. Der Staat ist für die Migranten zu einer Art fremdem, ganz und gar gewalttätigen Wesen geworden (genau so übrigens, wie er es 1861 nach der Einigung Italiens für die Bevölkerung des Südens der Halbinsel war, welche die gegenüber ihren einfachsten Bedürfnissen ignoranten Zentralbehörden in Rom als gewalttätige und tyrannische Despoten erlebte).

Um mit der eigenen Angst vor der ungewissen und krisenhaften Zukunft fertig zu werden, zögert der Staat nicht, gegen die wehrlosesten sozialen Schichten mit offener Gewalt vorzugehen. Eine Form von Gewalt, die sich im Aufrichten von Grenzen verwirklicht, manifesten, physischen Grenzen zwischen Staat und Staat, aber auch Grenzen zwischen Menschen. Schranken, die ganz alltäglich den Italiener vom Ausländer trennen, eine Form von Ausschluss, die sich nicht mehr viel von den Diskriminierungen unterscheidet, die Nationalsozialismus und Faschismus ausgeübt haben.

Es handelt sich beim Status Grenze um genau jene Form von Gewalt, von der Walter Benjamin spricht: "Macht (ist) das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung. Dieses ... (Prinzip) erfährt eine ungeheuer folgenschwere Anwendung im Staatsrecht. In seinem Bereich nämlich ist die Grenzsetzung, wie sie der 'Friede' aller Kriege des mythischen (bis heute andauernden, Anm.d.V.) Zeitalters vornimmt, das Urphänomen rechtsetzender Gewalt überhaupt. Auf das Deutlichste zeigt sich in ihr, dass Macht mehr als der überschwenglichste Gewinn an Besitz von aller rechtsetzenden Gewalt gewährleistet werden soll. Wo Grenzen festgesetzt werden, da wird der Gegner nicht schlechterdings vernichtet, ja es werden ihm, auch wo beim Sieger die überlegenste Gewalt steht, Rechte zuerkannt. Und zwar in dämonisch-zweideutiger Weise 'gleiche' Rechte: Für beide Vertragschließenden ist es die gleiche Linie, die nicht überschritten werden darf." (Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, edition Suhrkamp 103, 1965, S. 57)

Die "rechtsetzende Gewalt" errichtet auch in der Gegenwart, genau so wie Benjamin darlegt, Grenzen, in denen in "dämonisch-zweideutiger Weise" dem Sieger und dem Besiegten scheinbar gleiche Rechte zuerkannt werden; in der zeitgenössischen sozialen Realität Italiens den Italienern als "Siegern" und den Migranten als Verlierern, wobei der Staat seine zweideutige und vielgestaltige Gewalt, mit der er pure rassistische, der faschistischen Ära würdige Diskriminierung ausübt, als demokratische Maßregeln ausgibt. Der Unterschied zum Faschismus scheint bloß noch zu sein, dass heute statt der Rasse die Arbeit verteidigt und mit Barrieren geschützt werden muss.

Es ist die Angst vor dem "Ausländer, der dem Italiener die Arbeit stiehlt", die den Staat Italien, der unter der Regierung Silvio Berlusconis zum Ebenbild eines neoliberalen Unternehmens gemodelt wurde, dazu treibt, soziale Schranken zu errichten, die sich unweigerlich auch als ökonomische Barrieren entpuppen. Einen Unternehmens-Staat, der überall den Mechanismus von Verbot und "generalisierter Bestrafung" (um einen Ausdruck aus Foucaults "Überwachen und Strafen" zu verwenden) mobilisiert, um obsolete kapitalistische Mechanismen zu schützen; einen Unternehmens-Staat, der mit der Errichtung von Grenzen jeder Art und mit der Schaffung von immer neuer Angst doch nur dahin kommt, auch sich selbst ökonomisch wie sozial in die Knie zu zwingen. Denn Gewalt ist nutzlos, wenn "Griechenland überall ist".

(*) Übersetzung und aus dem Italienischen und Bearbeitung von Lorenz Glatz.

Raute

Staat ohne Staatsapparat

von Peter Pott

Am Anfang war... War was? Die Dichter und Denker sind sich uneinig. Der eine sagt: das Wort! Der andere: die Tat! Wieder ein anderer: der Schrei! Nietzsche: Der Wille, "aber nicht Wille zum Leben, sondern - so lehre ich´s dich - Wille zur Macht" (Bd. II, S. 371f., Also sprach Zarathustra). Hegel sagt: "In der Wirklichkeit ist darum der Staat überhaupt vielmehr das Erste..." (Grundlinien § 256). Marx sagt: "In Gesellschaft produzierende Individuen - daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt" (Grundrisse S. 5). Natürlich! Oder anders gesagt: "Die erste Voraussetzung aller Menschheitsgeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen" (Die deutsche Ideologie S. 20), die, wie Marx an anderer Stelle sagt, "sinnliche Gegenstände außer sich haben, Gegenstände (ihrer) Sinnlichkeit", die weder objektiv noch subjektiv "unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden" sind (Ökonomisch-philosophische Manuskripte S. 579), die sie sich also erst noch passend machen müssen, ohne doch zu wissen, was passt und wie es passend zu machen ist, wohl bewusst, dass sie allein es nicht schaffen.

"Der Mensch ist im wörtlichsten Sinne ein zoon politikon" (Grundrisse S. 6). Er ist kein soziales Wesen! Ameisen und Bienen, Schafe und Wölfe sind es. Der Mensch ist es nicht. Nicht seinem Wesen nach. Er ist ein Tier, das wie jedes andere Tier die Natur zu seinem Gegenstand hat, den es sich in artspezifischer, sinnlich-tätiger Weise zu eigen machen muss. Ein unmögliches Tier allerdings, insofern es seine Art ist, aus der Art zu schlagen und über diese Unart seine Art auszumachen, mit der es sich dann in phantastischer Weise durchschlägt: ein Wesen, das grundsätzlich mit seinem Dasein hadert - und ein besseres will, das es, wenn es noch bei Sinnen ist, nicht in der Verherrlichung des Erreichten sucht, sondern im sinnlichen Austausch mit anderen, der kein Geschäft ist, sondern eine Kunst: die Kunst der Liebe, die wie alle Kunst tonisch wirkt, wie Nietzsche bemerkt. Sie "mehrt die Kraft, entzündet die Lust (d.h. das Gefühl der Kraft), regt alle die feineren Erinnerungen des Rausches an - es gibt ein eigenes Gedächtnis, das in solche Zustände hinunterkommt: eine ferne und flüchtige Welt von Sensationen kehrt da zurück" (Bd. III, S. 753), die andeuten, was Sache ist und was zu tun ist, sie zu versachlichen. Um die Andeutungen zu verstehen, bedarf es Zeit, die fehlt, wenn Gefahr droht. Da ist zu retten, was zu retten ist - und nicht weitschweifig daran zu denken, wie es wurde und was daraus noch werden kann. Das liegt so nah, wie es naheliegt, das gerettete Leben mit Beendigung des Ausnahmezustandes wieder zur Regel werden zu lassen. Das Fleisch ist willig. Doch der Geist war stets zu schwach, als dass die Menschen den Geist, mit dem sie sich ihre Natur zu eigen machten, als ihren eigenen, gesellschaftlich produzierten Geist zu fassen und entsprechend auszuarbeiten vermochten, doch da, wo er auftauchte, gleich mächtig genug, um Staat mit ihm zu machen.


Staat, was das?

"Staat? Was ist das? Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: 'Ich, der Staat, bin das Volk.'

Lüge ist's! Schaffende waren es, die schufen die Völker und hängten einen Glauben und eine Liebe über sie hin: also dienten sie dem Leben.

Vernichter sind es, die stellen Fallen auf für viele und heißen sie Staat: sie hängen ein Schwert und hundert Begierden über sie hin"
(Nietzsche Bd. II, S. 313).

Es sind die Männer, die mit Vorliebe Staat machen. Von der Jagd heimgekehrt. Wenn es Nacht wird, die Frauen sich schlafen legen, ihre Kinder im Arm. Wenn die Männer unter sich sind, abseits des Lagers, um ein Feuer geschart. Der Ausgangspunkt der Staatsidee: brütende Stille. Dann: Getöne. Es beginnt mit leiser Stimme: "kaum wahrnehmbar zunächst, so tief kommt sie von innen, ein behutsames Murmeln, das noch nichts artikuliert, sich geduldig der Suche nach einem treffenden Ton und einer treffenden Rede widmet. Doch allmählich schwillt sie an, der Sänger ist sich seiner nun sicher, und plötzlich bricht sein Gesang frei und gespannt, laut schallend empor. Angespornt gesellt sich eine zweite Stimme zur ersten, dann noch eine, sie schleudern hastige Worte, wie Antworten auf Fragen, denen sie stets zuvorkommen würden. Jetzt singen alle Männer. Immer noch sitzen sie reglos, mit etwas verlorenem Blick; sie singen alle zusammen, aber jeder singt sein eigenes Lied. Sie sind Herren über die Nacht und jeder will darin Herr über sich selbst sein" (Clastres S. 99f.).


Lagerfeuerromantik!

Die Indianer, die hier tönen, die Guayaki-Indianer, die Clastres "Staatsfeinde" nennt, zu unrecht so nennt, singen, wie sie sagen, "um zufrieden zu sein". Doch singen sie nicht zur gemeinsamen Zufriedenheit. Auch wenn es scheint, dass sie im Chor singen, so singt doch jeder für sich allein. Keiner hört auf den anderen. Jeder betont: "Ich bin ein großer Jäger, ich töte viele mit meinen Pfeilen, ich bin eine starke Natur". Sie betonen es immer wieder. Stundenlang. Stunden über Stunden hocken sie am Lagerfeuer, wie ihre zivilisierten Zeitgenossen am Stammtisch sitzen und prahlen. Die Zeit verrauscht. In ihrem Rausch reden die Männer sich ein, was ihnen die Wirklichkeit verweigert: dass sie von außerordentlicher Bedeutung im allgemeinen Werden und Vergehen sind, Persönlichkeiten sozusagen, die mit ihrem mehr oder weniger bemerkenswerten technischen Geschick auch über jene scheinbar göttliche Macht verfügen, von der offensichtlich das Schicksal ihrer Gemeinschaft abhängt. Jeder ist bemüht, den anderen zu übertreffen. Jeder Mann besessen, sich und die anderen zu überzeugen, ein Auserwählter zu sein. Sie machen Staat! Ohne Staatsapparat.

Clastres nennt den Gesang, der trennt und wieder vereint, mit dem die Indianer sich gegenseitig vormachen, als ausgezeichnete Jäger einen ausgezeichneten Zugang zur Gottheit der Gemeinschaft zu besitzen, unschuldig. Doch das ist er gewiss nicht. Er ist es insofern nicht, wie sie mit der Betonung ihrer jeweiligen Besonderheit ein Lied anklingen lassen, das sie der menschlichen Natur schuldig sind: ein Freiheitslied, wenn man das so sagen darf; ein Lied, mit dem sie sich von dem unmenschlichen Kampf ums Dasein absetzen, um, wie Ernst Bloch sagt, in "Not, Härte, Rohheit, Banalität Fenster zu schlagen". Fenster nur! Ausblicke. Keine Ausgänge. Diese bleiben sie sich, ihren Frauen und Kindern schuldig.

Die männliche "Dialektik der Beredsamkeit" (Clastres), die allgemeine Schwäche gegenüber der Natur in eine im Einzelnen vorhandene Stärke umzudeuten, lässt doch alles beim Alten. Der Gesang des Männergesangvereins bestätigt, was ihn erforderlich machte: die Zwangsgestalt der Gemeinschaft, die Fremdheit unter den Individuen, die immer auch etwas Feindseliges hat, die mangelnde Vertrautheit mit den Naturgewalten, die alltägliche Öde, das Misstrauen, das zwischen Männern und Frauen herrscht, die Ungeduld der Erwachsenen gegenüber den Kindern. Es ist eine trübe Aussicht, die im Brustton der Überzeugung anklingt. Schlimmer noch: Aussicht auf Gewalt, die herrlich erscheint. Die Selbstverherrlichung, mit der die Männer ihr Unvermögen zur selbstbewussten Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Natur übertönen, spricht der alltäglichen Wirklichkeit geradezu Hohn. Mit Verachtung blicken die scheinbar Potenten auf das scheinbar schwache Geschlecht. Sie verspotten das "naive Leben", das "immer da, ganz nah, aber arm und erniedrigt" ist, das schließlich auch ihr Leben ist, "schöpferisch und bedroht in einem" (Lefebvre).

Das verachtete und verspottete "naive Leben", das Arme und Beine, Kopf und Hand in Bewegung setzt, damit die Natur die den Verhältnissen entsprechende brauchbare Form erlangt, entzieht sich nicht den Blicken. Vor allem nicht den Ohren. Die Frauen bringen es zu Gehör. Klagend. Während die Männer sich in unproduktiver Weise brüsten und mit geschwellter Brust herablassend auf das "naive Leben" blicken, ohne dessen Produktivität sie sich doch nicht einmal brüsten könnten, geben die Frauen sich naiv - und bejammern das Leben als Schicksal, das nicht zu ändern ist. Sie sind so weise, es nicht zu verherrlichen, doch nicht weise genug, es anders zu wollen. Sie geben sich ihm hin. Und geben sich so auch den Männern hin. Statt sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, um mit ihnen gemeinsam das "vorhandene menschliche Haus" adäquater hinzukriegen (Bloch, S. 807), bestätigen sie den Männern hingebungsvoll, dass sie die Helden sind, die vorne gehen bzw. stehen müssen - und sich, dass sie zurecht immer hinterherlaufen bzw. im Hause bleiben, in dem die Männer grundsätzlich nichts zu suchen haben, weil es für sie dort nichts zu finden gibt. Nichts als die Pflege ihrer Wunden, mit denen sie zuvor geprahlt haben, und den gelegentlichen Beischlaf. Nichts von Bedeutung!

Von den Männern nicht als Subjekt anerkannt und ihrerseits auch nicht darauf bedacht, eins zu sein, bleibt die Frau doch begehrenswert - und ist gerade deshalb so begehrt: einerseits als letzte Zufluchtsstätte für die verschlagene Männlichkeit, damit sie von weiblichen Händen wieder aufgerichtet wird und sich weiter durchschlagen kann; andererseits als Objekt phallischer Lust, die nur funktioniert, wenn die Frau sich auch als solches gibt, nicht als Subjekt einer gemeinsamen Praxis, sondern als Natur, die zu erobern ist.

Das "schwache Geschlecht" achtet, von dem es verachtet wird, auch wenn es sein Los beklagt. Es stützt den Staat, den das "starke Geschlecht" mit seiner Technik und der Arbeit des anderen Geschlechts macht. Wer genau hinhört, kann in den klagenden Tönen auch einen Ton des Triumphes hören: den Hochmut, der in Demut sich verbirgt; die Geringschätzung, die die Frauen dem männlichen Getue entgegenbringen, auch wenn sie die Männer immer wieder dazu anfeuern, ihre Männlichkeit erneut unter Beweis zu stellen. Das auch und gerade mit ihrem Gejammer.

Verkörperungen der Unschuld sind sie nicht. Der männlichen List entspricht eine weibliche. Vereint überlisten sie, was sich ins Gegebene nicht fügen will. Gemeinschaftlich bestätigen Mann und Frau einen Machtzusammenhang, in dem das Individuum in seinem gesellschaftlichen Wesen praktisch bedeutungslos ist: die Frauen, indem sie mit ihrem undifferenzierten Klagegesang jegliche Differenz beklagen und damit nur die ewige Wiederkehr des immer Gleichen einklagen; die Männer, indem sie mit ihrem Sologesang Differenzen betonen, mit denen sie sich lediglich schmeicheln, durch die die vorhandene menschliche Welt aber keineswegs menschlicher eingerichtet wird. Sie wird stattdessen verstaatlicht. Mit Hilfe eines Staatsapparates erst da, wo die Naturbeherrschung eine solche Fülle von Tatsachen ergibt, dass die Menschen mehr als zum Überleben notwendig haben: einen Reichtum, der die Herrschaften nährt, auch wenn sie nicht dafür arbeiten müssen.


Häuptlingsmacht

Reichen die Mittel nicht aus, einen Reichtum zu produzieren, der es erlaubt, die Gemeinschaft in Herren und Knechte zu spalten, nicht zur Trennung von körperlich Arbeitenden und geistig Arbeitenden, von Nährstand und Wehrstand - und einem ersten Stand, der die Regierungsgeschäfte führt, nicht zur Schaffung eines Staatsapparates, so gibt es doch einen Raum der Rede, in dem man vom Raum der täglichen Arbeit absieht, um weit entfernte Räume zu erobern. Er reicht, dass schon "primitive" Jäger es sich leisten können, um ihr Ansehen zu kämpfen. Und so sich produzierend, produzieren sie angesehene und weniger angesehene Subjekte: eine hierarchisch gegliederte Gemeinschaft mit einem Häuptling an der Spitze. Sein Ansehen ist das höchste. Doch nicht von Dauer. Es ist beständig zu beweisen. Mehr mit Worten als mit Taten. Mit überzeugenden Worten, nicht mit befehlenden. "Ein Befehl: gerade den kann der Häuptling nicht geben, gerade diese Art Fülle wird seinem Wort verweigert."

So stellt die Gemeinschaft, die praktisch nichts zu verschenken hat, sicher, "dass alle Dinge an ihrem Platz bleiben, dass die Achse der Macht sich ausschließlich auf den Körper der Gesellschaft beschränkt und dass keine Verlagerung der Kräfte diese soziale Ordnung umstößt" (Clastres S. 151). Es bleibt ihr keine Wahl: Einen Despoten kann sie sich nicht leisten, nur einen Häuptling, der will, was alle wollen, der im Sinn hat, was alle im Sinn haben. Was aber nicht heißt, wie Clastres unterstellt, dass der Häuptling kein Mann der Macht ist. Und auch nicht heißt, dass die primitive Gesellschaft keinen Raum hat, "den der Staat ausfüllen könnte". Sie hat nicht die Mittel zu einem Staatsapparat. Der Staat bleibt in der Schwebe der Worte und der Gesten: eine von allen geteilte Vorstellung, die sie nur haben, indem sie sie geben; die Vorstellung einer sie "geziemend" verbindenden magischen Macht, zu der die einen mehr als die anderen, wie sie sich rühmen, Zugang haben, der Häuptling den für alle entscheidenden. Er bringt mit seiner strahlenden Siegesgewissheit - und nur so lange wie er sie ausstrahlt - die Macht der Gemeinschaft so zum Ausdruck, wie sie sie alle am "liebsten" sehen. Seine Erscheinung, sein Vorstellungs- und Darstellungsvermögen, seine Ausstrahlung verschafft dem lieblosen Betrieb der Selbsterhaltung den Schein einer lieben Gewohnheit, von der sich praktisch aber niemand absetzen kann. Alle, auch der Häuptling, so überzeugend er sich auch darstellen mag, müssen ihren Nutzen für die Gemeinschaft mit ihrer Hände Arbeit bezeugen - und können ihres Lebens nur sicher sein, wenn es sich tätig in das Leben der anderen einmischt und sich mit allen erlaubten Unterschieden zu einem lebendigen Werkzeug von gewünschter Schlagkraft instrumentalisiert.

Hat die Häuptlingsmacht auch eine befreiende Wirkung, indem sie Menschliches gegen nur Natürliches anschaulich zur Geltung bringt, den Wunsch nach Ruhm und Ansehen gegen den Hang des bloßen Überlebens institutionalisiert, technische Geschicklichkeit höher bewertet als rohe Kraft, das Rednertalent höher als schweigende Zustimmung, so ist sie doch nicht frei von Gewalt, wie Clastres weismachen will. Seine eigenen Worte besagen das Gegenteil: "Die wesentliche (d.h. das Wesen berührende) Eigenschaft der primitiven Gesellschaft besteht darin, eine absolute und vollständige Macht über alles auszuüben, aus dem sie besteht; darin, die Autonomie irgendeiner ihrer Untergruppen zu verhindern; alle bewussten und unbewussten inneren Regungen, die das soziale Leben nähren, in den von der Gesellschaft gewollten Richtungen und Grenzen zu halten. Der Stamm äußert (wenn nötig mit Gewalt) seinen Willen, diese primitive soziale Ordnung zu bewahren, unter anderem dadurch, dass er das Auftauchen einer individuellen, zentralen und losgelösten Macht untersagt. Eine Gesellschaft also, der nichts entweicht, die nichts aus sich herauslässt, denn alle Ausgänge sind versperrt" (S. 202f.).

Nicht alle Ausgänge sind versperrt! Die Häuptlingsmacht, in der der Staat, den die Männer mit der gesellschaftlichen Macht machen, ein menschliches Gesicht erhält, sprengt auch die Grenzen, die ihr gesetzt sind - und macht dabei Fortschritte: Fortschritte auf dem Wege der Emanzipation vom "Absolutismus der Wirklichkeit", die erkauft werden mit dem Auftauchen und der Anerkennung "einer individuellen, zentralen und losgelösten Macht". Doch bevor es dazu kommt, wenn es überhaupt dazu kommt, bevor die primitive Gesellschaft sich ihren technischen Fortschritt mit der Einrichtung der Klassengesellschaft erkauft, erwirbt sie sich mit der Verherrlichung männlicher Geschicklichkeit den Status spezifischer technischer Kompetenz, der ihr gegenüber anderen Gemeinschaften eine Sonderstellung verschafft - und damit die Möglichkeit, zu diesen in ein Tauschverhältnis zu treten.


Austausch von Männern

Das Tauschverhältnis, das bedeutet, dass die Menschen auch andere menschliche Gemeinschaften als menschliche anerkennen, mit denen Verhandlungen möglich sind, ohne dass sie damit anerkennen müssen, dass der Mensch dem Menschen ein Bedürfnis ist: Dieses erste Tauschverhältnis wird gewiss nicht als geregelter Handel mit ausdrücklich für den Tausch produzierten Gütern wahrgenommen. Ausgetauscht werden zunächst wahrscheinlich gar keine Güter, sondern Menschen - und wenn man George Thomson folgen will: Männer; Männer, die in andere Gemeinschaften "einheiraten" und diese mit ihren spezifischen Fähigkeiten bereichern (S. 17). Mögen die Frauen bei dieser "Personalpolitik" auch die Qual der Wahl haben: Mit den fremden Männern, die sie sich ins Haus holen, holen sie sich einen Geist ins Haus, der ihnen wenig günstig ist.

Hat es je ein Mutterrecht gegeben und bis dahin sich gehalten, der Geist, den es rief, beseitigt es - zugunsten des Vaterrechts, mit dem die Menschen ihr Recht betonen, von der Natur einen anderen als den angestammten Gebrauch zu machen, sie als etwas von der tradierten Bestimmung Verschiedenes zu schätzen, das heißt auch zu schätzen, was andere Gemeinschaften zu schätzen wissen. Damit erhöhen sich, wie Serge Moscovici schreibt, "die Wahrscheinlichkeit und die Geschwindigkeit, mit der disparate Teile des Wissens zusammenfließen. Botschaften aus Fleisch und Blut, die aus ihrem Zusammenhang losgelöst sind, Berufe und Fähigkeiten zirkulieren, treten zusammen oder auseinander, bis sie einen neuen Diskurs bilden, sich zu einem neuen Code vereinen" (S. 138): zu einer neuen Art und Weise der Organisation der Sinnlichkeit, wie wir hinzufügen wollen, um damit zu betonen, dass die ausgetauschten "Botschaften aus Fleisch und Blut" auch in Fleisch und Blut übergehen und für eine neue Physis der Menschen sorgen, mit der sie die Natur anders wahrnehmen, andere Vorstellungen zu ihrer Welt entwickeln, neue Arbeitsweisen wie neue Weisen des Genießens erfinden.

Die Geschwindigkeit, mit der derartige Botschaften ausgetauscht werden und zu wahrnehmbaren Veränderungen führen, ist zunächst äußerst gering, wird schneller, ist heute rasend. Es ist eine lange Geschichte, bis die Menschen so gut sich auskennen und jenen Abstand zur Natur gewinnen, der es ihnen erlaubt, sie auch als ihre Heimat zu betrachten: die äußere Natur nicht nur als Durchzugsgebiet, sondern als den eigenen Grund und Boden; die innere Natur nicht mehr nur als Tauglichkeit zur unmittelbaren Auseinandersetzung mit der äußeren Natur, sondern auch als Gegenstand der Bildung einer körperlichen Verfassung, die gegenüber augenblicklichen Nöten erhaben und auf Zukünftiges eingestellt ist. Irgendwann und irgendwo, noch gar nicht lange her, gerade vor ein paar tausend Jahren, entscheiden sich herumziehende Nomaden, sesshaft zu werden - und treiben Ackerbau und Viehzucht. Eine Revolution! Die so genannte "Neolithische Revolution".

Müßig zu entscheiden, ob die Landwirtschaft eine Erfindung der Frauen oder der Männer ist. Sie ist eine arbeitsteilige Erfindung, die die gewohnte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau ebenso zur Vorbedingung hat, wie sie sie bestätigt - und zwar einschneidend: so, dass sie Wurzeln schlägt. Was den Abstand vergrößert, den Abstand sowohl zwischen Mann und Frau wie auch den Abstand zwischen Mensch und Natur. Er mag aus heutiger Sicht gering erscheinen. Von der Naturverbundenheit der Sammler und Jäger, die so völlig naturverbunden ja auch nicht waren, schon Anlass sahen, mit ihr Staat zu machen, doch deutlich zu unterscheiden. Die Erde ist nicht mehr länger ein Platz, den man abweidet, um dann weiterzuziehen. Sie ist von nun an "das große Laboratorium, das Arsenal, das sowohl das Arbeitsmittel, wie das Arbeitsmaterial liefert, wie den Sitz, die Basis des Gemeinwesens" (Marx: Grundrisse S. 376).


Die Erde als Laboratorium

Die Erde wird Land, in das die da heimischen Bauern mit ihren bescheidenen Mitteln so viel Energie investieren, dass es auch ausreichend Früchte trägt. Sie sind abzuwarten. Die Erwartung verbindet. Sie bedingt eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, die sich von der vergangenen ermöglicht weiß, wie sie sich als Bedingung der kommenden weiß: eine traditionsbewusste Gemeinschaft, die zu ihren Angehörigen nicht nur die "Arbeiter" dieser Saison, sondern auch die der zurückliegenden Saison, auch die jetzt schon toten zählt - und auch die "Arbeiter" der nächsten und übernächsten Saison, auch die, die noch geboren werden müssen. Keine sonderlich große Gemeinschaft. Eine aus der Arbeitsorganisation sich begründende, hierarchisch gegliederte Hausgemeinschaft mit einem Hausvater an der Spitze, der nicht nur den Arbeitsprozess überwacht, sondern auch die Verbindung zu den vergangenen und künftigen Geschlechtern hält.

Außergewöhnliche Arbeiten, die eine größere Zahl von Menschen verlangen, Vorkehrungen zum Beispiel gegen Überschwemmungen, das Löschen einer Feuersbrunst usw., lassen sich in gelegentlicher Nachbarschaftshilfe erledigen. Das Haus ist von Häusern umgeben, die sich helfen, wenn "Not am Mann" ist. Sie mögen zusammen ein Dorf bilden oder nicht, in jedem Fall bilden sie eine Gemeinschaft von miteinander konkurrierenden Familien, die alle an ihrer "Souveränität" interessiert sind - und nur gelegentlich, in außergewöhnlichen Fällen, auch praktisch zusammenwirken.

Dazu gehören auch Festveranstaltungen, auf denen Männer und Frauen aus verschiedenen Familien sich treffen und auf ungewohnte Weise sich begegnen - und sich über die Monotonie des Alltags hinaustragen lassen, indem sie Überraschendes miteinander anfangen. Es wird gegessen und getrunken, wie man nicht alle Tage isst und trinkt: besser und üppiger, nicht nur um Hunger und Durst zu stillen, sondern des Appetits wegen, der beim Essen kommt, des Rausches wegen, den das Trinken mit sich bringt, der Lust wegen, die die Auflösung der häuslichen Schranken und der damit mögliche Austausch von mehr oder weniger rauen Zärtlichkeiten erlaubt. Man tafelt - und gibt damit dem Essen und Trinken einen höheren, einen "wunderbaren Sinn" (Lefebvre). Bewegt sich, wie man gewöhnlich sich nicht bewegt, bewegt sich ausschweifend, im Tanz, schreitet "den Wunsch nach schöner bewegtem Sein aus, fasst es ins Auge, Ohr, den ganzen Leib und so, als wäre es schon jetzt" (Bloch). Unterhält sich unterhaltsamer als für den täglichen Unterhalt notwendig.

Die gelegentlich wahrgenommene Fest-Gesellschaft bleibt eine gelegentliche Wahrnehmung: ein Ausbruch aus der Enge und Unfreiheit des Hauses, der nicht als Aufbruch ausgehandelt wird. Er wird als Kult festgehalten, der in der Beschwörung der Götter um Fruchtbarkeit für die traditionelle Fortsetzung der bäuerlichen Arbeit spricht. Anders gesagt: Es kommt zu keiner Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, in der die unmittelbaren und spontanen, ausgelassenen, leidend-leidenschaftlich wahrgenommenen Begegnungen der Individuen auf dem Fest zur festen Gewohnheit werden. Das gesellige Miteinander wird vertan. Ist nur eine Abwechslung. Eine Abwechslung, die neue Aussichten eröffnet. Sie treiben das Individuum im Alltag um. Lassen es von einer Wohnung träumen, in der seine gesellschaftliche Natur besser aufgehoben ist: von einer Stadt-Wohnung sozusagen, in der, mit Hannah Arendt gesprochen, "das Anfangen und Etwas-in-Bewegung-Setzen ... eine zuverlässige Chance" besitzt, "weil die Hilfe der anderen, die für das Vollbringen und tragende Weiterführen ... unerlässlich ist, in dem geregelten Zusammenwohnen der Bürger immer zur Hand ist" (Arendt S. 219); einer städtischen Gründung, wie sie die Bauern irgendwann vorfinden werden. Dann allerdings nicht als ihr eigenes Gebilde, sondern als Gründung und Begründung einer herrschaftlichen Lebensweise, der sie nur sklavisch dienen, an dem Traum, dass Stadtluft frei mache, sklavisch festhaltend.

Auch ohne einen Herrn über sich, den Herren im eigenen Hause spielend, auf dessen Souveränität bedacht, vergeben die Bauern jede Gelegenheit, das spielerisch in Aussicht genommene Gemeinwesen Wirklichkeit werden zu lassen. Dabei waren die Aussichten durchaus keine unrealistischen. Existierten sie doch nicht nur in flüchtigen Bildern, sonderbaren Vorstellungen, mittellosen Phantasien, weltlosem Wahnsinn, sondern in Bildern, die konkrete Erfahrungen hinter sich hatten. Sie waren mit handwerklichem Geschick, Kenntnissen von der Natur und zur Welt verknüpft, die die Bauern im und am Haus und auf dem Hof gewinnen konnten. Die Aussicht war in "realen Potentialen" gegenwärtig, wie Rudolf zur Lippe sagt, in "Quasiressourcen", wie Moscovici sie nennt: "Quasiressourcen" deshalb, weil diese "Ressourcen weder direkt noch unter irgendwelchen Umständen eine eigene Individualität (gewinnen); sie kennzeichnen nicht den zentralen Kommunikationsstrom einer gegebenen natürlichen Kategorie mit der Materie, und aus diesem Grunde drücken sie sich auch nicht sichtbar im Reproduktionssystem aus. Sie sind zugleich komplementär und sekundär, denn sie greifen nur marginal und akzidentiell in den Verlauf der auf die physikalische Welt gerichteten Aktion ein, und das zugehörige Wissen wird nicht spezifisch als solches und für es reproduziert. Im Vergleich zu den Ressourcen, die den wichtigsten Beitrag zum Leben der Menschen leisten und in Bezug auf die die Fähigkeiten der Menschen verteilt sind und unterhalten werden, bleiben diese materiellen und geistigen Reichtümer peripher" (Moscovici S. 156f.).

Gelten sie nicht geradezu als überflüssig, dann doch als wertlos, keiner besonderen Aufmerksamkeit für würdig. So insbesondere die Hausarbeit der Frauen. Sie gilt als wertlos, weil mit ihr, so die heutige Lage, kein Geld zu machen ist, das nur da zu machen ist, wo die Arbeit als Mittel der Kapitalverwertung funktioniert. Sie galt auch in vorkapitalistischen Zeiten schon als wertlos, auch den auf eigenem Grund und Boden wirtschaftenden bäuerlichen Betrieben, so außerordentlich wichtig auch dieses und anderes "stille Wissen" für die Aufrechterhaltung des Betriebes sein mochte: keiner allgemeinen Beachtung und Bildung wert, insofern es als eine bloß naturwüchsige Eigenart zu existieren schien; als Nebensache, da keine Hauptsache.

Die Hauptsache aber war, was sie immer schon war und immer noch ist: "harte Arbeit", solche, die sich lohnt, auch wenn sie nicht bereichert, die die Betriebsmittel der bäuerlichen Hausgemeinschaft derart in Bewegung hält, dass sie deren Macht und Ansehen und insbesondere die Macht und das Ansehen ihres Oberhauptes stärkt; abstrakte Arbeit also, solche, die dem Status diente und sich der konkreten, gesellschaftlich vermittelten Arbeit bediente, ohne sie als solche zu begreifen, sodass ihre Entwicklung dem Zufall überlassen blieb, dem die Hauptsache in ihrer tradierten Form irgendwann nicht mehr gewachsen war. Das heißt mit anderen Worten, dass die im Rahmen der bäuerlichen Produktionsweise entwickelten und über sie hinausweisenden Erfahrungen, Fähigkeiten und Kenntnisse auf Umsturz sinnen. Sie fassen eine Gemeinschaft ins "Auge, Ohr, den ganzen Leib", in der die "Quasiressourcen" nicht mehr länger "aus dem festen Kreislauf des produktiven Lebens ausgeschlossen sind" (Moscovici S. 159).

Die Aussicht auf Wohn- und Arbeitsverhältnisse, die der gesellschaftlichen Natur der bäuerlichen Individuen gerechter wurden als die ihnen vertraute Hausgemeinschaft, war, wie gesagt, begründet - in den leibhaftigen Erfahrungen der Männer, Frauen und Kinder, die mehr vom Leben erwarteten, als die häuslichen Gewohnheiten ihnen zu bieten vermochten, die auch zu mehr in der Lage waren, wenn es die Verhältnisse gestatteten. Sie gestatten es nicht! Statt sie zu ändern, statt der Organisation einer häuserübergreifenden Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, in der ständig mehr Individualität im Spiel ist und sich nützlich macht, statt die Hausgemeinschaft und ihren Anspruch auf Souveränität aufzugeben, geben sich die Individuen auf.

Sie bleiben der Hausgemeinschaft treu - und nicht sich, d.h. den miteinander gewonnenen außerordentlichen Kunstfertigkeiten, um sie in einer neu sich formierenden Gemeinschaft zu realisieren. Treu, wie sie sind, werten sie ihr gesellschaftliches Wesen als Sache eines Wesens, das ihnen äußerlich ist: als Gabe eines Geistes, der nicht der ihre ist, dem sie aber Recht geben müssen - und für den sie ihre Individualität, wie sie auf Umsturz sinnt, rechtmäßig opfern. Was gefeiert werden darf. Es wird zur Hauptsache Hochzeit gefeiert. Sie besiegelt ein Tauschgeschäft, das Bedingung der Souveränität der Hausgemeinschaft ist - und zugleich auch der Anfang zu deren Ende, der Übernahme der staatlichen Hoheitsrechte durch das häuserübergreifende "Große Haus".

Die Hausgemeinschaft, groß genug für die landwirtschaftliche Produktion, ist zu klein, um für ihre kontinuierliche und regelmäßige Regeneration sorgen zu können. Diese muss aus anderen Gemeinschaften dazu kommen: wenn nicht freiwillig, dann mit Gewalt. Doch Frauenraub ist für Ackerbau treibende Gesellschaften kein haltbarer Zustand. Die Lösung des Problems ist der Tausch: Frauentausch; die Heirat, durch die die räuberische Beschaffung einen friedlichen Charakter bekommt, eine Institution wird, die feierlich sicherstellt, dass "an die Stelle der offenkundigen mütterlichen Filiation eine väterliche Filiation juristischen Charakters" tritt (Meillassoux S. 57).

Die Hausgemeinschaft, die die Frau liefert, erkennt an, dass diese und die von ihr geborenen Kinder Eigentum der Hausgemeinschaft sind, die die Frau erworben hat, während diese sich bei jener in Schuld weiß. "Wer immer ein junges Mädchen abtritt, erwartet ein anderes zurück", nicht unbedingt gleich und dann auch nicht unbedingt von einer bestimmten Hausgemeinschaft. "Die Entwicklung solcher Übereinkünfte geht dahin, sich auf eine ausreichend große Population auszudehnen, die eine angemessene Zahl von Ehepartnern umfasst, um eine kontinuierliche Reproduktion zu sichern" (S. 58). Als Hochzeit inszeniert, überhöht man das "Geschäft, das auf Zeit getätigt" wird. Es wird zu einem magischen Ereignis stilisiert, das den Eindruck verwandtschaftlicher Verbundenheit vermittelt: das tief greifende Gefühl, dass die Häuser, die durch Heirat miteinander verbunden sind und nicht nur die, die sich auf nachweisbare Heiratsbeziehungen berufen können, sondern der ganze Stamm derer, die überhaupt untereinander zu heiraten bereit sind -, dass sie alle von einer Macht abstammen, ein Volk sind.

Der mit dem Hochzeitskult und weiteren Kulten vermittelte Eindruck organischer Solidarität trügt. Er begründet einen Mythos - und betrügt die Bauern um die organisierte Solidarität, die sie wohl im Sinn hatten, die ihnen praktisch - als "reale Möglichkeit qualitativ neuer Prozesse" (zur Lippe) - nahe lag, theoretisch aber fern. Statt sich selbstbewusst ihres Geistes zu bedienen, dienten sie ihm. Statt den Geist mit Geist aus seinen häuslichen Fesseln zu befreien, ehrten sie ihn als ihren Hausgeist. Sie schreiben sich diesen Geist hinter die Ohren und nicht nur hinter die Ohren, lassen ihn in die Augen springen, schneiden ihn sich in den ganzen Leib, damit er zum Gefühl wird: zum "Gefühl der Sittlichkeit" (Nietzsche), dem jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise spontan als unsittlich gilt. Das Gefühl lohnt sich. Mit der Verleugnung ihrer individuellen, d.h. gesellschaftlichen Natur und der magisch-technischen Zustimmung zum tradierten Gemeinwesen und den da herrschenden Sitten und Gebräuchen handeln sich die Bauern die Mitgliedschaft in einem Verband ein, dessen Macht die Macht der Haus- und Dorfgemeinschaft gewaltig übersteigt, sich über eine große Zahl von bäuerlichen Betrieben erstreckt, auch wenn sie diese nicht regiert, die zentrale Führung noch fehlt. Diese bahnt sich an: u.a. im Kult eines gemeinsamen Ahnen oder in einem Mechanismus, der alle kriegstauglichen Männer auf einen gemeinsamen Kriegspfad zu bringen vermag. Kurz gesagt: Die Verwandtschaftsideologie antizipiert wohl die Teilhabe an einem großen und mächtigen Gemeinwesen, kann sie aber nicht verwirklichen. Weder im Sinne organisierter Solidarität, noch im Sinne einer dauerhaften Unterordnung der Segmente unter eine zentrale Staatsgewalt. Diese konnte kaum ausbleiben, da jene versäumt wurde. Die Konkurrenz um die Macht bewirkte Machtkonzentrationen, die auf den Zerfall der "Welt der Sippe" zielten, den zentralisierte Herrschaft auffing.


Literatur

Arendt, Hannah: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994.
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung I, Ffm. 1967.
Clastres, Pierre: Staatsfeinde, Ffm. 1976.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Ffm. 1996.
Lefebvre, Henri: Kritik des Alltagslebens, Kronberg im Taunus 1977.
Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd.42, S. 47ff.
Marx, Karl: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW EB 1, S. 568ff.
Marx, Karl / Engels, Karl: Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 8ff.
Meillassoux, Claude: Die wilden Früchte der Frau, Ffm. 1983.
Moscovici, Serge: Versuch über die menschliche Geschichte der Natur, Ffm. 1982.
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden, Hg. Karl Schlechta, Passau 1960.
Thomson, George: Aeschylos und Athen, Berlin 1957.

Raute

Dead Men Working

Zustände

von Maria Wölflingseder

Das deutsche Wort "Staat" ist dem lateinischen status ("Stand, Zustand, Stellung") entlehnt. Staat - Zustand - Ausnahmezustand? Ein Beispiel für die unregelmäßige Steigerung von gesellschaftlichen Verhältnissen? Zustand? Ausnahmezustand? Eine passende Bezeichnung aus der Umgangssprache für die Spezialbehandlung, die der Staat für bestimmte Gruppen seiner Angehörigen ersonnen hat? Alle für das Kapital nutzlos gewordenen LohnarbeiterInnen werden für kürzere oder längere Zeit, in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen, oder auf Dauer an bestimmte Orte beordert, an denen sie gezwungen werden, großteils sinnlose Tätigkeiten zu vollbringen und sich ebensolche oder gar zynische Predigten anzuhören.

• Je weniger Arbeitsplätze es gibt, desto stärker wird die "Dynamisierung" der Überflüssigen: Schaffe, schaffe, wo es nichts zu bauen gibt! Die "Freigestellten" werden postwendend angehalten und behandelt, als müssten ihnen die kapitallogischen Erfordernisse von vor zweihundert Jahren eingebläut werden: Pünktlichkeit, Disziplin, stupide und sinnlose Verrichtungen. Die passenden Locations wurden schnell gefunden: ausrangierte Fabriken. Wer in Wien an solchen vorbeigeht - zum Beispiel an der ehemaligen Textilfabrik in der Siebenbrunnengasse 21 - staunt über das rege Treiben. Ein großer Innenhof verbindet die Gebäudeblöcke A bis D. Die große Menschenmenge, die sich zu Mittag beim Schichtwechsel trifft, kommt aus oder geht in Etagen mit der Aufschrift "Die Berater - Unternehmen Mensch" - eine jener zahlreichen Firmen, die im großen Stil mit der Ware Mensch ihr Business macht. Fehlt nur noch "Massenmenschhaltung" als genauere Bezeichnung. Der Begriff "Humankapital" bekommt hier eine ganz eigene Bedeutung. - Für die MitarbeiterInnen, sprich ArbeitslosentrainerInnen, ist dieser Job allerdings eine recht prekäre Angelegenheit. In dieser Branche ist das durchaus die Regel, nicht die Ausnahme.

Die Warteschlangen im Entrée sind lang wie am Flughafen vor den Check-in-Schaltern der Billigfluglinien im August. Einer nach dem anderen wird in einen bestimmten Raum eingewiesen. Aber auf vielen Zuweisungsbriefen wird kurzerhand vermerkt: "Zurück zum AMS wegen Überbuchung". Wie bei den Charterflügen eben. Auf die Frage, ob dies hier ein Kasperltheater sei, antwortet Frau von Berater: Ja, es gebe immer mehr Zubuchungen als freie Plätze, weil ja viele nicht zum "Infotag" (der jedem Kurs voraus geht) erscheinen würden. - Das macht stutzig: Zum "Infotag" erhält man ausdrücklich eine "Einladung" - das klingt nach Freiwilligkeit. Wer aber den Termin versäumt, dem wird der Bezug gesperrt. Das trägt zum Sparen und zum hohen Ziel niedriger Zahlen in der Statistik bei. Überhaupt sind der Phantasie der AMS-BeraterInnen (fast) keine behördlichen Grenzen gesetzt, wenn es um die vorderen Plätze im internationalen Ranking geht.

• Hochkonjunktur haben zur Zeit auch "gemeinnützige Beschäftigungsprojekte" und "sozialökonomische Betriebe". 190 gibt es davon in Österreich. Da wird etwa eine Kunsthistorikerin bei der "Volkshilfe" eingewiesen, Müll zu sammeln und zu trennen. Oder eine Geisteswissenschaftlerin beim "Roten Kreuz", ein halbes Jahr lang 30 Stunden die Woche Besuchsdienst bei alten Leuten zu machen. Anschließend soll sie sich zur Heim- oder Pflegehelferin ausbilden lassen. Kollektivvertrag wird in solchen "Arbeitsdiensten" selten gezahlt. Wie denn auch, wenn es diese Tätigkeiten als Beruf gar nicht gibt. Oft wird AkademikerInnen als Lösung ihres Problems, die glorreiche Idee präsentiert, doch selbst ArbeitslosentrainerIn zu werden. - Soll die Errichtung von potemkinschen Arbeitsdörfern der Ausweg aus der Massenarbeitslosigkeit sein?

Welche Logik liegt dieser Chimäre mit Wirklichkeitsanspruch zugrunde? Die Arbeit ist zu einem in der Geschichte noch nie da gewesenen Götzen erhoben worden. Ihm sind wir bereit schier alles zu opfern: unsere Zeit, unsere Gesundheit, hohe Summen der Staatsfinanzen und auch unseren Realitätssinn. Arbeit ist zunehmend pure Simulation. In einem Hamburger Supermarkt der besonderen Art werden Langzeitarbeitslose angehalten, auf 2000 m² mit Plastik-Lebensmitteln und Spielzeuggeld Kauf und Verkauf zu üben. ("Wie im echten Leben - Der Hartz-IV-Supermarkt", www.3sat.de/mediathek/mediathek.php?obj=18860&mode=play)

• Ein anderer Zustand, der wie aus einem Science-Fiction-Roman anmutet, sind die so genannten "Karriere- und Entwicklungscenter" (früher: Jobcenter) der Post AG. Mit der Einführung des neuen Kollektivvertrags ist es der Post möglich, neue MitarbeiterInnen um rund ein Drittel billiger einzustellen. Die eingesparten, "nicht verwendungsfähigen" Beamten werden seit zehn Jahren ausgelagert. Derzeit sitzen österreichweit 890 ausgemusterte ältere PostlerInnen in dieser "gut abgeschirmten Lager-Konstruktion" tägliche ihre Stunden ab. Die Firmenleitung nennt das: "Passivieren" oder "Archivieren" von Personal.

Auch bei der ÖBB gibt es bereits solche "Nicht-Arbeitslager", genannt "interner Arbeitsmarkt". Es ist absehbar, dass sich dieser Zustand auf andere liberalisierte Staatsbetriebe ausweiten wird. Diese Kasernierung - bis zu 500 Menschen in einer Halle - bei gleichzeitigem Nichtstun und einem Drittel weniger Gehalt dient als Zermürbungstaktik mit dem Ziel der Selbstkündigung. Die Gewerkschaft schweigt dazu, und in den Medien wird selten darüber berichtet. In einer Radiosendung war zu erfahren, dass sich am 26. Februar dieses Jahres einer jener "Überflüssigen" in einem abgelegenen Raum solch einer Einrichtung erhängt hat. In einem e-mail äußerte er die Hoffnung, die unerträglichen Verhältnisse mögen sich dadurch ändern. (Ö1, Moment - Leben heute, 6.5.2010, www.karriereentwicklungscenter.at)

2008 hat der Deutsche Bundestag "erlittenes Unrecht und Leid, das Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kinder- und Erziehungsheimen in der alten Bundesrepublik in der Zeit zwischen 1945 und 1970 widerfahren ist" anerkannt und bedauert. Heute werden Menschen, nur weil deren Arbeitskraft unverkäuflich ist, nach Recht und Gesetz gedemütigt, entmündigt und existentiell bedroht. Wie lange wird es dauern bis das als menschenunwürdig erkannt und gestoppt wird?

Raute

Krise und staatliche Transformation

von Joachim Hirsch

Glaubt man den PolitikerInnen und ExpertInnen, so dauert die große Krise zwar noch an, aber man habe die Wirtschaft doch wieder im Griff. War also alles gar nicht so schlimm oder ist zumindest das Schlimmste überstanden? Wohl nicht, denn gleichzeitig wird die Bevölkerung auf zukünftige schwere Lasten eingestimmt. Diese werden in der Tat enorm sein und sich auf lange Zeit erstrecken. Von einem neuen Aufschwung kann jedenfalls kaum die Rede sein, viele Banken sind nach wie vor de facto pleite und auch Staatsbankrotte sind inzwischen nicht mehr ausgeschlossen. Selbst der als Hort der Stabilität gepriesene Euro wackelt und das Scheitern der Europäischen Währungsunion würde den ökonomischen GAU bedeuten. Was aber schwerer wiegt: Sowohl Unternehmen wie Regierungen führen genau die Politik weiter, die zu dem Debakel geführt hat.


Krise und Krisenpolitik

Von den ökonomischen Daten her handelt es sich bei der 2008 ausgebrochenen Krise um die schwerste seit den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie als "Finanzkrise" zu bezeichnen war und ist Schönfärberei, die glauben machen will, es handle sich um eine Art Unfall, der durch bessere Regulierung hätte vermieden werden können, oder sie sei dem verantwortungslosen Handeln einiger gewissenloser Finanzjongleure zu verdanken. In Wirklichkeit handelt es sich um eine klassische kapitalistische Großkrise, wie sie regelmäßig alle Jahrzehnte vorkommt. Es ist eine Überakkumulationskrise, die ihre spezifischen Wurzeln in der Struktur des neoliberal restrukturierten Kapitalismus hat.

Die neoliberale Globalisierungsstrategie hat dazu geführt, dass die Einkommensverteilung weltweit immer ungleicher wurde, die Profite explodierten und sich das Rationalisierungstempo beschleunigte. Angesichts der damit verbundenen Konsumschwäche wurden die Möglichkeiten für profitable Investitionen im produktiven Sektor geringer. Neben der für den Shareholder-Kapitalismus charakteristischen Orientierung der Unternehmen auf kurzfristige Gewinnmaximierung war dies der Grund dafür, dass die enorm gestiegenen Profite zunehmend in die Finanzspekulation flossen. Vor allem die immense innere wie äußere Verschuldung der USA wirkte wie ein globales keynesianisches Deficitspending und die damit erzeugte Finanzblase konnte die kritische ökonomische Situation eine Zeit lang verdecken.

Irgendwann musste diese Blase aber platzen. Im Herbst 2008 war das der Fall. Ein Unterschied zur Krise der dreißiger Jahre liegt in den staatlichen Reaktionen. Rettungsmaßnahmen für "systemrelevante" Unternehmen und Konjunkturprogramme bewirkten, dass die Krise durch die staatliche Politik nicht noch weiter verschärft wurde wie damals. Angesichts der dadurch erzeugten öffentlichen Verschuldung kann diese Form der Katastrophenhilfe indessen nicht unbeschränkt fortgesetzt werden. Nicht zuletzt entfaltet die Krise auf diese Weise keine "reinigenden" Wirkungen. D.h. dringend notwendige Strukturanpassungen unterbleiben. Ein Beispiel dafür ist in Deutschland die Abwrackprämie für Altautos, die an den strukturellen Überkapazitäten der Automobilindustrie nichts ändert. Größere Firmenzusammenbrüche wurden durch Staatseingriffe zwar vermieden und damit auch die Eigentümer geschont, doch gleichzeitig wird die Krise damit sozusagen auf Dauer gestellt und zeigt ihre ökonomisch und vor allem sozial desaströsen Wirkungen erst allmählich.

Die herrschende Politik ist dadurch charakterisiert, dass

• ernsthafte Ansätze zu der als dringend erachteten Re-Regulierung des internationalen Finanzsystems kaum vorhanden sind und die eingeleiteten Maßnahmen bestenfalls symbolische Qualität haben. Eine wirkliche Regulierung widerspräche den Interessen des international dominierenden kapitalistischen Machtblocks, der den Regierungen seine Bedingungen diktiert,

• eine gewaltige Staatsverschuldung angehäuft wird, die auf lange Sicht zu Lasten der Steuern, Abgaben und Gebühren zahlenden Masse der kleinen Leute geht. Oder das im Rahmen der Antikrisenprogramme in die Wirtschaft gepumpte Geld führt zu einer Inflation, die zwar eine Rückzahlung der Schulden erleichtert, aber ansonsten denselben Effekt hat.

Die Ungleichheit der Einkommensverteilung wird dadurch weiter vorangetrieben, also gerade die Entwicklung verschärft, die zur aktuellen Krise geführt hat. Hinzu kommt die absehbar weitere Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme und der öffentlichen Infrastruktur im Gefolge der nun anstehenden Sparpolitik.

Es ist einigermaßen überraschend, dass größere soziale Proteste angesichts dieser Zumutungen und des offensichtlichen Versagens des Wirtschaftssystems bisher weitgehend ausgeblieben sind. Während sich die Unternehmer noch mit gewissen Legitimationsproblemen herumschlagen, können sich die Regierungen, die mit ihrer neoliberalen Deregulierungspolitik das Debakel mit zu verantworten haben, als Retter darstellen. Über die Gründe für den ausbleibenden Widerstand kann man nur spekulieren. Wird immer noch darauf vertraut, dass es die politisch Herrschenden doch irgendwie richten werden? Lähmt die Angst vor der immer unsicherer werdenden Zukunft? Sind soziale Zersplitterung und Vereinzelung inzwischen so weit vorangeschritten, dass kollektive Aktionen jenseits der folgenlosen Stimmabgabe bei Wahlen unwahrscheinlich geworden sind? Oder kann man sich einfach keine besseren Verhältnisse mehr vorstellen und hofft, trotz der gesellschaftlichen Misere privat irgendwie durchzukommen?

Jedenfalls macht es diese Situation möglich, dass das business as usual weitergeht. Das heißt, die Politik, die zur Krise des neoliberalen Kapitalismus geführt hat, wird im Grundsatz nicht verändert. Ein Beispiel dafür ist das von der deutschen Bundesregierung im herrschenden Neusprech so genannte "Wachstumsbeschleunigungsgesetz", das die Reichen begünstigt, spätere Steuer- und Gebührenerhöhungen für die Masse der Leute nach sich ziehen wird und damit genau das Gegenteil von dem bewirkt, was es angeblich soll.

Gleichwohl bedeutet die aktuelle Weltwirtschaftskrise wohl eine erneute säkulare Wende in Bezug auf die Gestalt des Kapitalismus, ähnlich wie sie schon beim Übergang vom fordistischen Nachkriegskapitalismus zum neoliberal-marktradikalen Postfordismus im Gefolge der Krise der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts zu verzeichnen war. Einiges deutet darauf hin, dass der extrem marktradikale durch einen wieder stärker staatlich gemanagten Kapitalismus ersetzt wird, bei dem jedoch nach wie vor die unternehmerischen Profitinteressen absolute politische Priorität haben.

Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Verschiebung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zugunsten des Kapitals gerade durch die Krise weiter geht. Der Monopolisierungsprozess verstärkt sich, die Verflechtungen von Kapital und Staat werden noch direkter und enger. Wir könnten es also mit einer neuen Variante des Staatsmonopolkapitalismus zu tun bekommen, der zugleich dazu dient, das neoliberale Programm in modifizierter Form und möglicherweise noch nachhaltiger durchzusetzen. Insgesamt bedeutet dies einen weiteren Schritt hin zu dem, was Poulantzas als "Autoritären Etatismus" bezeichnet hat, das heißt zu einem erweiterten Staatsinterventionismus im unmittelbaren Interesse des Kapitals bei gleichzeitig fortschreitender Entdemokratisierung. Die schon länger anhaltende Krise der liberalen Demokratie und der Repräsentation wird sich so vertiefen.


Was tun?

Zunächst einmal muss realisiert werden, dass trotz des ökonomischen Debakels die ideologische Hegemonie des Neoliberalismus noch ungebrochen ist. Dies nicht nur, weil sie sich inzwischen bis in die kleinsten Verästelungen alltäglichen Denkens und Verhaltens durchgesetzt hat und weil die massenmediale Industrie- und Propaganda-Apparatur ungehindert weiter wirkt. Wichtiger noch ist, dass nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und dem Debakel der Sozialdemokratie keine politischen Alternativen mehr sichtbar zu sein scheinen. Dazu kommt eine Krise der Demokratie, also der fehlende Glaube, im Rahmen liberaldemokratischer Institutionen überhaupt noch etwas verändern zu können.

Angesichts dieser Situation gewinnt der Kampf um Hegemonie, um die Deutungshoheit für gesellschaftliche Zustände und Entwicklungen eine zentrale Bedeutung. Unter Hegemonie versteht man die allgemein verbreiteten, über Klassengrenzen hinweg akzeptierten und institutionell abgesicherten Vorstellungen von einer guten und vernünftigen Ordnung und Entwicklung der Gesellschaft. Die neoliberale Hegemonie wurde nach der Krise des Fordismus und im Zuge der Globalisierungsoffensive seit den achtziger Jahren erfolgreich durchgesetzt. Sie ist immer noch mächtig und bestimmt wesentlich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Handlungspotentiale. Daher geht es vor allem um den Kampf gegen diese und nicht so sehr um einzelne Reparaturen und Veränderungen am bestehenden System. Dieser Kampf kann sich nicht in Kritik erschöpfen, sondern bedarf der Entwicklung alternativer Konzepte, eines gegenhegemonialen Projekts. Es geht darum, die Perspektiven einer grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt wieder auf die Tagesordnung zu setzen.

Die Bedingungen dafür sind gar nicht so schlecht. Durch die Krise und ihre Folgen hat die neoliberale Hegemonie einen Schlag abbekommen, der noch länger nachwirken wird und von dem sie sich nicht unbedingt wieder erholen muss, zumal das ökonomische Debakel keinesfalls zu Ende ist und seine Folgen erst allmählich sichtbar werden. Wichtig ist vor allem, dass durch diese Entwicklung das Wirtschaftssystem selbst wieder zur Debatte gestellt worden ist. Dass es sich beim Kapitalismus um die beste aller Welten handle, ist nicht mehr selbstverständlich.

Die Frage ist allerdings, wie und von wem ein gegenhegemoniales Projekt entworfen und durchgesetzt werden könnte. Dies ist nicht ganz einfach zu beantworten, vor allem wenn man die bestehenden politischen Konstellationen betrachtet. Dabei fällt auf, dass der neoliberalen ideologischen Hegemonie auf Seiten der (Rest-)Linken ein eigentümlicher Konservatismus entgegen steht, ein Konservatismus, der darin zum Ausdruck kommt, sich politisch und gesellschaftlich an den vermeintlich besseren Verhältnissen des fordistischen Nachkriegskapitalismus zu orientieren, das heißt an der Phase einer noch halbwegs intakten Arbeits- und Wachstumsgesellschaft.

Dies ungeachtet der Tatsache, dass der Fordismus selbst ein krisenhaftes und gesellschaftlich diskriminierendes System war und dass er seine Durchsetzung historisch einmaligen sozialen Kräfteverhältnissen auf nationaler wie internationaler Ebene - nicht zuletzt der Niederwerfung des Faschismus und der Systemkonkurrenz des kalten Krieges - verdankt hatte. Der scheinbar "zivilisierte" und "soziale" Nachkriegskapitalismus war daher das Produkt einer historisch einmaligen Situation, und was wir derzeit erleben, ist weniger eine Abweichung von, sondern eher die Rückkehr zur Normalität dieses Gesellschaftssystems. Beim Blick nach rückwärts wird oft auch unterschlagen, dass der Fordismus auf der rücksichtslosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen beruhte und schon deshalb kein tragfähiges Modell für die Zukunft darstellt. Ebenso besteht die Arbeitsgesellschaft traditionellen Musters infolge der immer rascher voranschreitenden Rationalisierungsprozesse längst nicht mehr, und gesellschaftliche Ungleichheiten und die Verschiedenheit der sozialen Lagen sind erheblich gewachsen. Aus vielen Gründen ist die Vorstellung einer Rückkehr zu vermeintlich besseren Zeiten des Kapitalismus deshalb illusorisch.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auf kurze Sicht ist es sicher nicht falsch, auf traditionelle keynesianische Instrumente zu setzen, also insbesondere auf Lohnerhöhungen und Konjunkturprogramme. Letztere zumindest sofern sie nicht nur wirkungslose Klientelbedienung darstellen und auf eine nachhaltige Veränderung der ökonomischen Strukturen zielen.

Arbeitszeitverkürzungen wären ebenso dringend notwendig wie flächendeckende Mindestlöhne. Wenn eine solche Politik Erfolg haben sollte - was angesichts der bestehenden Kräfteverhältnisse allerdings fraglich ist - bedeutete dies jedoch zugleich die Stabilisierung eines Gesellschaftsmodells, das keine Zukunft hat und das nicht nur ökonomisch höchst krisenhaft ist. Dies ist auch ein zentraler Einwand gegen die Vorstellung eines neuen und "grünen" "New Deal", der auf neue Technologien und "ökologisches" Wachstum ohne grundlegendere gesellschaftliche Veränderungen setzt.

Im Zentrum einer emanzipativen Politik muss deshalb das Bemühen stehen, grundsätzlich andere Formen der Vergesellschaftung theoretisch wie praktisch anzuvisieren. Es geht dabei nicht um revolutionäre Strategien im traditionellen Sinne und auch nicht um die Verwirklichung fertiger Gesellschaftsmodelle. Vergesellschaftung meint einen sehr komplexen Zusammenhang, der Konsummuster und Lebensweisen, die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Geschlechterverhältnisse und den Umgang mit der Natur umfasst. Was anstünde, wäre nicht so sehr eine politische, sondern eine gesellschaftliche und kulturelle Revolution, in der sich die herrschenden Vorstellungen von einem guten und vernünftigen Leben verändern. Die heute bestehenden Lebensweisen sind weder längerfristig haltbar noch unbedingt wünschenswert. Man denke dabei nur an den sich immer destruktiver äußernden Zirkel von Leistung, Arbeit und Konsum.


Dabei sind vor allem folgende Ansatzpunkte wichtig

1. Die Entkoppelung der sozialen Sicherung im Sinne der Gewährleistung humaner Lebensverhältnisse von der Lohnarbeit. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Dazu gehört die fortschreitende Vervielfältigung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, die zwar einerseits Folge einer Klassenpolitik ist, teilweise jedoch auch den Bedürfnissen nach flexibleren Arbeitsformen entgegenkommt. Des Weiteren die Folgen einer beschleunigten technischen Rationalisierung, wodurch Vollbeschäftigung im herkömmlichen Sinn kaum noch erreichbar sein wird. Schon dadurch verliert das Normallohnarbeitsverhältnis an Rückhalt (wobei noch zu berücksichtigen ist, dass selbst in den Hochzeiten des Fordismus nur eine Minderheit der Arbeitenden in den Genuss gutbezahlter und gesicherter Arbeitsplätze gekommen war).

Zu berücksichtigen ist auch, dass es viele gesellschaftlich notwendige und nützliche Arbeiten gibt, die nicht in Lohnarbeitsform erbracht werden (können). Es gilt auch zu realisieren, dass ein wesentlicher Teil der Lohnarbeit nutzlosen Zwecken dient und oft zerstörerische Wirkungen hat. Insgesamt wird in einer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft der Zusammenhang zwischen Entlohnung und Leistung immer undeutlicher, und die "Leistungsträger" können nur funktionieren, weil sie ein vielfältiges (und in der Regel schlecht bezahltes) Hilfspersonal beschäftigen. Stellenwert und Bedingungen gesellschaftlicher Arbeit müssen deshalb neu definiert werden. Im Bereich der Sozialpolitik untermauert dies die Forderung nach einem garantierten und bedingungslosen, aus Steuern finanzierten Grundeinkommen für alle und in einer nicht nur das materielle Existenzminimum, sondern politische und kulturelle Teilhabe sichernden Höhe (was im Übrigen ein ausgezeichnetes Mittel der Konjunkturstabilisierung wäre). Eine dermaßen umfassende soziale Sicherung für alle ist eine wesentliche Voraussetzung für aktive politische Beteiligung und Interessenwahrnehmung und damit Grundbedingung für eine funktionierende Demokratie. Und sie ist angesichts des erreichten Stand es der Produktivkräfte möglich.

2. Der Ausbau des Angebots kostenlos oder zu geringen Gebühren verfügbarer öffentlicher Güter zur Befriedigung der zentralen gesellschaftlichen Grundbedürfnisse, das heißt eine Politik, die sich klar gegen den herrschenden Privatisierungstrend richtet. Entscheidend zu erweitern wäre die soziale Infrastruktur vor allem auf den Gebieten Gesundheit, Bildung, Verkehr, Wohnen und Kultur. Unter Berücksichtigung des erreichten Standes der Produktivkräfte liegt ein zentraler Mangel der bestehenden Wirtschaftsordnung in einer strukturellen Vernachlässigung des kollektiven Konsums, also der Befriedigung von Bedürfnissen, die nicht in Warenform erbracht werden kann. Die gesellschaftliche und technische Entwicklung macht diesen Bereich immer wichtiger. Derzeit gibt es eine strukturelle Fehlleitung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Warenproduktion und zu Lasten des öffentlichen Sektors. Das bewirkt gesellschaftliche Armut im und durch Warenüberfluss. Der Kampf um öffentliche Güter wird in Zukunft einer der wichtigsten politischen Schwer- und Konfliktpunkte sein. Das bedeutet auch, dass die Steuern nicht gesenkt, sondern erhöht werden müssen. Eine technisch weit entwickelte Gesellschaft braucht einen hohen Steueranteil.

3. Eine Re-Demokratisierung der Gesellschaft auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Dazu gehört die Einführung plebiszitärer Elemente in die politischen Entscheidungsprozesse, eine politische Kontrolle der wichtigen Unternehmen, was nicht unbedingt deren Verstaatlichung heißen muss, Stärkung der Wirtschaftsdemokratie nicht nur auf betrieblicher, sondern auch auf regionaler und gesamtstaatlicher Ebene (etwa in Form von Wirtschafts- und Sozialräten), Dezentralisierung und Regionalisierung der Wirtschaft sowie die Förderung genossenschaftlicher Produktionsformen und nicht zuletzt eine demokratische Kontrolle und Selbstverwaltung der sozialen Infrastruktur. Eine zentrale Voraussetzung für eine Re-Demokratisierung der Gesellschaft ist die Weiterentwicklung und Stärkung autonomer, von Staat und Parteien unabhängiger Formen politischer Selbstorganisation.

Das heißt, dass es für eine emanzipative Veränderung der Gesellschaft nicht nur einen zentralen Ansatzpunkt gibt, sondern dass diese von mehreren Ebenen und von vielen Bereichen ausgehen müsste. Und natürlich lässt sich das nicht allein auf einzelstaatlicher Ebene verwirklichen. Sie muss sich ebenso auf die politischen Prozesse und Institutionen auf europäischer Ebene beziehen, und vor allem bedarf es einer intensiven und auf Dauer gestellten internationalen Kooperation gesellschaftlich-politischer Bewegungen und Initiativen. Die Entwicklung von Überlegungen, Konzepten und praktischen Ansätzen in diese Richtung ist die zentrale Voraussetzung dafür, die Linke politisch wieder sprachfähig zu machen. Es käme darauf an, erste Schritte zu setzen, Erfahrungen zu sammeln, Möglichkeiten praktisch erlebbar zu machen. Was Not tut, ist ein radikaler Reformismus im Sinne einer schrittweisen Veränderung der grundlegenden Vergesellschaftungsformen. Schrittweise, das heißt "reformistisch" muss eine solche Politik sein, weil Erfahrungen gemacht und Lernprozesse stattfinden müssen, weil die Konturen einer humaneren und freieren Gesellschaft erst allmählich ausformuliert werden können; radikal deshalb, weil sie auf die Wurzeln der gesellschaftlichen Verhältnisse zielt.


Wer?

Von den etablierten politischen Organisationen, auch den Gewerkschaften, ist in dieser Beziehung nicht viel zu erwarten. Die Parteien sind zu taktisch operierenden Stimmenmaximierungsapparaten verkommen und auch von ihren personellen Kapazitäten her kaum mehr in der Lage, über den Tellerrand des Bestehenden hinauszublicken, geschweige denn alternative gesellschaftliche Entwürfe hervorzubringen. Selbst mit der Verwaltung des immer weniger haltbaren gesellschaftlichen Status quo scheinen sie ziemlich überfordert.

Wirkliche Alternativen müssen daher von gesellschaftlichen Initiativen und Projekten ausgehen. Es ist notwendig, dass die vorhandenen kritischen und oppositionellen Kräfte theoretisch und politisch wieder auf die Höhe der Zeit kommen, neue gesellschaftliche Entwürfe anvisieren und praktische Schritte vorschlagen. Ansätze dazu gibt es durchaus, wenn auch oft noch bereichs- und interessenspezifisch, vereinzelt und zersplittert. Zentrale Bedeutung hat daher die Verbreiterung und Intensivierung einer alternativen Öffentlichkeit über traditionelle Organisations- und Bewegungsgrenzen hinweg. Nicht zuletzt käme es darauf an, historische Erfahrungen aufzuarbeiten und interessante Entwicklungen andernorts zur Kenntnis zu nehmen. So ist von der brasilianischen MST und den mexikanischen Zapatistas in Bezug auf politische und ökonomische Selbstverwaltung einiges zu lernen, ebenso wie aus den Ansätzen zu einer demokratischen Verwaltung der sozialen Infrastruktur in Venezuela, den partizipativen Haushalten in Brasilien oder den Versuchen zum Aufbau selbstorganisierter Sozialversicherungssysteme in Bangladesh. Es gibt also viel zu tun.

Raute

Rezension

"...ums Ganze!"-Bündnis (Hg.): Staat, Weltmarkt und die Herrschaft der falschen Freiheit. Zur Kritik des kapitalistischen Normalvollzugs, 1/3, 2009, 112 Seiten, Printversion: 1 Euro, freier Download: http://umsganze.de

Die Broschüre umfasst zwei Teile: eine "Kritik des kapitalistischen Normalvollzugs" und ein Interview mit zwei Vertreter_innen des "...ums Ganze!"-Bündnisses, 2009 bestehend aus sieben Antifa-Gruppen, zum "Verhältnis von Staatskritik und (anti-)politischer Praxis". Das Bündnis hat damit eine Staatskritik auf der Höhe der Zeit veröffentlicht. "Unsere Staatskritik ist auch ein Diskussionsangebot an andere Gruppen der radikalen Linken. Wir glauben, ein paar gültige Antworten auf ein paar wiederkehrende theoretische Probleme aufgeschrieben zu haben. Nicht alles ist originell. Und 'endgültig' sind unsere Thesen schon deshalb nicht, weil in der Welt von Staat und Kapital nur die wiederkehrenden Krisen feststehen, nicht aber die jeweiligen Strategien, sie zu verwalten", heißt es im Vorwort.

Der Text ist flott, differenziert und punktgenau. Der Politik wird eine Absage erteilt, der Ansicht, dass der Staat an Bedeutung verliere, ebenso. Konsequent behandelt man den Staat im Kontext der krisenhaften Weltmarktkonkurrenz, die er organisiert und der er zugleich unterliegt. Ausführlich werden die Subjektivierungsformen Nationalismus, Rassismus und Sexismus analysiert. Eine gewisse Leerstelle bildet die ökologische Frage. Während der erste Text vor allem die Formbestimmung "Staat" entwickelt, widmet sich das Interview dem Verhältnis des Bündnisses zur Theorie. Die Aktivist_innen verstehen letztere als ein Moment in der Veränderung der Gesellschaft: "...Emanzipation (ist) unmöglich, wenn es nicht gelingt, die gesellschaftliche Reproduktion solidarisch zu organisieren." Erfrischend richtig.

A.E.

Raute

Der Staat und ich

L'etat et moi

von Dominika Meindl

Der Staat und ich - geht's vielleicht eine Nummer kleiner? Ich meine, beides ist thematisch etwa so breit wie Russland oder ein Nachmittag im Zahnarztzimmer. Aber weil ich die Streifzüge so innig leiden mag, werfe ich flugs die stotternde Assoziationsmaschine an. Erstes kopfinternes Browse-Ergebnis: meine Beziehung zu Vater Staat. Hier ein paar vulgärpsychologische Weisheiten.

Väter nerven spätestens ab der Pubertät, das ist in ihrem ontologischen Bauplan so vorgesehen. Die Kinder trotzen analog. Müssen sie gehorchen, maulen sie wegen der autoritären Gewalt. Geschieht ihnen Böses, jaulen sie wegen der verletzten Sorgfaltspflicht. Der Vater hat es nicht leicht mit seinen Kindern und sie nicht mit ihm.

Gut, ein Vater ist notwendig, das verbindet den staatlichen mit dem leibhaftigen. Ohne strengen Staat ist der Mensch dem Menschen Wolf und ohne väterliche Intervention hätte ich meine kleine Schwester damals am Marterpfahl den Ameisen ausgeliefert. Das täte mir heute leid, denn sie hat sich mittlerweile zu einer recht netten Person zusammengewachsen. Dennoch habe ich mich weitestgehend den Anweisungen meines Vaters entzogen. Ich wünschte, das gelänge auf staatlicher Ebene genauso leicht.

Meine Mitgliedschaft im Staat basiert auf zufälligen Kriterien. Und sie geniert mich. Angesichts des törichten Treibens beim Staatsopernball möchte mein Antlitz alljährlich glühen wie ein bulgarischer Reaktor, wenn es mir nicht schon lange zu blöd wäre. Ein Land, dessen Identifikationsangebot zu guten Teilen aus weißen trippelnden Rössern, kalkhaltigen Gesteinsanhäufungen, picksüßer Kräuterbrause und galligen Marzipankugeln aus dem multinationalen Kraft-Konzern besteht.

Immerhin: besser als Bürgerin von Folterstaaten mit affig ausstaffierten Diktatoren zu sein. Es wäre mir echt peinlich, Nordkoreanerin zu sein. Und Gaddafis Frisur, hören Sie mir doch auf.

Aber: Echte Liebe kann auch im Negativvergleich nicht aufkommen. Ich mag meinen echten Vater doch nicht auch nur deswegen, weil die Nachbarskinder einen solchen hatten, der täglich im Feinripp vom Balkon rülpste. Ich kann die autoritäre Führungsschwäche meines Staates einfach nicht leiden. Wohl nicht von ungefähr klingt sein Name in meinem Dialekt wie der Befehl, den Mund zu halten. "Sei stad!"

So. In der Zwischenzeit sehe ich bei der thematischen Wanderung schon fast Wladiwostok und der Zahnarzt wischt mir schon die letzten Tränen von der Backe. Es folgt nur noch mein Fazit für die künftige Praxis: Ich nehme mir vor, weiterhin so wenig zu verdienen, dass ich Vater Staat nicht mit meiner Einkommenssteuer fördere. Muss mir halt dann der Papa bei Gelegenheit einen Zwanziger zustecken.


Pomatologische Politologie

von Martin Scheuringer

Ich gesteh' es: Emanzipatorische Praxis ohne Pädagogik reizt mich, Seminare zur Wertkritik sind nicht meins. Ich bitte um Nachsicht.

Ich habe also ein kleines Experiment in den Alltag meiner Kollegen gepflanzt - und hoffe ganz vermessen, dass diese das bürgerliche Bewusstsein an seine Existenzangst bringende Intervention Spuren in den eingeschliffenen Bahnen konformen Denkens hinterlässt. Ganz ohne Ehrfurcht gebietendes Pathos eines Großtheoretikers, weil ich Wurm da sowieso zwischen der Skylla nicht darstellbarer Paradiesphantasien samt zugehöriger Epiphanie und der Charybdis, alles Bestehende in destruktiver Manie verderben zu sehen, zerrissen würde, ohne je der Kraft des nostos so folgen zu können wie mein geliebter Odysseus.

Ein schlichter Korb mit Obst war meine Idee. Alle sollten sich mit gleichen Beiträgen beteiligen, aber nach individuellem Bedarf zugreifen. So wollte ich die Fetischisierung des Objekts durchbrechen. Der Körper signalisiert Bedarf und ich kann ihn ohne Umweg befriedigen. Kein Tauschakt mehr. Bedürfnisbefriedigung, bar der Realabstraktion. Miteinander reden, statt über das Tauschgeschäft verhandeln. Gemeinschaft wird nicht durch eine Summe von Tauschakten hergestellt, sondern ist der Kommunikation über die gemeinsame Organisation der Bedürfnisbefriedigung vorausgesetzt.

Denkste. Der Widerstand war groß. Die meisten haben Angst, von anderen übervorteilt zu werden. Es hagelt mit Bedauern geäußerte Absagen. Man befürchtet, auf genau jenes Stück Obst verzichten zu müssen, das man eigentlich gerne hätte. Der Glaube an den homo oeconomicus stellt den Wahn des knappen Gutes her. Die Angst gebiert den Ruf nach dem Leviathan, und ausgerechnet ich sollte den spielen, eine objektive Instanz, die mit Souveränität und Kompetenz die scheinbar unendlichen Begierden zügelt. Mit Tabellen, Kalkulation und richterlicher Entscheidung. Ich habe die Flucht ergriffen. Immerhin fand ich doch sechs Menschen, die sich den Herausforderungen dieses waghalsigen Experiments stellen. Wir essen unsere Äpfel und reden freundlich miteinander. Alles Staatsfeinde im Herzen aber noch nicht im Denken. Wie kann man sich selbst nur so falsch erkennen?


Ich und der Staat

von Andreas Exner

Meine früheste Erinnerung an den Staat geht so: Ein Volksschulknirps befindet sich auf der Fahrt mit Bruder, Mama, Papa ins hitzeflirrend sommerliche Burgenland - Badetrip an den Neusiedlersee. Vorbei ziehen sommergelbe Weizenfelder, die unvermeidlichen Pyramidenpappeln säumen die Straße. Der Knirps stellt aus in der Tat heiterem Himmel eine Frage in den drückendheißen Autoinnenraum: "Wem gehören eigentlich die Sachen in der Schule?" Mama und Papa mögen sich gewundert haben, was den Kleinen hitzerot-sommerlich gerade auf den Staat zu sprechen kommen lässt. Mama jedenfalls versucht eine Antwort. Nach einigem Zögern, halb zu Papa gewandt, halb fragend, meint sie: "Naja, das ist ja öffentliches Eigentum, das gehört dem Staat, also uns allen." Ich bin erstaunt: "Die Kästen in der Schule, die gehören allen?" Papa sieht das anders: "Unsinn", meint er, oder so ähnlich - warum erklärt er nicht.

Jahre später, bei einer Veranstaltung der Grünen Bildungswerkstatt in Linz. Der Knirps ist inzwischen frühe Dreißig. Er kritisiert den Staat. Nach der Veranstaltung, auf deren Podium sich der Autor befunden hatte, entspinnt sich ein Streitgespräch mit einer Frau aus dem Auditorium. "Der Staat, das sind doch wir", meint sie vehement.

Sind wir der Staat? Ist der Staat wir? Meine Antwort lautet nein. Wären wir und er eins, dann müssten wir ihn nicht beständig bitten, beklagen, kritisieren. Staat, das ist ganz offensichtlich etwas, was nicht ident ist mit der Gesellschaft. Ein Etwas, das sich sperrt, eigene Ziele verfolgt, auf das Einfluss ausgeübt werden will, etwas, das vor allem uns beeinflusst. Ebenso wenig jedoch ist der Staat etwas, das aus sich selbst heraus existiert. Es ist deshalb zur stehenden Formel geworden, den Staat mit Nicos Poulantzas als "materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen" zu fassen. Und wenngleich das noch nicht alles ist: das ist er.

Heute gibt es kein Gehen, Reden oder Tun mehr ohne Staat. Damit freilich ist der Staat auch abhängiger geworden von den Verhältnissen, in denen er verwurzelt ist und die ihn erzeugen.

Also: Gehört die Schule uns?

Raute

Rückkopplung

Realismus

von Roger Behrens

"Man muss so radikal sein wie die Wirklichkeit", heißt es in Bertolt Brechts "Me-ti - Buch der Wendungen" (GW Bd. 12, S. 515). - "Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst", erklärt Marx in seiner "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" 1844. Fünf Jahre später, 1849, setzt Gustave Courbet mit "Die Steineklopfer" das kritisch-theoretische Diktum im Medium der Malerei um: als Realismus.

Courbet wendet sich schließlich programmatisch in seinem "Realistischen Manifest" von 1855 (die Jury der Pariser Weltausstellung lehnt seine Bilder ab und er errichtet daraufhin seinen eigenen Pavillon) gegen akademische Überhöhung der Kunst. Courbet proklamiert, nur noch das darzustellen, was er wirklich sehen, wirklich anfassen kann: das alltägliche Leben - und das ist auch das alltägliche Leben des Künstlers. Doch dieser Alltag ist dem klassischen Ideal der Kunst vollkommen entgegengesetzt: Nicht Schönheit und Erhabenheit bestimmen die Bilder, sondern Hässlichkeit und Elend; nicht das ästhetische Spiel der Kräfte bildet den Rahmen der Malerei, sondern die nicht mehr enden wollende Ausbeutung des Lebens, die nunmehr ewig wiederkehrende Mühsal der Arbeit.

Mit den unheimlichen Entwicklungen der bürgerlichen Gesellschaft, der fortschreitenden Kommodifizierung der Welt und der rücksichtslosen Durchsetzung der kalkulatorischen Logik der Wertökonomie zeigt sich schon in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sukzessive, dass Radikalismus und Realismus nicht so ohne weiteres zu haben sind, dass in dieser Welt die lebendigen Wurzeln abzusterben drohen, dass die Wirklichkeit verstellt, verzerrt und unzugänglich ist. Die Künste problematisieren das an sich selbst, werden modern in der Kritik der Moderne, die immer auch ästhetische Selbstkritik der Möglichkeit und Unmöglichkeit der Kunst ist. Spätestens seit Berlioz, Dumas und Baudelaire, dann schließlich den Impressionisten ist die künstlerische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft immer auch eine Auseinandersetzung mit der Medialität und Materialität der Kunst, namentlich der Technik: Was kann zum Beispiel die Malerei darstellen, wenn die Fotografie viel getreuere Bilder der Wirklichkeit zu liefern scheint? Wie verändert sich etwa in der Musik das Verhältnis von Ton und Wirklichkeit, wenn die Wirklichkeit der Töne permanent durch Konzerthallen, schließlich Grammophon und Radio erweitert wird?

Hier zeigt sich: Die subjektive Wirklichkeit ist mit der objektiven Wirklichkeit immer weniger in Deckung zu bringen, und auf einmal haben wir es in der Moderne mit einem Plural von Realitäten, das heißt mit verschiedenen, vielfältigen Variationen, Schichtungen und Ebenen von Wirklichkeiten zu tun. Georg Simmel hat das in noch idealistischen Dimensionen als Tragödie der Kultur bezeichnet, als unumkehrbares Auseinandertreten von objektivem und subjektivem Geist. Mit lebensphilosophischer Emphase gesagt: Der Bürger fühlt sich in der bürgerlichen Welt nicht mehr zu Hause, ist ihr entfremdet. "Ich bin der Welt abhanden gekommen", bringt es Gustav Mahler nach Texten von Friedrich Rückert 1901 auf einen musikalischen Ausdruck.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, aber nicht unmittelbar. Welche unheimlichen Instanzen dazwischenwirken, hat um die Jahrhundertwende - deren kalendarische Worte "Dekadenz" und "Fin de siècle" nicht zufällig zur Signatur der Zeit wurden - Sigmund Freud entdeckt: Das Unbewusste und seine vielfältigen Pathologien oder zumindest Irritationen. Gerade mit der Problematisierung der Wirklichkeit zeigt sich, wie problematisch die Wirklichkeit ist: Mit der Moderne kulminiert die Dialektik von Sein und Schein derart, dass der Welt, ja dem einzelnen Ding nicht mehr zu trauen ist. Dabei ist dieses Problem kein philosophisches, sondern ein materielles Problem der Wirklichkeit selbst: Das, was in der vom Kapitalgesetz durchdrungenen Gesellschaft das Realste ist, erscheint paradox als irreal, unwirklich - die Warenform bleibt auf merkwürdige Art unsichtbar, verliert sich in der Abstraktion, je konkreter die Ökonomie die sozialen Verhältnisse bestimmt. Proklamiert das bürgerliche Zeitalter positivistisch endlich eine Welt, die so ist, wie sie scheint, zeigt sich doch drastisch, dass in dieser Welt nichts so ist, wie es scheint. Marx hat das im Fetischkapitel des "Kapitals" skizziert: "Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding."

Um Neunzehnhundert ist gewiss, dass auch die Kunst als Realismus die Ungewissheit des Realen nicht auflösen kann. Der Expressionismus war die vor allem deutsche, der Surrealismus die vor allem französische Antwort auf diese Unzulänglichkeiten des Realismus, den man eigentlich nur politisch aufheben hätte können, wie es die russische Avantgarde im Ansatz versuchte. Expressionismus wie Realismus versuchten gegen die Wirklichkeit das Geistige, Seelische, also das Subjektive und Innere zu rehabilitieren.

Der Terror des Faschismus zeigte indes, dass die Verkehrung der Wirklichkeit (und damit die Verstellung der Möglichkeit) nicht bloß ästhetisch ist, sondern in grausamer Weise politisch. Das führte in den Dreißigern in Paris und Moskau, mit Blick auf den Nationalsozialismus, zur so genannten Realismusdebatte - als Streit um die Strategie der Volksfront gegen den Faschismus in Europa.

Noch im Schatten des Naziterrors in Europa formiert sich in den USA der Abstrakte Expressionismus, gegen den sich dann ein Neuer Realismus stellt. Mit diesem Wort werden auch die Anfänge der britischen Pop-Art bezeichnet: ein ästhetischer Zugriff auf die Wirklichkeit, der bewusst den internationalen Charakter der kapitalistischen Dingwelt affirmiert. Insofern war dies kein neuer Realismus im Sinne eines künstlerischen Stils, sondern der künstlerische Ausdruck - also Expression - einer neuen Realität selbst: die Wirklichkeit der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft des scheinbaren Überflusses.

Die Popkultur hat diesen Realismus zum Prinzip gemacht, ohne aber das Moment des Ausdrucks aufzugeben. Im Gegenteil: Bis heute ist das Expressive im Pop gleichsam die surreale Korrektur-Strategie einer zugleich immer wieder von neuem konstruierten Realität, einer Wirklichkeit des Scheins unendlicher Möglichkeit.

Raute

Die "Große Transformation" zur "Großen Kooperation"

Commons, Markt, Kapital und Staat

von Andreas Exner

Die Potenziale der Commons-Debatte...

Im Commons-Ansatz deutet sich zur Zeit, neben dem der Solidarischen Ökonomie, am stärksten die Richtung einer Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise an. Dies aus mehreren Gründen. Zuerst einmal dreht sich die Commons-Debatte im Kern um soziale Praxen abseits von Kapital, Marktbeziehungen und staatlicher Herrschaft. Dies wird in allen Veröffentlichungen zum Thema betont, so etwa bei Helfrich/Haas (2009, 251), die festhalten, Commons seien "das unsichtbare Dritte: jenseits von Markt und Staat", und weiter präzisieren: "Sie ersetzen, wie der Ökonom Yochai Benkler schreibt, die zentralen Institutionen der Marktwirtschaft (Vertrag, Eigentum und Hierarchien) durch ein System, in dem niemand auf Grund der Eigentumsverhältnisse andere am Produzieren hindert." (a.a.O., 254).

Häufig wird in dieser Perspektive kritisch auf Garret Hardins Artikel "The tragedy of the commons" Bezug genommen, der 1968 argumentierte, dass eine Ressource, die sich nicht in Privateigentum befinde, unausweichlich übernutzt wird. Hardin plädierte deshalb für Privateigentum anstelle von Gemeineigentum.

Damit bereitete Hardin die heute dominante ideologische Linie theoretisch vor, wonach natürliche Ressourcen zu parzellieren und Nutzungsrechte handelbar zu machen sind. Die praktische Konsequenz kann man freilich nicht nur im Emissionshandel oder bei der Konstitution handelbarer Fischereirechte studieren. Ganz allgemein fügt sich Hardins Argument in den neoliberalen Diskurs, wonach die Privatisierung von Ressourcen jedweder Art, und sei es das globale Wissen, Voraussetzung für ein gutes Leben aller sei.

Hardins Fehler ist leicht erkennbar: Tatsächlich behandelte er in seinem vielzitierten Aufsatz nicht ein Gemeingut, sondern eine Open Access-Ressource, deren Nutzung keinerlei Regelung unterliegt. Damit ignorierte er, dass Gemeingüter niemals isoliert betrachtet werden können, sondern erst eine darauf bezogene Gemeinschaft sie konstituiert. Die Nutzung von Gemeingütern ist immer reguliert, die Mitglieder der korrespondierenden Gemeinschaft verhalten sich nicht entsprechend dem nutzenmaximierenden homo oeconomicus der neoklassischen Wirtschaftstheorie.

Nicht nur das markt- und staatskritische Moment der Commons-Debatte hat das Potenzial emanzipative Veränderungen zu bestärken und neu zu orientieren, sondern sie bezieht sich organisch auf ein breites Spektrum widerständiger Bewegungen. In ihr liegt deshalb auch die Möglichkeit eines neuen Paradigmas für eine "Bewegung der Bewegungen". Anders als jeder markt- und staatsförmige Zugang mit seiner Botschaft des "one size fits for all", was in der abstrakten Qualität von ökonomischem Wert und staatlichem Recht wurzelt, wird bei den Commons die konkrete qualitative Vielfalt der stofflichen Realität ins Zentrum gerückt - und mit ihr die vielfältigen qualitativen Anforderungen an deren Verwaltung.

Wasser, Land, Kulturpflanzen, das globale Wissen und so weiter - all diese Ressourcen weisen Spezifika auf, denen nur jeweils bestimmte Prozesse der Vergemeinschaftung adäquat sein können. Dabei ist freilich wichtig zu beachten, dass die stofflich-konkrete Qualität einzelner Ressourcen selbst keineswegs eine einzige Art der Regulierung ihrer Nutzung und Entwicklung vorherbestimmt. So erfolgt zum Beispiel die gemeinschaftliche Verwaltung einer Wasser-Ressource in den peruanischen Anden auf andere Weise, als sich die Organisation einer Wasser-Genossenschaft in Mitteleuropa darstellt.


...und ihre Problematik

Damit wären die Potenziale der Commons-Debatte grob bezeichnet. Ihre Problematik freilich liegt in zwei Punkten, die ich mit der Tendenz zur Naturalisierung und einem unzureichenden Verständnis des Verhältnisses von Commons, Kapital, Markt und Staat benennen möchte.

Üblicherweise wird von Commons mit Bezug auf natürliche Ressourcen sowie im Bereich der digitalen Güter gesprochen. Darüber hinaus nimmt der Aspekt so genannter kultureller Werte relativ breiten Raum ein, was sich aus der - richtigen - Feststellung ergibt, dass es keinen Sinn macht, von Gemeingütern zu sprechen ohne eine Gemeinschaft, die sich entsprechend bestimmter kultureller Normen strukturiert. Das zeigt zweierlei: Erstens werden Commons dem Begriff nach naturalisiert, so als würden sich gewisse Güter "von Haus aus" für das Gemeineigentum eignen, andere jedoch nicht. Zweitens werden Commons dort eher wahrgenommen, wo sie für das Kapital funktional sein können. Dies muss nicht so vertreten werden, ergibt sich aber aus der Struktur der Debatte.

So halten Helfrich/Haas (2009, 256) - beispielhaft für viele andere - fest: "Gemeingüter bezeichnen eine bestimmte Qualität der Beziehung zwischen Gut bzw. Ressource und einer Gruppe von Menschen. Sie sind ererbt oder kollektiv entwickelt und über Generationen weitergegeben. Gemeingüter werden zuerst einmal vorgefunden, müssen aber gepflegt, erhalten, geschützt und vermehrt werden."

Unter den konkreten Beispielen finden wir ausschließlich natürliche Ressourcen sowie Wissens- und Kulturgüter. Dem Commons-Verständnis von Helfrich/Haas folgend ergibt sich freilich keine Einschränkung auf natürliche oder digitale Ressourcen. Vielmehr wäre jedwede Ressource, die menschliche Praxis nutzt, einzubeziehen, allen voran die Maschinerie der industriellen Produktion und dafür nötige Infrastrukturen. Diese sind Resultat der Jahrhunderte langen Anstrengungen früherer Generationen, in diesem Sinn also ererbt und an uns weitergegeben. Sie werden kollektiv entwickelt, ja, ohne Kooperation auf großer Stufenleiter sind sie weder in Bewegung zu setzen noch gebrauchsfähig zu erhalten.

Damit ist ein zentraler Widerspruch in der vorherrschenden Commons-Debatte benannt. Zwar richtet sie den Blick auf den kollektiven Charakter, die reelle Vergesellschaftung der Produktion und ihrer Grundlagen. Allerdings unterschlägt sie zugleich - entgegen ihrem eigenen Anspruch - ein weites Feld menschlicher Praxis. Solcherart hat die Commons-Debatte eine liberale Tendenz, die sich auf den Erhalt von Markt, Kapital und Staat ausrichtet. Dies wird mitunter auch explizit so ausgesprochen: Es sei notwendig, die Commons neu zu erfinden, um die kapitalistische Produktionsweise zu sichern, "if we don't, capitalism itself will collapse" (Thompson 1998, 226). Es besteht somit durchaus die Gefahr zu suggerieren, "dass die Commons nur die ,zweitbeste' Lösung sind, nämlich wenn Marktversagen eintritt, und dass sich wesentlich der Staat um ihre Bereitstellung bzw. ihren Schutz zu kümmern habe" (Brand 2009, 242).

Tatsächlich sind Commons in einem widersprüchlichen Verhältnis zum Kapital zu sehen. Während die Enteignung der Gemeingüter, allen voran der Allmenden, eine historische Voraussetzung des Kapitalverhältnisses, das heißt der Lohnarbeit, darstellen (Marx, "Das Kapital", Bd. 1), beruht selbiges doch im selben Maße auf der fortgesetzten Herstellung seiner Produktionsbedingungen in Form von Gemeingütern und mit diesen verkoppelten Formen von Gemeinschaftlichkeit, die nicht nach der Logik des Kapitals und seiner Verwertung funktionieren.

Dazu zählen kulturelle Werte. Sie erst leiten Individuen dazu an, Privateigentum und autoritäre Hierarchien zu respektieren, und ermöglichen es, dass soziale Fähigkeiten im Rahmen der Erziehung gelehrt und erlernt werden. Nur die gemeingüterbasierten Werte und Praxen erlauben es auch, dass sich die in der kapitalistischen Produktionsweise über alle historischen Maßstäbe hinaus entwickelte Fähigkeit zur Kooperation entfalten und bestehen kann.

Dazu zählen weiters auch alle Tätigkeiten in der Haushaltssphäre. Sie stellen ein Commoning auf einer Mikroebene dar, ohne das die kapitalistische Produktionsweise weder Arbeitskräfte noch Absatzmärkte vorfände. Selbstverständlich gehört dazu auch der große Bereich des Ehrenamts und anderer unbezahlter Tätigkeiten, die gesellschaftlichen Zusammenhalt über die Widersprüche des Kapitals hinweg generieren. Nicht zuletzt erlaubt erst der Raum der gemeingüterbasierten Praxen, vor allem der den biologischen Frauen zugewiesene Haushalt, die Konkurrenz des Marktes physisch wie psychisch auszuhalten.


Widerständige Commons als Umschlagpunkte

Davon abzuheben ist ein anderer Begriff der Commons und ein anderer Typ des Commonings, der sich auf Praxen des Widerstands gegen Markt und Kapital bezieht. Tatsächlich setzen Gemeinschaften, wie sie sich heute konstituieren, reelle Gemeingüter dort ins Werk, wo es etwas gegen Privateigentum, Markt und Verwertung zu verteidigen gilt (siehe z.B. Diegues 1998) - ob dies in selber Weise auch für historische Gemeingüter, die sich gegen herrschaftliche Aneignung positionierten, gilt, sei hier einmal dahingestellt. Ein daraus abgeleiteter Begriff des Gemeinguts wäre also kein abstrakt-allgemeines, analytisches Konstrukt, das von der Sprache bis zu den Genen überall "Commons" erblickt und dabei stehen bleibt, sondern Begriff für eine wirkliche Bewegung mit emanzipatorischer Potenz.

Der springende Punkt in einer solchen Bewegung ist, dass das Kapital praktisch angegriffen und eine alternative Organisationsform menschlicher Tätigkeit und gesellschaftlichen Lebens auf den Weg gebracht werden soll. In dieser Perspektive wäre nicht der weite Bereich der statisch-abstrakt (und schlechtestenfalls naturalisierend) gefassten Gemeingüter bloß zu beschreiben, sondern es wären vielmehr dynamisch-konkrete Umschlagpunkte anzugeben, ab denen das Kapital Gemeingüter nicht mehr als seine Lebenssphäre benutzen und vernutzen kann, sondern umgekehrt das Commoning selbst das Kapital zur Disposition stellt.

Die vielfältigen Widerstandsformen gegen den imperialistischen Anspruch von Markt, Kapital und Staat, die ja in gemeingüterbasierten Zusammenhängen wurzeln, haben eine paradoxe Wirkung: Sie verhelfen Markt, Kapital und Staat nämlich erst zur Dauerhaftigkeit. Die Arbeitskraft wäre längst durch das Kapital zerstört worden, hätte die Arbeiter_innenbewegung nicht in Selbstverteidigung soziale Regulierungen errungen. Der Markt funktioniert nicht ohne ein Mindestmaß an ethischen Werten, die er unmöglich aus sich selbst heraus erzeugen kann. Staatliche Disziplinierung beruht auf sozialen Fähigkeiten und Dispositionen, die wesentlich in der Familie hergestellt werden. Selbst eine Schulklasse als eine herrschaftlich formierte Gemeinschaft weist Aspekte des Commoning auf.

Die kapitalistische Produktionsweise existiert immer in einem Zusammenhang mit solchen nicht-kapitalistischen Charakters: solchen, die aus vorkapitalistischen Epochen überkommen sind (manche Arten von Gemeingütern); solchen, die sich gegen das Kapital entwickelt haben (zum Beispiel manche Typen von Genossenschaften); und solchen, die erst mit dem Kapital zusammen entstanden sind und strukturell von ihm abhängen (etwa der moderne Haushalt oder die einfache Warenproduktion von freiberuflich Tätigen und kleinen Unternehmen).

Es geht nicht allein darum, dies analytisch festzuhalten, sondern wesentlich um die Umschlagpunkte kollektiven, auf Gemeingüter bezogenen und solche generierenden Widerstands, die das Verhältnis zwischen der kapitalistischen und den nicht-kapitalistischen Produktionsweisen verschieben können (und den Charakter der nicht-kapitalistischen, dem Kapital untergeordneten verändern). Eine Zurückdrängung der kapitalistischen Produktionsweise aber bedeutet letztlich ihre Überwindung - wären Markt und Kapital nicht aus innerer Logik heraus auf Expansion und fortgesetzte Enteignung von Gemeingütern ausgerichtet, so bestünde kein Erfordernis, sich dagegen zu positionieren.

In diesem Sinn hält Massimo de Angelis richtig fest: "Wir müssen uns von den Mechanismen der Selbsterhaltung des Kapitals, vom Mechanismus der Homöostase, durch den das Kapital seinen Sauerstoff erhält, entkoppeln, und die Reproduktion unseres Lebens auf ein anderes Terrain gründen. Dieser Prozess von Entkopplung und Konstitution fällt damit zusammen, das 'Außerhalb' zu problematisieren. In einem Wort: Wir müssen uns immer und immer wieder fragen, wie wir ein 'Außerhalb' der kapitalistischen Wertpraxen (re)produzieren, erhalten und ausdehnen" (de Angelis 2007, 226; Übers. A.E.). Und er führt noch deutlicher aus: "... das Kapital generiert sich selbst durch Einhegungen, während sich die Subjekte in einem sozialen Kampf durch Gemeingüter generieren. Deshalb ist 'Revolution' nicht ein Kampf für Gemeingüter, sondern durch Gemeingüter, nicht für Würde, sondern durch die Würde" (a.a.O., 239).

Solche Umschlagpunkte sind einerseits schon in der Konstitution der "Commons des emanzipativen Typs", der "widerstandsgenerierten Gemeingüter" zu verorten, andererseits aber in der Art der Ressourcen selbst, die zum Gemeingut werden sollen oder als ein solches wahrgenommen werden. Genau hier wird die große Leerstelle der bisherigen Commons-Debatte relevant: die Frage der maschinellen Produktionsmittel und gesellschaftlichen Infrastukturen.

Der Nutzen einer Verknüpfung der Commons-Debatte mit dem Diskurs der Solidarischen Ökonomie könnte darin liegen, diese Leerstelle aufzufüllen. Der Fokus auf Aneignung der Maschinerien, Gebäude etc. in selbstverwalteten Strukturen, wie er in der Solidarischen Ökonomie entwickelt wird, richtet die Aufmerksamkeit nämlich auf den in der Commons-Debatte unterbelichteten Punkt. Auf der anderen Seite kann die Commons-Debatte der Solidarischen Ökonomie dabei helfen, den Blick auf Voraussetzungen und Funktionsweisen von "Gemeinschaft" zu richten. Dazu hat die Erforschung der Commons einen reichen Pool an Erkenntnissen produziert.


Märkte sind Anti-Commons

Die Commons-Forschung zeigt, dass Märkte für die Entwicklung der Gemeingüter nicht nur strukturell, sondern auch auf der Ebene der Handlungsmotivationen dysfunktional sind (siehe Vatn 2007 und dort zitierte Literatur). Sie positioniert Institutionen, verstanden als Normen- und Aushandlungssysteme, als ein Gegenprinzip zur Vergesellschaftung über den abstrakten ökonomischen Wert, den Markt. Davon ausgehend erweist sich das Studium der konkreten sozialen Praxen und formell oder informell institutionalisierten Regulierungsweisen als sehr ergiebig, um Ansatzpunkte für eine Wiederbelebung, Neukonstitution und Erweiterung von Commons auszumachen.

Dessenungeachtet wird jedoch in der Commons-Debatte vielfach darauf bestanden, dass Märkte auch in einer gemeingüterbasierten Gesellschaft existieren müssten, ja, dass sie selbst als ein Gemeingut reguliert werden könnten. Einerseits wird so der Markt kritisiert, auf der anderen Seite aber gerade in seiner Funktion der Herstellung eines übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhangs im Äquivalententausch affirmiert. Diesem Widerspruch wird häufig mit dem Verweis auf die Arbeiten von Karl Polanyi begegnet. Polanyi, so das Argument, habe gezeigt, dass Märkte eine Grundkonstante menschlichen Lebens darstellten. Daraus folge, dass die soziale Einbettung des Marktes darüber entscheide, welchen Charakters er ist. Eine Fundamentalkritik am Markt, die sich in der Commons-Debatte ja durchaus andeutet, wäre also der falsche Schluss. Man müsse zwischen dem Markt-als-Ort und dem Markt-als-abstraktem-Raum unterscheiden. Während letzterer zu überwinden sei, würden Märkte als konkrete Orte von Tauschhandlungen auch in einer gemeingüterbasierten Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen müssen.

Der unkritische Verweis auf Polanyi führt dazu, dass einige Unzulänglichkeiten seiner Studien in die Gemeingüter-Debatte Einzug halten. (Ob Polanyi Märkte tatsächlich als überhistorische Konstanten ansieht, sei einmal dahingestellt.) Zentral ist in Polanyis Denken die Idee, dass sich Märkte in der kapitalistischen Produktionsweise aus der Gesellschaft entbettet hätten. Damit übersieht er, dass zwar die liberale Ideologie von einer autonomen Funktionslogik "des Marktes" ausgeht, der demnach quasi in einem luftleeren, asozialen Raum verortet wäre, seine Existenz tatsächlich aber immer politisch und sozial konstituiert ist. Auch wird damit unterstellt, dass es so etwas wie eine überhistorische ökonomische Logik gäbe, die einmal in soziale Zusammenhänge eingebettet, das andere Mal entbettet sei.

Betrachten wir konkret einen sozialen Zusammenhang, der aus heutiger Sicht einem Markt zu entsprechen scheint, die griechische Agora. Eine genauere Analyse ergibt, dass, was marktwirtschaftlich formiertem Denken auf den ersten Blick als "Fleisch vom eignen Fleische" erscheinen mag, eine wesentlich davon unterschiedene Beziehungsform darstellt. So hält Alfred Bürgin fest: "Da die Polis sich aus Häusern zusammensetzte, existierte eine Gesamtvorstellung von 'Wirtschaft', die (abstrakte) Vorstellung: 'die Wirtschaft' nicht. Hingegen besaß man genaue Vorstellungen und reiche Erfahrung in vielen Teilbereichen des Wirtschaftens: in der Landwirtschaft, dem Oikos, in der Finanzverwaltung der Polis usw. Hierbei konnten Vorstellungen, Anweisungen und Lehren durchaus entwickelt werden und als Lehrgegenstand auftauchen; sie alle hätten indessen nur einen begrenzen Inhalt aufweisen, konkrete Teilbereiche abdecken, nie aber wirtschaftliche Zusammenhänge oder Gesamtzusammenhänge darstellen können" (Bürgin 1996, 41f.).

In Abhebung von der Marktwirtschaft, die erst mit dem Kapitalverhältnis entsteht, lässt sich folglich sagen: "Die freie Käuflichkeit und Kombinierbarkeit aller Produktionsfaktoren ist Grundbedingung einer Marktwirtschaft. Dies war aber in der Antike nicht der Fall: Sklavenarbeit und die Arbeit politisch Unberechtigter herrschten vor. Boden war das Monopol der Bürger. Existieren wie im 5. und 4. Jahrhundert in Attika Märkte, zirkuliert Geld, bestehen Handel und Gewerbe, so müssen diese Erscheinungen im Rahmen der gesamten attischen Wirtschaft und Gesellschaft gesehen und gedeutet werden; hier helfen Begriffe und Vorstellungsweisen, die am Markt der Neuzeit gebildet und vom Markt der Neuzeit her entwickelt wurden, nicht weiter und führen in die Irre" (a.a.O., 44f.).

Die partielle und widersprüchliche Kritik des Marktes im Commons- wie auch im Solidarökonomie-Diskurs zeigt ein übergreifendes Problem: eine grundsätzlich andere Form der Vergesellschaftung, einer jenseits von Markt und Staat, nicht denken zu können und damit den Umschlagpunkt von einer Gesellschaft des Kapitals zu einer der Gemeingüter zu verfehlen. Beherrschbarkeit und Funktionalisierung der nicht-kapitalistischen, gemeingüterbasierten Produktionsweisen (was ihre partielle Deformierung impliziert) beruht wesentlich darauf, dass der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang sich eben nicht als "Gemeingut", sondern in Waren- und Rechtsform herstellt.

Die Gemeingüter bleiben deshalb fragmentiert und in subalterner Position, während Kapital und Staat den ökonomisch bzw. politisch genannten Zusammenhang der Gesellschaft bilden, der die Commons-Fragmente in Beziehung und ins Verhältnis setzt. Dabei wurzeln Kapital wie Staat in den nicht direkt ihrem Herrschaftsbereich untergeordneten gesellschaftlichen Bereichen, in dem, was die Commons-Debatte untersucht und was auch mit dem Begriff der Zivilgesellschaft als eines herrschaftlich strukturierten Terrains der Auseinandersetzung bezeichnet werden kann, das mit Kapital wie Staat in einer integralen Beziehung steht.

Das fehlende Verständnis für die strukturellen Differenzen, die Formunterschiede zwischen Gemeingütern und Märkten, verführt auch dazu, akzidentielle Merkmale für wesentlich zu halten. So ist entgegen manchen anderslautenden Positionen zu betonen, dass nicht die Kollektivität des Eigentums das wesentliche Kriterium des Gemeinguts darstellen kann. Eine kapitalistische Aktiengesellschaft - um nur ein Beispiel zu nennen - steht in kollektivem Eigentum, jedoch in Form von Kapital. Dementsprechend hält Vatn fest: "Ungeachtet der Unterschiede in der Benennung umfassen sowohl das Privat- wie das Gemeineigentum mehrere Akteure. Wie das Gemeineigentum das Eigentum einer Gruppe von Mitbesitzern ist, so steht der Konzern normalerweise ebenfalls im Eigentum einer Vielzahl von Akteuren. Der Unterschied liegt in den Beziehungen zwischen Mitbesitzern und der Art, wie sie Eigentum handeln können. ... Mitbesitzer von Gemeineigentum sind nicht dazu berechtigt, irgendeinen Teil der Gemeinressource zu verkaufen ..." (Vatn 2007, 625; Übers. A.E.).

Es ist also der gesellschaftliche Konnex, die Form des gesellschaftlichen Stoffwechsels und das ihm entsprechende Eigentumsregime, was den Unterschied ausmacht. Während er im Fall der Aktiengesellschaft im Privateigentum besteht, das heißt in der Veräußerungsmöglichkeit, der Gleichsetzung eines Unternehmensteils mit allen anderen "Wertgegenständen" als abstraktem Wert und damit einhergehender Akkumulation desselben, besteht er im Fall der Commons jedoch in der Nicht-Handelbarkeit, dem Charakter eines Nicht-Werts, eines nicht-marktförmigen Gutes, eines Nicht-Veräußerbaren.


Meta-Commons statt Staat

Während Commons zumindest in einem ersten Schritt zumeist als ein nicht nur dem Markt, sondern auch dem Staat entgegengesetztes Vergesellschaftungsprinzip verstanden werden, wird doch in aller Regel von einem friedlichen Zusammenwirken staatlicher und gemeingüterbasierter Zusammenhänge ausgegangen.

Hier wird nicht nur übersehen, dass Staat und Kapital in einer engen strukturellen (und nicht allein personellen) Beziehung stehen und die Verteidigung der Gemeingüter gegen das Kapital unter Anrufung der vermeintlichen "Schutzmacht Staat" schon allein deshalb fragwürdig ist. Schwerer wiegt vielleicht, dass die sozialen Aspekte des Staates als Ergebnis friedfertiger Überzeugung oder aufgeklärter Eliten missverstanden zu werden drohen - womit man die reelle Bedeutung des Commonings entgegen dem eigenen Anspruch, Commons als eigenständige soziale Realität erkennen zu wollen, übersieht.

Tatsächlich muss man die sozialen Leistungen des Staates als Ergebnis militanter, selbst schon gemeingüterbasierter Auseinandersetzungen (insbesondere der Arbeiter_innenbewegung) begreifen, die dazu führten, Gemeingüter in die staatlichen Apparate quasi einzulagern, namentlich die sozialen Sicherungssysteme. Darüber hinaus hat der Staat aus vormodernen Epochen überkommene Gemeingüter mitunter kodifiziert und ihnen damit eine gewisse Stabilität verschafft - als Beispiele wären (in Österreich) das allgemeine Wegerecht im Wald zu nennen (gesetzlich festgeschrieben erst in den 1970er Jahren) oder das Recht, Früchte und Pilze zu ernten.

Der Staat, soviel lässt sich strategisch sagen, soll nur dann überwunden werden, wenn bewahrenswerte soziale Leistungen und Funktionen aus seinen Apparaten gelöst und durch gemeingüterbasierte Gemeinschaftlichkeit reproduziert werden können. Und der Staat kann auch nur dann überwunden werden, wenn das Kapitalverhältnis effektiv angegriffen und als Organisationsweise gesellschaftlicher Produktion ersetzt wird.

Dazu ist freilich mehr vonnöten als die bisherige Debatte um Commons und Solidarische Ökonomie, wenngleich sich dort die notwendigen und unverzichtbaren Ausgangspunkte und Erfahrungen finden, an die anzuknüpfen ist. Es ist dazu nämlich vor allem gefordert, auf einer Ebene von "Meta-Commons" zu denken und Ausschau zu halten nach Punkten, wo sich solche Strukturen etablieren (könnten).

Am fortgeschrittensten scheint in dieser Hinsicht der Fragenkreis der Freien Software, der weltweite Kooperation aus den praktischen Erfahrungen der Wissensproduktion heraus als Thema auf die Agenda setzt. Die dort entwickelte Perspektive ließe den Spagat zwischen dem recht engen, zivilgesellschaftlichen Lokalismus z.B. in Landfragen einerseits und einem staatsaffirmativen Globalismus in Hinblick auf Atmosphäre, Meeresnutzung etc. andererseits, der die Debatte um die natürlichen Gemeingüter seltsam aufspreizt, vielleicht schließen. Commons werden dann nämlich als emanzipatorische Perspektive diskutiert, wenn deutlich wird, dass es nicht nur um ein Supplement zu Markt und Kapital geht, sondern dass es tatsächlich ein neues, komplexes Muster gesellschaftlicher Integration herzustellen gilt: ohne abstrakten ökonomischen Wert und seinen rechtlichen Ausdruck, das Privateigentum.

Der "Großen Transformation" zur kapitalistischen Produktionsweise, so könnte man Karl Polanyi paraphrasieren, muss eine ebenso große Transformation zur "Großen Kooperation" (Arild Vatn) hin folgen. Auf diesem Weg sind die Gemeingüter erstens als ein Feld der Auseinandersetzung, zweitens als Voraussetzung und drittens als Ergebnis von Auseinandersetzungen gegen Markt, Staat und Kapital zu begreifen.

Alles andere droht diese Strukturen - die auf Gemeingüter angewiesen sind, sie aber zugleich deformieren und zerstören - lediglich zu reproduzieren. Diese Aussicht gewinnt gerade an den historischen Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise eine düstere Qualität. Denn es ist nicht gesagt, dass Gemeingüter auf längere Sicht nicht der Angelpunkt einer neuen, nicht-kapitalistischen Herrschaftssitz werden könnten. Um die Potenziale der Gemeingüter-Debatte wirksam werden zu lassen, ist eine Kritik, die an die Wurzel geht und ihr Ergebnis nicht scheut, die notwendige Begleiterin.


Literatur

de Angelis, M. (2007): The Beginning of History. Value Struggles and Global Capital, Pluto Press.

Brand, U. (2009): Das Zusammenwirken von Bewegungen. Commons als kritisch-emanzipatorische Weltsicht und strategische Perspektive, in: Helfrich, S. und Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, oekom verlag.

Bürgin, A. (1996): Zur Soziogenese der Politischen Ökonomie. Wirtschaftsgeschichtliche und dogmenhistorische Betrachtungen, Metropolis-Verlag.

Diegues, A.C. (1998): Social Movements and the Remaking of the Commons in the Brazilian Amazon, in: Goldman, M. (Hg.): Privatizing Nature. Political Struggles for the Global Commons, Rutgers University Press.

Helfrich, S.; Haas, J. (2009): Statt eines Nachworts: Gemeingüter - Eine große Erzählung, in: Helfrich, S. und Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, oekom verlag.

Thompson, M. (1998): Style and Scale: Two Sources of Institutional Inappropriateness, in: Goldman, M. (Hg.): Privatizing Nature. Political Struggles for the Global Commons, Rutgers University Press.

Vatn, A. (2007): Resource regimes and cooperation. Land Use Policy 24: 624-632.

Raute

Immaterial World

Kritische Kategorien

von Stefan Meretz

Die Aufgabe kritischer Kategorien ist es, die immer vorhandene doppelte Möglichkeit, affirmativ oder alternativ handeln zu können, sichtbar zu machen. Der individuelle Mensch im Kapitalismus ist nicht nur Unterworfener der gegebenen, sondern auch Schöpfer von neuen Bedingungen. Die Beschaffenheit der zu schaffenden Bedingungen hängt unter anderem davon ab, welchen Begriff wir von den Verhältnissen haben, die wir schaffen.

In der wertkritischen Linken gibt es die Tendenz, die Seite der vorausgesetzten gesellschaftlichen Bedingungen zu verabsolutieren und die Seite der Handlungen der Individuen unter diese zu subsumieren. Das "Subjekt" sei nun einmal das "Unterworfene", die Individuen seien Gefangene der Fetischverhältnisse. Die kapitalistischen Verhältnisse "als Ganzes aufzusprengen" ist dann der folgerichtige, aber falsche Schluss, zumal unklar bleibt, wer das Aufsprengen noch vollziehen kann, wenn doch alle mit Fetischdiensten beschäftigt sind.

Diese Sichtweise ist nicht nur völlig unangemessen, sondern sie reproduziert auch im Kern die bürgerliche Ideologie von der Quasi-Naturhaftigkeit des Kapitalismus mit umgekehrter Bewertung. Die ursprünglich kritische Rede von der kapitalistischen Verwertungslogik als "zweiter Natur" mutiert zur definitiven Beschreibung, mit der alles gesagt sei. Gegen "Natur" kann man schlicht nichts tun, außer das "Sprengen" des Ganzen, sich selbst eingeschlossen - welch fatale Assoziation.

Abgesichert wird diese hermetische Sichtweise durch eine falsche Verwendung des Begriffs der "Totalität". Anstatt das Funktionieren des Ganzen in seinen Aspekten zu durchdringen, was die historische Begrenztheit und Überwindbarkeit als Momente der begriffenen Totalität einschließt, kippt die Sicht in eine undialektische Verkürzung um, in der "Totalität" als "Totalitarismus" eines Moments missdeutet wird. Die totalitaristische Sicht der vollständigen Unterworfenheit der Subjekte eliminiert einen kritischen Begriff der Handlungsfähigkeit, nach dem Individuen die nahegelegten affirmativen Handlungsformen auch zurückweisen und alternative Möglichkeiten erwägen können.

Dass jedes Handeln im Kapitalismus diesen auch reproduziert, ist eine triviale Erkenntnis. Kritisch wird sie erst, wenn erkannt wird, dass dieses Handeln auch transformatorische Momente haben kann. Das potenziell Gleichzeitige von Affirmation und Transformation, die doppelte Funktionalität, kann nur im dialektischen Denken erschlossen werden, das nicht auf einem monokausalen Entweder-oder beharrt. Wie kann man sich das vorstellen?

Die Grundstruktur des Kapitalismus beruht auf getrennter Privatproduktion, die jene gesellschaftlichen Vermittlungsformen erzeugt, die wir alle kennen: Markt, Äquivalententausch, Wert, Geld usw. Aus individueller Sicht ist das grundlegende Merkmal dieser Vermittlung die Konkurrenz, allerdings einer Konkurrenz, die durchaus auch kooperative Formen der Vertretung von Partialinteressen annehmen kann. In diesem Vermittlungsmodus setzen sich stets die Einen auf Kosten der Anderen durch. Darin eingeschlossen ist jene Selbstfeindschaft, die dadurch entsteht, dass ich der Andere für die Anderen bin, auf dessen Kosten sich diese durchsetzen. Exklusion und Selbstexklusion ist die allgemeine Bewegungsform im Medium der Konkurrenz.

Eine um die andere Möglichkeit verkürzte Handlungsweise bewegt sich ausschließlich in dem nahegelegten kooperativen Konkurrenzmodus. Die um die transformatorische Alternative erweiterte Handlungsform enthält die Perspektive der Konstitution von Verhältnissen, in denen reflexiv die Entfaltung der Einen die Voraussetzung für die Entfaltung der Anderen ist. Der kooperative Inklusionsmodus kann jedoch nicht ad hoc willkürlich im kleinen Rahmen umgesetzt werden, sondern ist stets begleitet vom Handeln in den alten Formen.

Wird der Widerspruch zwischen Altem und Neuem jedoch bewusst gehalten, so ist ein Handeln in der Perspektive der kooperativen Inklusion möglich. Es lassen sich "Inseln der Inklusion" im "Meer der Exklusion" durchsetzen. Solche Inseln sind überall möglich, es gibt keinen privilegierten Ort. Es können dies solidarische Aktionen im kapitalistischen Betrieb sein oder der Aufbau von commons-basierten Projekten der Peer-Produktion (freie Software/Kultur/Güter) außerhalb der Verwertungslogik.

Es ist allerdings nicht so einfach, die Ausschlussmechanismen zu durchschauen. Der Ausschluss Anderer erfolgt häufig nicht direkt, sondern vermittelt über mehrere Instanzen. So geht die Verteidigung des Arbeitsplatzes in der solidarischen Betriebsaktion unter den gegebenen Bedingungen schnell auf Kosten jener, die weniger effektiv ihre Interessen artikulieren können oder die ohnehin "draußen" sind. Der Erhalt des Opel-Werkes in Bochum wurde so auf Kosten der Schließung des Werkes in Antwerpen erreicht.

Die Alternative kann nur die transzendierende Perpektive der Schaffung solcher Bedingungen sein, unter denen der Ausschluss grundsätzlich, also strukturell ausgeschlossen ist, weil die Inklusion das bestimmende Moment der gesellschaftlichen Vermittlung ist. Solche Verhältnisse liegen jenseits von Markt, Wert, Geld, Staat und letztlich auch jenseits jener Arbeit, deren Platz heute vehement verteidigt wird.

Eine etwas anders gelagerte Problematik ergibt sich für Projekte, die sich (mehr oder weniger) bewusst außerhalb der Verwertungslogik gebildet haben - etwa die zahlreichen neuen und alten Commons-Initiativen. Sie operieren zwar grundsätzlich jenseits von Markt und Staat, setzen aber voraus, dass die Teilnehmenden ihre individuelle Reproduktion schon "irgendwie" absichern werden. Dies geschieht in der Regel unter den konventionellen Bedingungen des Kapitalismus.

Widersprüche wie die hier exemplarisch skizzierten lassen sich nicht vermeiden. Das Adornosche Diktum, dass es "kein richtiges Leben im falschen" gebe, ließe sich also umformulieren zu der Aussage, dass es "kein widerspruchsfreies Leben im falschen" gibt. Das jedoch ist mehr, als das Verwerfen jeglichen alternativen Handelns in einer Situation, in der das "Richtige" nicht in Reichweite ist. Oder anders formuliert: Das bewusst eingegangene widersprüchliche Handeln, nämlich jenes in der Perspektive der allgemeinen Inklusion, ist unter den gegebenen Bedingungen das richtige.

Raute

Die "Konsumismusglocke"

von Lorenz Glatz

"Die Konsumismusglocke hängt über dem ganzen Land", sagt die Dramatikerin Milena Markovic, um die mentale Misere ihres krisengeschüttelten Herkunftslandes zu charakterisieren (Der Standard, 26.5.10). Vielleicht ist der Konsumismus in Serbien deshalb so deutlich erkennbar, weil es den meisten Leuten schon beträchtlich schwerer fällt als hierzulande, mit seinen Ansprüchen, die zu ihren eigenen geworden sind, zurechtzukommen. Für das Phänomen freilich ist Serbien ein Standort wie jeder andere.

Konsum besteht in einer kapitalistischen Gesellschaft (bekanntlich?) nicht einfach darin, dass Menschen Güter und Dienstleistungen für ihre Zwecke und Notwendigkeiten verbrauchen. Zum Konsum gelangt eins über den Kauf von Ware und Dienstleistung, und es ist dieser Kauf, nicht die Befriedigung qua Konsum, der die Verwertung von investiertem Kapital krönt und die Warenwelt am Laufen hält. In einer entwickelten Arbeitsgesellschaft mit dem Lebensrhythmus von Geldverdienen und Geldausgeben muss daher im Schlepptau der Kapitalvermehrung auch der Konsum stets weiter wachsen.

Beim Menschen setzt sich das um als Sucht. Und daher gibt es so wie den Morphinismus auch den Konsumismus. Anders als jener wird dieser aber meist nur dann als krank oder kriminell bezeichnet, wenn der Stoff zwar immer weiter bezogen wird, aber mangels Kaufkraft nicht bezahlt werden kann. Allerdings hat sich dafür seit den Siebzigerjahren im Übergang zu einer globalen Schulden- und Defizitwirtschaft eine temporäre, gesetzeskonforme Lösung für Dealer und Kunden gefunden. In letzter Zeit aber "krachen" auch in den Metropolen nicht nur Banken und Börsen, sondern auch die süchtige Kundschaft.

Die Sucht des Konsumismus ist ein tief gestaffeltes gesellschaftliches Konstrukt, das als Krankheit auch deshalb nur schwer erkennbar ist, weil es kaum Gesunde gibt. (Und wenn, dann gelten die ziemlich sicher als arm, faul, Loser, zumindest als schrullig.) "Wenn ich schlecht drauf bin, geh' ich mir was kaufen" (steht in keiner Zeitung), sagt eine Freundin. Aber anders als bei Alkohol, Heroin und dergleichen ist der Stoff sehr unspezifisch, den eins sich da reinzieht. Irgendwas eignet sich irgendwie bei irgendwem fast immer dazu, dass es flasht und eins für den Moment besser dasteht, vor allem besser als die Nachbarin, der Kollege, die Freundin oder sonst ein Konkurrent.

Idealerweise (und spiegelgleich mit dem Gelingen von Verwertung) ist der Kauf selber schon der Rausch - und vergeht im Handumdrehen nach dem "Schuss". Denn eine Gesellschaft des Massenkonsums muss sich drauf verlassen können, dass eins bald wieder "schlecht drauf" ist. Weil das Investieren, Arbeiten, Kaufen und Verbrauchen sonst schwerlich weitergehen kann, ist die in unseren Seelen endemische Unbefriedigtheit, Hektik und Gier so systemkonform wie unverzichtbar.

Freilich nur, solange wir dabei fit im Jobben und Shoppen bleiben. Genau hier aber entwickelt sich die Störung seit Jahren schwunghaft, wie Gesundheitsexperten und Soziologen untersucht, in ihren Studien und Statistiken in Millionenkosten umgerechnet und damit das Phänomen in den Rang einer Wahrheit erhoben haben: Bei langem Gebrauch und permanent wachsender Dosis kippt die produktive Haltung zunehmend in Depression auf dem einen, in Amok auf dem andern Ende um. (Man sehe sich im Netz bloß unter den properen Begriffen um!)

Soweit, wenn die Geschäfte einigermaßen und geregelt gehen, sowie die Staatsgewalt intakt ist. Wo diese Bedingungen schwinden, tut dies die "Glocke" keineswegs. Entschlossenheit und Verzweiflung nehmen neue Formen an, und erst recht die Gewalt. Und alle drei werden durchaus produktiv. Selbst für den Zugang zu einem gehetzten Sklavendasein in den Metropolen zahlen Menschen auf dem Trikont ein Vermögen, oft in der Aussicht im Meer abzusaufen, aber immer in der Hoffnung auf einen Zipfel glitzernden Prestige-Konsums für sich und die Ihren. Und die blanke Gewalt einer Bande mit Kalaschnikows taugt vielerorts als Besitzurkunde, als verflüssigtes Arbeitsrecht, als Zugang zu Quellen barer Zahlung und vor allem: zum Potenz-Konsum der Metropolen. Wer in diesem Ambiente rausfällt und nicht mitkann, hat oft nicht einmal die Zeit, mit seiner Depression zu leben.

Der Konsumismus wird jedoch nicht bloß von Krise und Erschöpfung der Verwertung und der menschlichen Unzulänglichkeit für diese metaphysische Herausforderung bedroht. Er hat nämlich schlicht nicht Platz auf unserer Welt. Auf dem Niveau der reichen Staaten brauchte er derzeit - auf alle Länder wunschgemäß verallgemeinert, wie es das "Glücksversprechen" des Marktes als "Entwicklung" stets verheißt - vier bis sechs Planeten Erde, um zu bestehen, ganz zu schweigen davon, dass er, um sich zu erhalten, immer weiter wachsen muss. Trotz allem Hunger und Mangel auf der Welt reicht der Stern schon heute nicht, wird von Tag zu Tag stückweis erschöpft, verdreckt und auch klimatisch aus einem Gleichgewicht gebracht, das menschliches Leben erst ermöglicht. Großteils absehbar unwiederbringlich.

Und doch: Bei allem Wissen um die drohende Gefahr spürt es sich selbst für kritische Menschen noch immer wie Reichtum und Wohlstand an, wenn man einigermaßen erfolgreich teilhat bei diesem destruktiven und zunehmend schärferen Treiben. Und wie Unfähigkeit und Niederlage, wenn man dabei abgehängt, an den Rand gestoßen, ausgeschlossen wird. Schließlich war es nicht nur im Kapitalismus, sondern vermutlich seit Anbeginn von Herrschaft überhaupt stets die stillschweigende Voraussetzung, dass die Perlen echt sind, um die es geht im sozialen Kampf. Was tun, wenn sie sich als Fälschung, ja Gift zu entpuppen scheinen und doch das Einzige sind, was zählt, was eins sich wirklich vorstellen kann und was immer schwerer zu bekommen ist. - "In der Gesellschaft herrschen Frustration und Konfusion", wie Frau Markovic feststellt (a.a.O.). Auch das gilt so ziemlich überall und morgen mehr als heute.

Die Gefahr ist groß, dass "Für uns reicht's schon noch!" die Losung des Gemetzels in der Katastrophe wird. Für eine menschenfreundliche Lösung braucht es einen tiefen Bruch. Weg mit der Illusion dass sich dazu auf den tief eingegrabenen Fundamenten der Herrschaft noch was bauen lässt. Und vor allem (Ver-)Suche eines angemesseneren Umgangs der Menschheit mit sich selbst und ihrer Mitwelt. Jetzt!

Raute

Dissidenz

von Andreas Exner

Dissidenz ist die conditio autonomer Aktivität. Sie beginnt in den Familien, fährt fort in den Schulen, an den Universitäten, in den Ausbildungsgängen, den Arbeitsämtern, den Parteien, Gewerkschaften und NGOs, in den Medienbetrieben, an den Arbeitsplätzen, vor den TV-Geräten und den Facebooks, schlicht in allen Funktionen, die eine funktionierende Gesellschaft den Individuen zuweist, dieses System von zu Geld und Staat, Arbeit und Freizeit, Mann und Frau geronnenen Beziehungen.

Dissidenz ist ein Haarriss im System, der ein Individuum und seine Rolle zu entzweien beginnt. Sie ist ein Exodus, der noch nicht die Koffer packt. Die Absicht ist für die Dissidenz wesentlich. Sie ist, anders als Ressentiment oder Resignation, durch bewusste Konfiguration von bewusstloser Reaktion abgehoben. Sie ist Anerkenntnis momentaner Schwäche, ohne zu folgern, dies hätte so zu bleiben. Sie ist strategisches Abwägen oder auch nur taktisches Kalkül: sich weder verschleißen zu lassen oder zu verschleißen noch aber sich innerlich gefangen zu geben vom eisernen Gehäuse der Konformität. Bereit zu sein zum Sprung, aber ihn nicht vor der Zeit zu tun. Eine Gefangene hängt von den Wärtern ab. Ein Grund, sie zu lieben ist das nicht.

Dissidenz ist unvermutete Bewegung der Subversion, insgeheime Vorbereitung von Rebellion. Dissidenz steht auf verlorenem Posten - was sie nicht hindert, sich zu entfalten. "Sich mit wenigen zu bewegen stellt nicht nur keine Grenze dar", heißt es in einem anonymen Text, sondern, "es bedeutet auch, die soziale Veränderung auf eine andere Weise zu denken. Die Libertären sind die Einzigen, die sich eine Dimension des kollektiven Lebens vorstellen, das nicht der Existenz von Machtzentren untergeordnet ist. Die wirkliche, föderalistische Hypothese ist eben die Idee, die Abmachungen unter den freien Vereinigungen von Individuen ermöglicht. Die Affinitätsbeziehungen sind eine Art und Weise, die Vereinigung nicht mehr auf der Basis von Ideologien und quantitativem Anhang zu verstehen, sondern im Gegenteil, auszugehen von der gegenseitigen Erkenntnis, dem Vertrauen und dem Teilen von Leidenschaften in einem Projekt." Sich mit wenigen zu bewegen, von einzelnen, verlorenen Posten aus zu kommunizieren, unentwegt auf der Suche nach Verbündeten, Komplizinnen - so untergräbt Dissidenz das Gefüge der Macht, ohne eine Gegen-Macht zu schaffen, unterhöhlt, ohne selbst Gebäude zu errichten.

Dissidenz entsteht, wo der stumme Zwang der sozialen Form sich an den Leidenschaften und der Spontaneität eines Menschen als Leiden an der Gesellschaft oder als temporäre Erfahrung der Befreiung bricht. Die Dissidenz wird bewusst als Stimme des Gewissens, leise oder als offener Konflikt, nicht im Sinn eines Über-Ich, sondern als ein innerlich Gewusstes. Sie kann sich in nagendem Zweifel äußern, als antwortlose Frage ins Bewusstsein drängen oder drastisch spontan als Reflex der Abscheu.

Dissidenz ist zweigesichtig. Von offener Rebellion und Flucht durch Beharrung unterschieden, trägt sie die Gefahr der Resignation und des Zynismus in sich, verkörpert jedoch eine Position der Stärke. Ihre Trägheit besteht darin, den zugewiesenen Platz beizubehalten, ohne sich mehr mit der zugemuteten Rolle zu identifizieren. Sie hält den Schein aufrecht, nicht als Fassade, sondern als Deckung, die man beizeiten abstreifen will.

Die Dissidenz ist klug, sie zieht keine Konsequenz aus dem gebrochenen Loyalitätsversprechen, sondern lässt den Rollenvertrag formaliter bestehen, ohne seine Konditionen weiter ernst zu nehmen. Anders als der Hörige, der aus dem Dienst tritt, wenn er sich nicht mehr würdig fühlt, weil nur die Dienstbarkeit ihn würdigt, bestraft die Dissidente sich nicht für das Ausbleiben der Folgebereitschaft oder für den Verlust der Illusion. Sie beweist Autonomie, indem sie den Verbleib im Kostüm der strategischen Entscheidung überlässt. Sie spielt mit der Rolle anstatt sie zu spielen. Sie mag per Zufall eine Fahne halten - und lässt sie im nächsten Moment fallen. Dissidenz ist der rücksichtslose Opportunismus notorisch inopportuner Opposition, die sich gegen alles richtet, was die Unfreiheit der bestehenden Verhältnisse ausmacht, jedoch ohne in einer undurchführbaren Selbstaufgabe zu enden, solange die Zeit nicht reif ist: gegen die Vertretung der Interessen, die Parteien, den Staat, die NGOs, Arbeit, Ware, Geld, Markt, Kapital, Recht und Patriarchat und alle Momente, die einer und einem selbst dies alles als akzeptabel erscheinen lassen. "Das soziale Bewusstsein ist eine Stimme in unserem Inneren, die wiederholt: 'die anderen akzeptieren es'. Die wirkliche Kraft der Ausgebeuteten richtet sich somit gegen sich selbst."

Dissidenz ist mehr als individuelle Lebenssituation. Im selben Maße, wie die einst privilegierten Orte von Macht und Gegen-Macht sich in ein Netz von Knoten der Macht und des Widerstands auflösen, wird sie zu einer allgemeinen Bestimmung einer bestimmten Periode der gesellschaftlichen Opposition.

Dissidenz kann Opposition in Überwinterung oder im Prozess ihrer Bildung sein. Sie gedeiht auf dem Boden der ungezähmten Leidenschaft und resultiert aus Abklärung, Enttäuschung und nüchterner Einschätzung der Lage, wenn es um die Sichtung der Perspektiven geht. Sie charakterisiert eine Situation der Sortierung von Möglichkeiten. Dissidenz ist ein Prozess der Deidentifikation. Indem die Dissidente sich selbst mehr Gehör zu schenken beginnt als den Botschaften der Apparate und des Marktes, verliert sie an Identität und gewinnt Autonomie. Die Dissidenz kann zur systemischen Dissonanz anwachsen, wenn sie aus ihrer Vereinzelung heraustritt, Menschen in den Formierten erkennt und offen ausspricht: "Der Kaiser ist nackt."

"Zu sagen, wir seien die einzigen Rebellen in einem Meer aus Unterwerfung, ist im Grunde genommen beruhigend, denn es beendet das Spiel schon im Voraus. Wir sagen bloß, dass wir nicht wissen, wer unsere Komplizen sind, und dass es eines sozialen Sturmes bedarf, um diese aufzuspüren." Die Vorbereitung eines sozialen Sturmes ist die Entfesselung von Individuen. Wo eine Rebellion auf sich warten lässt, macht die Dissidenz den Anfang. Auf dass jene komme, und zwar rasch.


Die Zitate stammen aus: "Das Geheimnis liegt darin, zu beginnen"
(www.streifzuege.org/2010/das-geheimnis-liegt-darin-zu-beginnen)

Raute

Auslauf

Was kommt danach?

von Tomasz Konicz

Jetzt - da der Kapitalismus am Ende ist - müsste mensch Politiker sein. Derzeit muss sich unsere politische Klasse nämlich zwischen zwei alternativen Wegen in den Systemkollaps entscheiden. Sollen jetzt drakonische Sparmaßnahmen ergriffen werden, die auf eine Sanierung des Staatshaushalts abzielen - und sofort einen verheerenden wirtschaftlichen Einbruch auslösen? Oder darf es eine Fortführung der staatlichen Defizitkonjunktur sein, bei der schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme die schwindsüchtige kapitalistische Warenproduktion bis zum Staatsbankrott am Laufen halten werden? Am Ende könnte durch expansive Geldpolitik eine ordentliche Hyperinflation in Gang gesetzt werden, mit der die Schuldenberge, unter denen alle Industriestaaten verstärkt ächzen, inflationiert würden - und die zugleich praktischerweise den Glauben an den Fetisch Geld massenhaft ins Wanken brächte.

Was wäre dies für ein perfekter Job für einen überzeugten Antikapitalisten, bei dem durch die Exekution der bloßen Krisendynamik den marktgläubigen Konkurrenzsubjekten der Glaube an Markt, Kapital und Konkurrenz ausgetrieben werden könnte! Leider bevölkern unsere Kabinettstische und Staatskanzleien aber keine Antikapitalisten, sondern gerade jene Konkurrenzsubjekte, die durch ein Übermaß an Rücksichtslosigkeit und Verschlagenheit im allgemeinen Hauen und Stechen es bis dorthin geschafft haben. Für diese politische Kaste - geschult, ihre politische Praxis an einer Optimierung der Kapitalakkumulation auszurichten - bricht jetzt tatsächlich die Welt auseinander. Diese Leute wissen - noch! - nicht, wie es weitergehen soll.

Diese Orientierungslosigkeit äußert sich in dem fast schon hilflos anmutenden Streit über die Krisenstrategie, wie er z.B. auch auf dem G20-Gipfel zwischen den USA und der BRD entflammte: Washington müsse künftig mehr sparen, erklärte US-Finanzminister Timothy Geithner zu Beginn des Treffens, weswegen Länder mit hohen Überschüssen (wie die BRD) mehr für ihre Binnennachfrage tun müssten. Wer soll, wer kann sich noch weiter verschulden, um die kapitalistische Mehrwertmaschine noch ein paar Monate länger durch staatliche oder private Schulden am Laufen zu halten - so lautet die Streitfrage. Auf diese erbärmliche Perspektive schrumpft inzwischen der Horizont der politischen "Elite". Der Kapitalismus kann nur noch auf Pump funktionieren.

Die Orientierungslosigkeit des politischen Personals des Kapitalismus wird aber nicht ewig anhalten. Sollte sich mittelfristig keine breite, antikapitalistische und vor allem emanzipatorische Bewegung formieren, die eine zivilisatorische Perspektive jenseits von Kapitalakkumulation und Privateigentum an Produktionsmitteln aufzeigt, dann werden die Funktionäre des Kapitals Mittel und Wege finden, Herrschaft in eine neue Gesellschaftsformation zu überführen. Zu denken sollten beispielsweise all die politischen Initiativen geben, die einer Ausweitung und Forcierung von Zwangsarbeit das Wort reden. Die durch den Markt vermittelte Ausbeutung des "doppelt freien" Lohnabhängigen könnte bei Voranschreiten der Krisendynamik schließlich durch direkten Zwang - ersetzt werden. Der Kommunismus wird sich nicht durch den ohnmächtigen, krisenbedingten "Gang der Dinge" durchsetzen - hiedurch kann nur eine Neuanpssung von Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen über den Kapitalismus hinaus erfolgen. Die Befreiung ist nur durch emanzipatorische Organisierung, durch eine kollektive bewusste Tat möglich. Was nach dem Kapitalismus kommt, hängt also ganz von uns ab.

Raute

AutorInnen

Roger Behrens, 1967. Lebt in Hamburg, Weimar und Belo Horizonte. Studium der Philosophie und Sozialwissenschaften. An mehreren Universitäten, bei testcard und Zeitschrift für kritische Theorie tätig.

Andreas Exner, 1973. Streifzüge-Redakteur.

Alfred Fresin, 1953. Studierte Industrietechnik, Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Lebt und arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Wien.

Lorenz Glatz, 1948. Streifzüge-Redakteur.

Joachim Hirsch, 1938. Professor em. für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt/M. Hauptarbeitsgebiete: Kapitalismustheorie, Staatstheorie, Internationale Politische Ökonomie.

Tomasz Konicz, 1973. Studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover, Wirtschaftsgeschichte in Poznan, wo er wohnt. Freier Journalist mit Schwerpunkt Osteuropa.

Paolo Lago, 1974. Lebt in Livorno, studierte Klassische Philologie in Pisa, in Verona dottorato di ricerca für Literaturwissenschaft.

Dominika Meindl, 1978. Studierte Philosophin. Untertags freibeutende Schreibmaschine, abends Bloggerin und Poetry Slammerin in Linz. minkasia.blogspot.com

Stefan Meretz, 1962. Berliner. Informatiker. Schwerpunkte: Freie Software und Technikentwicklung. Aktiv u.a. bei Oekonux und Wege aus dem Kapitalismus; "Traforat" der Streifzüge.

Emmerich Nyikos, 1958. Historiker, lebt als freier Autor in Berlin und Mexiko-City. Zuletzt erschienen: Das Kapital als Prozeß. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems, Peter Lang (2010).

Peter Pott, 1937. Bis 2002 Professor für Politik und Philosophie an der FHS Bielefeld. Lebt in der Kommune Kleekamp in Westfalen. peter-pott.de, kommune-kleekamp.de

Peter Samol, 1963. Studium der Soziologie und Philosophie in Marburg, lebt als freier Journalist und hauptberuflicher Vater in Herford.

Franz Schandl, 1960. Streifzüge-Redakteur.

Martin Scheuringer, 1980. Streifzüge-Redakteur.

Maria Wölflingseder, 1958. Streifzüge-Redakteurin.

Petra Ziegler, 1969. Streifzüge-Redakteurin.

Raute

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Quelle:
Streifzüge Nr. 49, Juli 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2010