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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1676: Griechenland nach den Wahlen


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8 - Juli/August 2012
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Griechenland nach den Wahlen
Wir brauchen eine große europäische Solidaritätskampagne

Von Moisis Litsis



Bei den letzten Wahlen in Griechenland versuchten die lokale und die ausländische Elite den Menschen Angst zu machen, um den Aufstieg der "Koalition der radikalen Linken" (SYRIZA) zu stoppen. Sie behaupteten, zur Wahl stehe, ob Griechenland in der Eurozone bleibe oder nicht. Im Fall eines Siegs von SYRIZA und der Bildung einer Regierung, die das Memorandum annulliert, würde Griechenland gezwungen werden, den Euroraum zu verlassen - und das wäre "eine Katastrophe für das griechische Volk", das damit "ins Steinzeitalter zurückkatapultiert würde".

Für Millionen von Griechen stellte sich die Wahl so jedoch nicht. Sie scheren sich nicht darum, ob es den Euro oder die Drachme gibt, sie haben ohnehin kein Geld, keinen Job, keine soziale Absicherung und fast nichts zu essen. In den letzten zweieinhalb Jahren der Schuldenkrise wurde Griechenland von einer "Mittelklasse-Gesellschaft" in eine Gesellschaft der Verzweifelten katapultiert. Leute meines Alters, um die 50 Jahre alt, mussten mit ansehen, wie ihr Leben über Nacht verändert wurde und sie ohne Geld oder Job zurückblieben. Ganz zu schweigen von den jungen Leuten, die überhaupt keine Zukunft sehen und davon träumen auszuwandern.


Der Absturz

Betrachten wir einige Fakten zu Griechenland und der griechischen Wirtschaft. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 22%, im Alterssegment zwischen 18 und 25 liegt sie sogar über 50%. Die Einkommen der Griechen, die noch im öffentlichen Dienst oder für die Privatindustrie arbeiten, schrumpften zuweilen um 40%! Tarifvereinbarungen gibt es nahezu keine mehr - die neue Dreiparteienregierung (aus der rechten Nea Dimokratia, der sozialdemokratischen PASOK und der neuen sozialdemokratischen Partei DIMAR) versucht die Troika davon zu überzeugen, dass sie sie nicht auch formell abschafft.

Der Mindestlohn wurde bereits um 22% von 751 auf 586 Euro gesenkt, für junge Leute unter 25 beträgt er jetzt 510,95 Euro. Das Arbeitslosengeld wurde auf 360 Euro gesenkt. Im öffentlichen Dienst sollen 150.000 Arbeitsplätze gestrichen werden. Unter dem Druck einer stärker werdenden Linken verspricht selbst die neue Regierung, über das "Rettungspaket" neu zu verhandeln.

Mehr als 250.000 Leute nehmen jeden Tag die Essensausgaben der Kirchen und humanitären Organisationen in Anspruch. Der Staat ist zusammengebrochen. Spitäler schließen, bedürftige Kinder bekommen in den Schulen nicht genug zu essen. Alte Leute begehen Selbstmord, weil sie sich das Leben nicht mehr leisten können. Autoversicherungen werden nicht mehr bezahlt, Krankenhäusern gehen die Medikamente aus, die Patienten müssen sie selbst kaufen, denn das Gesundheits- und Sozialversicherungssystem ist nach dem Schuldenschnitt für griechische Staatsanleihen, die die Pensionsfonds hatten kaufen müssen, kollabiert. Der Renten- und Gesundheitsfonds für uns Journalisten, der selbst verwaltet ist und ganz ohne Geld vom Staat auskommt, steht kurz vor dem Kollaps, weil die griechische Staatsbank die flüssigen Reserven des Fonds dazu genutzt hat, in Staatsanleihen zu investieren, die zu 60% annulliert wurden.


Der Staat kollabiert

Fast 500.000 Beschäftigte im privaten Sektor bekommen laut offizieller Statistiken seit Monaten keinen Lohn mehr. Ich bin einer von ihnen, ich arbeite für Eleftherotypia, eine der größten Tageszeitungen Griechenlands, seit August letzten Jahres beziehe ich kein Gehalt mehr. Wir sind 800 unbezahlte Beschäftigte. Die Banken gewähren keine Kredite mehr, und die Unternehmer wollen ihre Unternehmen nicht aus den riesigen Einnahmen der Vergangenheit oder aus ihrem persönlichen Vermögen finanzieren.

Einer Studie der griechischen Handelskammer zufolge wurden 68.000 Betriebe in den letzten 17 Monaten geschlossen, und voraussichtlich werden weitere 36.000 in den nächsten 12 Monaten schließen. Die Wirtschaft wird in diesem Jahr um weitere 7,8% schrumpfen - das ist mehr als die 6-6,5%, die die meisten Ökonomen für dieses Jahr vorausgesagt haben. Selbst der Tourismus leidet, weil viele Reiseveranstalter angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheit Reisen abgesagt haben.

Solche sozialen Probleme, wie sie dem bereits von Armut gezeichneten Griechenland aufgebürdet werden, hat es im Nachkriegseuropa noch nicht gegeben. Tagtäglich erfährt man von herzzerreißende Vorkommnissen, die die Sparmassnahmen der Troika verursacht haben.

Nirgendwo haben sich die Sparmassnahmen so brutal ausgewirkt wie im Gesundheitssektor. Schon das erste mit der Troika vereinbarte Memorandum hat die Gesundheitsausgaben um 10% gesenkt. Im zweiten Memorandum vom März wurden die Ausgaben für diesen Bereich um eine weitere Milliarde zusammengestrichen. Griechischen Apothekern schuldet die staatliche Gesundheitsversicherung 370 Mio. Euro, einige Medikamente werden rar, die Patienten müssen nun die vollen Kosten für rezeptpflichtige Medikamente tragen, auch bei Herzproblemen oder Krebs.

Bei Krankenversicherungen, die Mitglied der Staatlichen Gesundheitsvorsorge sind (EOPPY), kann man beantragen, dass ein Teil davon erstattet wird, aber die Wahrscheinlichkeit ist gering. EOPPY wurde erst vor kurzem geschaffen, sie ist ein Produkt der von der Troika verlangten Rationalisierungsmaßnahmen. Im April hat die Regierung die Zahlungen an EOPPY eingestellt, obwohl die Apotheken darauf für die Verschreibung von Medikamenten angewiesen sind - die EOPPY ist nicht mehr in der Lage, den Patienten die Kosten für die Medikamente zu erstatten.

Die Auswirkungen auf das öffentliche Gesundheitssystem sind verheerend. Vor wenigen Wochen haben sechs staatliche Krankenhäuser berichtet, dass sie keine Vorräte mehr an Verbandsmaterial, Spritzen und anderen Basisgütern haben. Ihre Lieferanten behaupten, sie hätten schon seit über eineinhalb Jahren kein Geld mehr gesehen.


Zahlungsboykott

Nach offiziellen Angaben müssen steuerzahlende Eigentumsbesitzer in diesem Jahr die zweite Rate Vermögensteuer für das Jahr 2011, die Steuer für 2012 und die erste Rate für 2013 zahlen. Für jemanden, der eine 100-m2-Wohnung in einer durchschnittlichen Gegend Athens besitzt, bedeutet das eine zusätzliche Belastung von 2000 Euro.

Für viele war diese Steuer der letzte Strohhalm, Hunderttausende weigerten sich landesweit, sie zu bezahlen. Im Februar haben laut Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter 1,5 Millionen Stromkunden ihre Rechnungen nicht fristgerecht bezahlt (die Steuer wird mit der Stromrechnung eingezogen), weitere 250.000 waren mehr als 80 Tage im Verzug, nach dieser Frist wird der Strom abgestellt. In mehr als 50.000 Fällen gab die Elektrizitätsgesellschaft den Auftrag, den Strom abzustellen. Doch viele Angestellte der E-Werke weigerten sich, deshalb wurden private Subunternehmer beauftragt. Da keine offiziellen Zahlen veröffentlicht wurden, weiß man nicht, wie vielen Leuten letzten Endes der Strom abgestellt wurde.


Der Erfolg von SYRIZA

Diese unvorstellbare Lage erklärt den Erfolg von SYRIZA. Seit 50 Jahren hat die Linke insgesamt gesehen nicht mehr einen so hohen Stimmenanteil erzielt. SYRIZA hat sehr gut in den traditionellen Arbeitervierteln von Athen und Piräus abgeschnitten, aber auch in den sog. "Mittelklasse"-Vierteln von Athen und anderen großen Städten. Die Wähler hat die Koalition im Altersspektrum zwischen 18 und 50 Jahren.

Das Programm von SYRIZA war eher moderat als radikal, ihr Erfolg war das Resultat einer sich entwickelnden massiven Bewegung für die Abschaffung des Memorandums. SYRIZA selbst hat weder große organisierte Kräfte noch viele "Experten". Ihre Wahlveranstaltungen wurden zu Kundgebungen, bei denen die Leute versuchten, Antworten zu finden, in der Hoffnung auf eine linke Regierung, die zumindest ein wenig die miserablen Lebensumstände verändert.

SYRIZA ist nun die größte Oppositionspartei. Ihr Erfolg hängt von ihrer Fähigkeit ab, die Menschen zu mobilisieren und mit anderen linken Aktivisten zusammen den Widerstand gegen die Troika und die Regierungspolitik zu organisieren und soziale, solidarische Netzwerke sowie eine massive europäische Bewegung gegen die Schulden und die Sparpolitik zu bilden.

Wenn es SYRIZA nicht gelingt, die Hoffnungen der Griechen zu erfüllen, werden sich die Menschen vermutlich nicht anderen linken Parteien zuwenden, sondern den aufstrebenden faschistischen und neonazistischen Parteien wie "Goldene Morgenröte".

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Situation in Griechenland an diejenige in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik erinnert. Um zu verhindern, dass sich die Situation verschlechtert, brauchen wir eine große europäische Solidaritätskampagne. Wir brauchen eine große Kampagne gegen die Schulden und die Sparpolitik in ganz Europa, bevor es zu spät ist. Wir brauchen euch! Wir brauchen die Solidarität der deutschen Arbeiter, der Menschen Europas, um diese katastrophale Politik zu revidieren und den Aufstieg der Neonazis und Faschisten zu verhindern. Wenn nicht jetzt, wann dann?


Moisis Litsis ist Redakteur der Zeitung Eleftherotypia und Mitglied des griechischen Komitees für die Streichung der Schulden, www.contra-xreos.gr.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8, 27.Jg., Juli/August 2012, S. 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2012