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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1533: In den Vereinigten Staaten entsteht eine neue Protestkultur


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Wisconsin, USA
Ein Antigewerkschaftsgesetz mit ungeahnten Folgen
In den Vereinigten Staaten entsteht eine neue Protestkultur

Von Kim Moody


Am 10. März verabschiedeten die Republikaner durch einen Trick ein höchst umstrittenes Gesetz, das nicht nur massiv die Löhne der öffentlichen Bediensteten senkt, sondern vor allem das Recht auf Tarifverhandlungen beschneidet. Der Trick bestand darin, dass die Republikaner das Gesetz zweiteilten und damit die notwendige Mindestzustimmung senkten. Aus dem Text gestrichen wurde nur die höhere Beitragsbelastung für Gesundheit und Rente für Angestellte im öffentlichen Dienst. Bezirksrichterin Maryann Sumi hat die für die Inkrafttretung notwendige Veröffentlichung des Gesetzes jedoch ausgesetzt - sie verlangt seine erneute eingehende Überprüfung.


In den US-Bundesstaaten Minnesota, Ohio, Indiana, Michigan und vor allem Wisconsin haben Angestellte im öffentlichen Dienst sich "krank" gemeldet, demonstriert und ihre jeweiligen Parlamente gestürmt, um sich gegen Gesetze zu wehren, die grundlegende Gewerkschaftsrechte unterminieren.

Die Gesetze wurden von den erst kürzlich gewählten republikanischen Ministerpräsidenten dieser Bundesstaaten entworfen, um die Macht der Gewerkschaften der Angestellten im öffentlichen Dienst zu zerschlagen. Die Angriffe gegen den öffentlichen Dienst, oftmals gegen Lehrer, haben eine lange Tradition und werden von großen Firmen sowie der Demokratischen Partei und den Republikanern unterstützt - angefangen vom Weißen Haus bis zu den einzelnen Bundesstaaten und Lokalregierungen. Die gerade zurückliegende große Rezession bot den Bundesstaaten eine weitere Gelegenheit, die Rechte der öffentlichen Angestellten massiv zu beschneiden.

Die ersten Anzeichen für den Widerstand der Beschäftigten gab es am Montag, dem 14. Februar, als sich rund 400 Gewerkschaftsmitglieder in Minnesota im lokalen Regierungsgebäude versammelten, um gegen das Gesetz zu protestieren: Gewerkschaftliche Rechte wurden darin gefährdet und die Einkommen um 15% gekürzt. Das Gesetz wurde daraufhin zurückgezogen. Später in der Woche, am Freitag, stürmten 5000 öffentliche Bedienstete in Ohio das Kapitol, um ein ähnliches Gesetz zu stoppen. Beschäftigte in Indiana und Michigan folgten. Das Epizentrum der Bewegung war jedoch Wisconsin.


In Wisconsin reißt der Faden

Die Mobilisierung der Beschäftigten in Madison, der Hauptstadt von Wisconsin, begann am 15. Februar, als die drei größten Gewerkschaften des Bundesstaats ihre Mitglieder zu einer Demonstration vor dem Kapitol aufriefen, um gegen ein vom neuen republikanischen Gouverneur Scott Walker vorgeschlagenes Gesetz zu demonstrieren. Walker hatte 2010 die Wahlen mit Hilfe der Tea-Party und mit dem Geld der Brüder Koch gewonnen, zwei Milliardäre, die auch die wichtigsten Geldgeber der Tea-Party-Bewegung sind. Über die landesweit bereits Standard gewordene Streichung von öffentlichen Stellen und Dienstleistungen hinaus schlug Walker vor, die kollektiven Tarifverhandlungen zu begrenzen, die Unternehmerabgaben zu streichen und die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst dazu zu zwingen, jedes Jahr neu um ihre Anerkennung zu ersuchen; und außerdem sollten die Lohnabhängigen höhere Beiträge für ihre Alters- und Gesundheitsversorgung zahlen.

Unter den öffentlich Beschäftigten gärte schon eine Weile der Ärger. In Madison hatten sie schon länger keine Gehaltserhöhung mehr. Am zornigsten sind vermutlich die Lehrer. Im ganzen Land waren sie das Ziel von Erziehungs"reformen", die nicht nur vorgeschriebene Unterrichtsziele und Einheitstests als das Maß aller Dinge einführten, sondern die Lehrer auch zum Sündenbock für die mangelhaften Erziehungserfolge machten.

Am 15. Februar folgten rund 10.000 Demonstranten dem Aufruf ihrer Gewerkschaften, danach wurden es mit jedem Tag mehr, am 19. Februar waren bereits 70.000 auf der Straße. Zwei Wochen lang hielten Arbeiter und Studenten eine Besetzung rund um die Uhr aufrecht. Tausende kampierten rund um den Regierungssitz, das Kapitol, Hunderte verbrachten im Lauf der zweiten Woche ihre Nächte im Kapitol. Obwohl Polizei und Feuerwehr vom Gesetz ausgenommen worden und auch der private Sektor nicht betroffen war, demonstrierten auch Feuerwehrleute, Polizisten (Cops for Labor), Stahl- und Bauarbeiter Tag für Tag. Auch Mitglieder der "Irakveteranen gegen den Krieg" waren mit einem Schild da, auf dem stand: "Ich habe den Irak verlassen und bin nach Ägypten gekommen."

Die Beschäftigten in Wisconsin wurden von verschiedenen Gewerkschaften aus dem Mittleren Westen unterstützt, zuletzt kamen Unterstützer aus dem ganzen Land. Leute aus aller Welt bestellten bei der örtlichen Pizzeria Hunderte Pizzas für die Demonstranten. Zur Kundgebung am Samstag, dem 26. Februar, kamen nach Angaben der Polizei von Madison rund 70.000 Menschen, obwohl es bitter kalt war und schneite, in 50 Bundesstaaten gab es Solidaritätskundgebungen.

Obwohl die Bewegung von der offiziellen Gewerkschaft initiiert und unterstützt wurde, waren viele Proteste, wie ein Reporter es nannte, "spontan". Ein weiterer Reporter bemerkte, die täglichen Demonstrationen, Treffen und Übernachtungen im Kapitol seien von Freiwilligen organisiert. Eine Gruppe von 120 Lehrern aus dem nahen Janesville folgte der Aufforderung ihrer Gewerkschaft, sich krank zu melden und nach Madison zu kommen. Als dieselbe Gewerkschaft sie dann aufforderte, wieder zur Arbeit zu gehen, taten das nicht alle. Tatsächlich war das Wort Streik selten zu hören, "krankgeschrieben" wurde nun in das Protestvokabular aufgenommen.

Die Bewegung war von Beginn an von politischer Natur und hatte eine sehr ungewöhnliche Reaktion der demokratischen Senatoren zur Folge. Am Donnerstag, bevor die Republikaner den 500seitigen Gesetzesvorschlag von Gouverneur Walker im Senat zur Debatte bringen konnten, verließen alle 14 Demokraten das Kapitol und den Staat Wisconsin. Bemühungen des Gouverneurs, sie von der Polizei verfolgen zu lassen, führten zu nichts, die Senatoren waren alle ins benachbarte Illinois geflohen. Dies raubte den Republikanern das notwendige Quorum, um das Gesetz zu verabschieden. Zudem machte es Helden aus einer Gruppe von Politikern, die nur selten riskante Handlungen unternehmen. Eine Woche später taten Demokraten in Indiana dasselbe.

In Wisconsin war einer der ersten Demokraten, die den Senat verließen, von militanten Demonstranten vor seinem Büro ermutigt worden sich abzusetzen. Die Senatoren schworen, nicht zurückzukehren, bis der Gouverneur sich willens zeige, über die antigewerkschaftlichen Passagen des Gesetzes zu verhandeln. Im Unterhaus des Parlaments hingegen ertappten die Republikaner die Demokraten, während sie schliefen, und peitschten das Gesetz um 1 Uhr morgens (25. Februar) durch - für die Demokraten ein illegaler Akt. Um rechtskräftig zu werden, muss das Gesetz noch den Senat passieren.

Während viele Bundesstaaten tatsächlich Haushaltsprobleme haben, wurden die Probleme Wisconsins von Gouverneur Walker selbst verursacht, weil er die Unternehmensteuern senkte, Staatsanleihen zu Sonderzinssätzen anbot und einen Überschuss von 121 Mio. Dollar in ein Defizit von 137 Mio. verwandelte. Zwei Drittel der Firmen in Wisconsin zahlen überhaupt keine Steuern, erklärt die Gewerkschaft der Krankenschwestern. Haushaltskrise des Bundesstaats Ohio wurde auf ähnliche Weise vom neuen republikanischen Governeur verursacht.

Die politische Rechte versuchte, auf der Seite des Governeurs in diesem Klassenkampf zu intervenieren, aber die Gegendemonstrationen der Tea-Party-Bewegung wurden von der massenhaften Mobilisierung der Beschäftigten vollkommen in den Schatten gestellt. Laut Meinungsumfragen waren 60% der Bevölkerung gegen Walkers gewerkschaftsfeindliches Gesetz, sie hielten es für zu extrem; eine große Umfrage ergab zuletzt, dass 58% dezidiert auf der Seite der Gewerkschaft stehen.

Bis zur Niederschrift dieses Artikels wurde die Mobilisierung offiziell von den Gewerkschaften im öffentlichen Dienst der jeweiligen Bundesstaaten unterstützt, doch schon in den ersten Wochen zögerten sie. So sagte die Wisconsin Education Association den "Krankschreibe"-Tag ab, den sie selbst ausgerufen hatten. Die Vertreter der drei wichtigsten Gewerkschaften im Bundesstaat verkündeten außerdem, sie würden die Einschnitte bei Jobs und Entlohnung, die das neue Gesetz vorsieht, akzeptieren, wenn der Gouverneur bereit wäre, die Teile des Gesetzes zurückzuziehen, die die kollektiven Tarifverhandlungsrechte unterminieren. Sie sahen in dem Gesetz natürlich einen Angriff auf die institutionelle Basis der Gewerkschaft, und natürlich hatten die Gewerkschaften großes Interesse, diese Basis zu verteidigen. Bislang haben sie nicht versucht, die Mobilisierung abzublasen.

Am 22. Februar verabschiedeten die Delegierten der South Central Federation of Labor mit Sitz in Madison, die 45.000 Arbeiter aus 97 Branchen vertritt, eine Resolution, in der die verbündeten Gewerkschaften aufgerufen werden, ihre Mitglieder auf die "Organisation und Zielsetzung" eines Generalstreiks vorzubereiten, sollte das Gesetz verabschiedet werden. Unabhängig davon, ob dieser Streik stattfinden wird und was die Zukunft bringt, haben die massiven Proteste in Wisconsin neue Vorstellungen über Klassenpolitik und Klassenmacht auf die Tagesordnung der Gewerkschaften gesetzt.

Kim Moody ist US-Amerikaner, Dozent und aktiver Vertreter des Social Movement Unionism.


VERDI SOLIDARISIERT SICH

Der Vorsitzende von Ver.di, Frank Bsirske, schrieb einen Protestbrief an den Gouverneur von Wisconsin, Scott Walker. Darin kritisierte er das geplante Gesetz gegen Verwaltungsangestellte, Erzieherinnen und Krankenschwestern als einen Anschlag auf tragende Säulen der Demokratie, zu deren Grundrechten die Koalitionsfreiheit gehöre. Er fordert Gouverneur Walker auf, unverzüglich das Gesetz fallen zu lassen und die entsprechenden ILO-Konventionen einzuhalten.

Am 12. März fand um 15 Uhr am Brandenburger Tor in Verbindung mit einer weltweiten Aktion ein Solidaritätstreffen statt, das die AVA (American Voices Abroad) organisierten.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 26.Jg., April 2011, S. 18
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2011