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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1507: Europa und die Demokratie


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 2 - Februar 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Europa und die Demokratie
Doppelte Standards
Tunesien, Ungarn, Flüchtlinge: Die EU steht autoritären Regimen bei und verletzt Menschenrechte

Von Andrej Hunko


Die Europäische Union präsentiert sich gern als der Hort der Menschenrechte in der Welt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber wirft ihr Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Flüchtlingen vor; der französische Staatspräsident hat dem tunesischen Diktator Ben Ali noch wenige Tage vor seinem Sturz militärische Unterstützung angeboten, und Vertreter der CDU verbitten sich allzu harsche Kritik gegenüber der extrem rechten Regierung in Ungarn.


Ungarn stellt im ersten Halbjahr 2011 die rotierende Ratspräsidentschaft der Europäischen Union. Kurz vor Weihnachten kündigte die rechtsextreme ungarische FIDESZ-Regierung, die mit Zwei-Drittel-Mehrheit regiert, ein neues Maulkorbgesetz gegen kritische Medien und Journalisten an. Wes Geistes Kind diese Regierung ist, wurde z.B. in der symbolischen Provokation deutlich, dass diese Regierung in Brüssel einen Teppich ausrollte, der Ungarn in den Grenzen von 1848 darstellt.

Eine konsequente und deutliche Reaktion der EU wäre notwendig und wünschenswert, sie bleibt aber wegen ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Volkspartei (EVP) - FIDESZ stellt den stellvertretenden Vorsitzenden der EVP, dem Zusammenschluss der christdemokratischen Parteien in der EU - halbherzig. Und sie bleibt unglaubwürdig, ist doch die Pressefreiheit auch in vielen anderen EU-Staaten zumindest als prekär zu bezeichnen. Mit gewissem Recht argumentiert die ungarische Regierung, alle Bestimmungen des neuen Mediengesetzes fänden sich auch in Gesetzen anderer EU-Mitgliedstaaten. Allerdings führt die Konzentration dieser Gesetze in Ungarn durchaus zu einer neuen Qualität.

Die prekäre Situation von Journalisten in Europa kam auch in einer Debatte der Parlamentarischen Versammlung des Europarats am 25. Januar zur Sprache, in der eine Resolution zum Schutz journalistischer Quellen behandelt wurde. In der Begründung des einstimmig angenommenen Berichtes sind eine Reihe schwerer Verstöße gerade auch von EU-Kernländern gegen diesen Teil journalistischer Freiheiten aufgeführt. Die nachgewiesene jahrelange Ausspionierung von Journalisten in Deutschland durch den BND wird ebenso erwähnt wie die Durchsuchung des Büros und der Privatwohnung von Stern-Redakteur Hans-Martin Tillack durch die belgische Polizei, die Telefonüberwachungen der niederländischen Journalisten Bart Most und Joost de Haas oder die Durchsuchungen der Büros der italienischen Journalisten Massimo Martinelli und Fiorenza Sarzanini.


Journalistischer Niedergang

In einer eindringlichen Rede an die Versammlung konstatierte der Präsident der Europäischen Föderation der Journalisten, Arne König, einen gesamteuropäischen Niedergang der journalistischen Funktion, aufklärerischer "Wachhund" zu sein. Neue technlogische Überwachungsmöglichkeiten wie die Vorratsdatenspeicherung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Medienkonzentration und Sensationslust nannte König als Eckpfeiler dieses Niedergangs.

Entsprechend forderte die Versammlung die europäischen Regierungen auf, Quellenschutz auch bei der journalistischen Aufdeckung von Vorgängen innerhalb der Justiz oder der Polizei zu gewährleisten, Whistleblower und offene Internetnetzwerke zu schützen, sowie die Überwachungsmöglichkeiten von Journalisten etwa durch die Vorratsdatenspeicherung zu unterlassen.

Angesichts dieses innereuropäischen Befundes fällt es schwer, von der EU als einheitlichem Block eine wünschenswerte und entschiedene Reaktion auf die zweifellos besonders bedrohliche Entwicklung in Ungarn zu erwarten. Eine einheitliche Europäische Union, die sich bedingungslos Menschen- und Freiheitsrechten verpflichtet sieht, existiert ohnehin nur in der Projektion von EU-Fantasten. Vielmehr ist die EU ein Tummelplatz unterschiedlicher Interessen, die durch die grundlagenvertragliche Software derzeit in Richtung neoliberaler und militaristischer Entwicklung - und damit tendenziell eben auch in Richtung Abbau demokratischer Standards - formiert werden. Man darf gespannt sein, ob die von der Wettbewerbskommissarin (sic!) angekündigten Sanktionen wirklich eintreten werden. Wahrscheinlicher ist, dass die ungarische Regierung minimale Veränderungen vornimmt und man sich mit der Situation abfindet.

Auch gegenüber der tunesischen Revolution tut sich die EU schwer. Zu viele Kräfte innerhalb der EU waren auf die eine oder andere Weise mit dem repressiven Ben-Ali-Regime verbunden oder haben dieses schöngeredet. Sei es die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, die dem Diktator noch kurz vor seinem Sturz Hilfe bei der Niederschlagung anbot, sei es die europäische Sozialdemokratie, die erst nach dem Sturz Ben Alis ihn und seine Partei RCD aus der sozialdemokratischen Internationale ausschloss, oder seien es die vielfältigen Lobpreisungen der "Stabilität" Tunesiens durch verschiedene EU-Organe. Es bleibt zu hoffen, dass die tunesische Demokratiebewegung die EU-"Hilfs"angebote einer entsprechend kritischen Würdigung unterzieht.


Der Umgang mit Flüchtlingen

Auch in einem anderen Fall werden die doppelten Standards der EU deutlich: In einem spektakulären Urteil bescheinigte der (dem Europarat zugeordnete) Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der praktizierten EU-Flüchtlingspolitik de facto "erniedrigenden und unmenschlichen" Charakter. Insbesondere die Dublin-II-Verordnung, der zufolge Flüchtlinge in das Land innerhalb der EU abgeschoben werden können, in das sie eingereist waren, steht nun auf dem Prüfstand. Im konkreten Fall ging es um einen aus Belgien nach Griechenland abgeschobenen afghanischen Flüchtling, der schließlich in den überfüllten Lagern von der griechischen Polizei misshandelt wurde. Einmal mehr platzt die Selbstillusion der EU als Hüterin der weltweiten Menschenrechte.

In einer Mitteilung der Europäischen Kommission vom April 2010 heißt es: "Geplant ist eine Strategie der inneren Sicherheit auf der Grundlage der uneingeschränkten Achtung der Grundrechte und der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, die mit Umsicht und der festen Entschlossenheit, sich den zunehmenden grenzüberschreitenden Herausforderungen zu stellen, umgesetzt werden soll. Die Strategie umfasst ein koordiniertes Konzept für polizeiliche Zusammenarbeit, Grenzmanagement, die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und Zivilschutz. Wir müssen uns für sämtliche Sicherheitsbedrohungen, von Terrorismus und organisierter Kriminalität bis hin zu vom Menschen verursachten Katastrophen und Naturkatastrophen, wappnen. Um auf diese Bedrohungen effizient reagieren zu können, bedarf es angesichts der zunehmenden Nutzung neuer Technologien ergänzender Maßnahmen, die die Sicherheitsvorsorge und die Ausfallsicherheit der europäischen Netze und IKT-Infrastruktur gewährleisten." Was hier mit Solidarität gemeint ist, ist die "Solidarität" der Mitgliedstaaten bei der gemeinsamen Flüchtlingsabwehr.

Unter den Bedingungen der Krise blättert der Lack des menschenrechtlichen Selbstverständnisses der EU. Man muss sich auch fragen, warum so hartnäckig an den umstrittenen Passagen des Lissabonvertrages, wie der Aufrüstungsverpflichtung oder der neoliberalen Fixierung, festgehalten wurde. Es ist zu befürchten, dass in der nächsten Zeit dieser nackte kapitalistische Interessencharakter der EU stärker zum Ausdruck kommt. Die deutsche Bundesregierung spielt hier eine treibende Rolle - auch auf Kosten der bis dato immer wie eine Monstranz vor sich hergetragenen "europäischen Integration".

Für Linke und soziale Bewegungen wird es notwendig sein, sich auf Abwehrkämpfe gegen die unsozialen Kürzungspakete, gegen die innere Aufrüstung und Großmannssucht der EU vorzubereiten. Ebenso notwendig wird die Entwicklung eines Gegenentwurfs zu dieser EU sein, eine Neugründung der Europäischen Union auf sozialer, friedlicher, demokratischer und ökologischer Grundlage. Dazu bedarf es dann auch einer Komplettrevision der Grundlagenverträge.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 2, 26.Jg., Februar 2011, S. 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2011