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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1402: Deutsches Schulsystem verstößt gegen UN-Konvention


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5 - Mai 2010
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Gemeinsam lernen in einer Schule für alle
Deutsches Schulsystem verstößt gegen UN-Konvention

Von Larissa Peiffer-Rüssmann


Wer gemeinsam lernt, lernt besser. Diese Erkenntnis bestätigte der Kongress "Eine Schule für alle".


Im März 2010 fand in Köln ein dreitägiger Kongress statt unter dem Titel "Eine Schule für Alle. Vielfalt leben!", veranstaltet vom Elternverein Mittendrin e.V. in Kooperation mit der Uni Köln. Referenten aus ganz Deutschland und dem Ausland und mehr als 2500 Teilnehmer waren angereist, um sich der Aufgabe zu stellen, wie in Deutschland ein "inklusives" Bildungssystem aufgebaut werden kann, in dem alle Kinder ganz selbstverständlich gemeinsam lernen und kein Kind aussortiert wird. Während in anderen Ländern das gemeinsame Lernen eine Selbstverständlichkeit ist, wird in unserem gegliederten Schulsystem eine angeblich leistungs- und begabungsgerechte Sortierung betrieben.

Gleich zu Beginn des Kongresses erinnerte Venor Múñoz als Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Bildung daran, dass Deutschland zwar die UN-Konvention zur Verwirklichung des Menschenrechts auf gemeinsames Lernen anerkennt, aber nicht danach handelt, obwohl die UNO-Behindertenrechtskonvention (Art. 24) das Verbot der Sonderschulpflicht enthält. Er referierte auf Spanisch, benutzte aber das Wort "Hauptschule", weil es für diese deutsche Besonderheit keine Übersetzung gibt.

Er betonte, dass Bildung sich nicht zum Wettbewerb eignet, nicht einem Markt zu dienen hat, alle einbezogen werden müssen und schulischer Erfolg nicht auf dem Misserfolg der anderen beruhen darf. Auf die Frage, was sich, denn in Deutschland ändern müsse, antwortete er: "Alles."

Doch ohne harte gesellschaftliche Auseinandersetzungen wird es eine gemeinsame Erziehung nicht geben, das betonte Professor Wocken von der Uni Bremen. Er erinnerte an die beispiellose und leider erfolgreiche Kampagne Hamburger Eltern gegen die Schulpolitik unter Schwarz-Grün. Dabei ging es noch nicht einmal um eine gemeinsame Schule für alle Kinder, sondern "nur" um zwei Jahre längeres gemeinsam Lernen in einer sechsjährigen Grundschule. Die Gegner der inklusiven Schule lassen sich auf einen Nenner bringen: Sie sind für das Gymnasium und für Sonderschulen.

Neben den neoliberal und exklusiv denkenden Hamburger Eltern zählt auch die "Betreuungsliga" zu den Gegnern einer gemeinsamen Erziehung. Zu ihnen gehören vor allem die katholische Kirche, die selber keine einzige integrative Einrichtung hat, die Caritas, die Behindertenverbände und nicht zuletzt der Verband deutscher Sonderschulen. Sie alle begrüßen zwar die UN-Konvention - aber sie handeln nicht danach. Sie hängen mit ihren Einrichtungen am staatlichen Tropf, und das soll so bleiben.


Sonderschule am Rande der Gesellschaft

Irmtraud Schnell, Uni Frankfurt, rief in Erinnerung, dass das Sonderschulwesen mit dem Ziel aufgebaut wurde, Kinder mit Behinderungen besser zu fördern. Dieses Ziel wurde gründlich verfehlt, denn 80% der Sonderschüler verlassen die Schule ohne Abschluss.

Die Förderschulen (Sonderschulen für Lernbehinderte und Erziehungsschwierige) sind wie ein Notaufnahmelager für Migrantenkinder, Kinder von Kinderreichen, Kinder von Armen und Arbeitslosen - eben eine Schule des Prekariats. Das wird in der Erklärung zum Kongress "Eine Schule für alle" deutlich:

"Das gegliederte Schulsystem verstärkt nicht nur die soziale Ungleichheit, es führt auch zum sozialen Ausschluss von Menschen. Die Hauptschule bereitet Kinder heute auf ein Leben am Rande der Gesellschaft vor, sowie es die Sonderschule schon immer tat. Hauptschulen künstlich am Leben zu erhalten, ist nicht nur verantwortungslos gegenüber den Kindern, sondern auch besonders teuer. Das gilt erst recht für die Sonderschulen. Trotz hoher finanzieller Aufwendungen sind die Lernerfolge aufgrund der extremen Anregungsarmut dort auffällig gering."

Hinzugefügt werden muss noch: Obwohl das Gymnasium eine gründlich ausgewählte Schülerschaft hat, sind seine Ergebnisse doch nur Mittelmaß, wie wir seit PISA wissen.

Zu Recht prangert Professor Wocken an, dass bei uns immer noch Kinder in "Schubladen sortiert" werden: Zigeuner, Blinde, Gehörlose, Autisten, Legastheniker, geistig Behinderte, Migranten, Körperbehinderte, Verhaltensgestörte, Lernbehinderte. Da die Kinder bei uns auf so viele verschiedene Institutionen aufgeteilt werden, übernimmt keine Institution und keiner der Akteure die Verantwortung für das Scheitern von insgesamt 20% aller Schüler, die die Schule ohne irgendeinen Abschluss verlassen.

Da mutet das Praxisbeispiel aus Südtirol wie ein Bericht aus einer anderen Welt an, denn in Italien gibt es die gemeinsame Erziehung seit über 30 Jahren. Es gibt keine Sondereinrichtung, alle Kinder besuchen eine gemeinsame Schule bis zur 8. Klasse. Es gibt keine Zurückstellungen, der Kindergarten beginnt mit zweieinhalb Jahren und ist nicht verpflichtend. Das Recht auf individuelle Lernwege ist gesetzlich verankert, ebenso auf Individualisierungsmaßnahmen. Dafür besteht in den Grundschulen ein Mehrlehrersystem und zusätzliches Betreuungspersonal.

Der Bildungsweg nach der 8. Klasse kann frei gewählt werden, es gibt keine Vorselektion. Eine Empfehlung der Schule für den weiteren Bildungsweg ist nicht verbindlich, anders als in der BRD, wo die "Empfehlung" der Grundschullehrerin bindend ist und, wie die Berichterstatterin Rosa Ferdigg aus Südtirol es nennt, eine "Pflichteinweisung" in die empfohlene Schulform darstellt.

Während außerhalb Deutschlands längeres gemeinsames Lernen eine Selbstverständlichkeit ist, leben bei uns die Schülerinnen und Schüler der verschiedenen Schulformen in getrennten Welten. Mittlerweile wird es allerdings nicht nur im ländlichen Raum aufgrund sinkender Schülerzahlen und veränderten Schulwahlverhaltens immer schwieriger, ein dreigliedriges Schulsystem aufrecht zu erhalten. Modelle der Zweigliedrigkeit werden durch Zusammenlegung von Haupt-, Real- und Gesamtschule bei gleichzeitigem Erhalt des Gymnasiums als politische Lösung angeboten. Das aber wird mit Recht als falsches politisches Signal zugunsten gymnasialer Sonderinteressen angesehen.

Wir sind eine multikulturelle Gesellschaft und das muss sich auch in unserem Schulsystem widerspiegeln. Eine gleiche Behandlung unterschiedlicher Kinder ist ungerecht. Ein inklusives Bildungssystem geht von der Verschiedenheit der Kinder aus und unterstützt sie darin, Verantwortung für sich, für andere und für das eigene Lernen zu übernehmen - ohne Konkurrenz, ohne Noten und ohne Angst vor Misserfolgen.

Doch eines dürfte den Teilnehmern am Ende des Kongresses klar geworden sein: "Eine Schule für alle" wird es ohne Kampf nicht geben.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5, 25. Jg., Mai 2010, Seite 10
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2010