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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1344: Gespräch mit DDR-Oppositionellen, die nicht im Kapitalismus landen wollten - Teil II


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11 - November 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Wir sind von einem Ausbeutungssystem in ein anderes geraten"
Gespräch mit DDR-Oppositionellen, die nicht im Kapitalismus landen wollten - Teil II


Die Redaktionen von express und SoZ haben einen gemeinsamen Fragekatalog erarbeitet, der von sieben ehemaligen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern aus dem Umkreis der Vereinigten Linken, des Neuen Forums und der Initiative Unabhängiger Gewerkschafter beantwortet wurde. Die Antworten auf die ersten beiden Fragen zum Thema: "Der Anspruch der DDR und wie die Menschen zu ihr standen", wurden in SoZ 10/09 veröffentlicht[*].
In dieser Ausgabe geht es um die Wende selbst, ihre Gründe und wie sie erfahren wurde.


Die Reformpolitik in Moskau kehrte die gesamte Ordnung im Ostblock um

Was waren die Gründe für den Zusammenbruch der DDR? War sie ökonomisch am Ende, oder war sie politisch und/oder moralisch delegitimiert? Stimmt der Satz aus dem express, Nr.4, 1990: "Die 'konkrete Utopie' der meisten DDR-Bürger ist die BRD"?


Bernd Gehrke:
Politisch und moralisch war das SED-Regime bei der Mehrheit von Anfang an delegitimiert, nicht wegen der Versprechungen des Sozialismus, der Nazi-Enteignungen oder der Bildungsreform in den 4Oer Jahren, sondern weil das Ulbricht-Regime ein bedingungsloser Gehilfe der stalinistischen Besatzungsmacht war und eine antisozialistische Politik verfolgte. Besonders die ersten Jahre waren von Terrorpolitik geprägt. Sozialdemokraten, Sozialisten, oppositionelle Kommunisten und andere Antifaschisten wurden verhaftet.

1952 begann die Terrorpolitik des "planmäßigen Aufbaus des Sozialismus", die im Arbeiteraufstand 1953 mündete. Nachdem alle Demokratisierungsversuche in der DDR und im Ostblock immer wieder spätestens an den sowjetischen Panzern scheiterten und politische Instabilität erzeugten, arrangierten sich schließlich Herrschende und Beherrschte - bis das System wirtschaftlich, kulturell und politisch am Ende war. Untergegangen ist ja nicht nur die DDR, sondern das sowjetische Imperium. Die DDR selbst drohte ein Drittweltland zu werden. Sie steckte in der Schuldenfalle, Städte und Fabriken verfielen in dramatischer Weise, der Sowjetunion ging es ebenso. Zudem gab das Zentrum des Imperiums keine Existenzgarantie mehr für die Vasallenregime. Die "Reformpolitik" in Moskau kehrte die gesamte politische und ideologische Ordnung im Ostblock völlig um.

Sebastian Gerhardt:
Der Satz aus dem express stimmt nicht, da er eine Momentaufnahme für das Ganze nimmt: Erst in dem Maße, in dem im Herbst '89 die Ohnmacht der DDR und die Macht des Westens hervortrat, verschob sich die eigene Perspektive von der Suche nach einem sozialistischen Ausweg zu einem "Rette sich, wer kann". Die Pro- und Contra-Reaktionen auf den Aufruf Für unser Land markierten den Umschwung Ende November/Anfang Dezember 1989. Der Aufruf wurde damals von über einer Million DDR-Bürgern unterzeichnet - aber eine irgendwie mobilisierende Wirkung ging von ihm nicht aus, schon die Erstunterzeichner waren sich über die praktischen Konsequenzen nicht einig gewesen. Aber auch später ging die Option für den Westen bei den meisten Leuten mit vielen Bedenken, Befürchtungen und einer ungeheuren Resignation einher: Wenn es schon nicht anders geht - wenigstens haben die im Westen eine effektive Wirtschaft, einen Rechtsstaat etc.

Die DDR war nicht deshalb am Ende, weil man Schulden von 20 Milliarden DM aufgehäuft hatte. Sondern deshalb, weil man diese Schulden beim weltpolitischen Gegner aufgenommen hatte, dem der Ostblock nur unter Hintanstellung des individuellen Konsums seiner Bürger Paroli bieten konnte. Die seinerzeitige DDR-Führung war sich denn auch sicher, dass es sich bei der Anlehnung an die BRD um ein ökonomisch alternativloses Programm gehandelt hat. Noch vor der Öffnung der Mauer hatte sie ihre verzweifelte Situation offenbart. Die Auslandsverschuldung betrug 1989 etwa 13-14 Milliarden US-Dollar. Eine Aufnahme neuer Kredite in Höhe von 10-15 Milliarden DM lehnte Bundeskanzler Kohl am 8. November im Deutschen Bundestag ab, "umfassende Hilfe" wollte er nur geben, wenn "eine grundlegende Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR verbindlich festgelegt wird".

Renate Hürtgen:
Eine Antwort auf diese beiden Fragen käme einer historischen Analyse eines Großereignisses gleich. Daher nur drei Stichworte: 1. Ja, eine Revolution, wenn ich darunter die rasche - nicht evolutionäre - Beseitigung eines bestimmten politischen und ökonomischen Herrschaftstyps verstehe. 2. Die DDR war vor allem "am Ende", weil die Sowjetunion ihren Machtbereich aufgegeben hat; hätte sie 1953 nicht eingegriffen, wäre das stalinistische DDR-Regime bereits zu dieser Zeit verschwunden. 3. Jedenfalls war die konkrete Utopie der DDR-Bürger nicht die Sowjetunion!

Thomas Klein:
Die DDR ist 1989/90 nicht zusammengebrochen, das politische System der SED-Politbürokratie wurde durch eine demokratische Revolution gestürzt. Die DDR war 1989 ökonomisch nicht am Ende, sondern im selbst ausgerufenen Systemwettbewerb zu kapitalistischen Bedingungen auf der Verliererstraße. Die SED war natürlich politisch-moralisch delegitimiert, aber nicht erst 1989. In diesem Jahr kulminierten eine Reihe von (innen- und außen)politischen Faktoren, durch die der Legitimationsverlust zur Revolution wurde.

Der Satz aus dem express kann als Auswertung der Volkskammerwahlen 1990 durchgehen, ist aber für den Herbst 1989 eher zweifelhaft.

Silvia Müller:
Im Sommer 1989 steckte die DDR vor allem in einer tiefen politisch-moralischen Krise. Die staatliche Verlogenheit stand in krassem Gegensatz zur verheerenden Realität, die sich im Verfall des Landes, der Städte, Betriebe und der Umgangsformen unzufriedener Menschen zeigte. Desolate Zustände, Stagnation im Land und das Gefühl von Vergeblichkeit, Ohnmacht und des ewigen Eingesperrtseins hinter der Mauer führten sowohl zur Ausreisewelle im Sommer 1989 wie zu den Massendemonstrationen und neuen politischen Gruppenbildungen. Zugleich hatte die DDR auf internationalen Märkten bereits ihre Kreditwürdigkeit verloren und war pleite.

Wer kann schon für die "meisten DDR-Bürger" sprechen und noch dazu über deren "konkrete Utopie"? Für die meisten DDR-Oppositionellen galt jedenfalls über die Jahre "Bleib daheim und wehr dich täglich", denn in der kapitalistischen BRD und einem individuellen Erfolgsanspruch sahen wir keine Alternative zur Veränderung des eigenen Landes.

Ein Brief vom 1. Oktober 1989 belegt diese Einstellung auch für andere DDR-Bürger: "Wir engagieren uns im Neuen Forum, weil wir uns Sorgen um die DDR machen. Wir wollen hier bleiben und arbeiten... Für uns ist die Wiedervereinigung kein Thema, da wir von der Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgehen und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben. Wir wollen Veränderungen in der DDR." Auch der von DDR-Schriftstellern initiierte Aufruf Für unser Land löste im November 1989 bei über einer Million DDR-Bürgerinnen und -Bürgern breite Zustimmung und ein Nachdenken über eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik aus.

Gerd Szepansky:
Die Gründe für den Zusammenbruch der DDR dürften sowohl ökonomische als auch politisch-moralische gewesen sein. Außerdem waren die Rahmenbedingungen wohl ganz günstig (Ungarn, Gorbatschow etc.). Den Satz aus dem express kann ich unterstreichen, und meine Enttäuschung darüber spüre ich heute noch.

Klaus Wolfram:
Für die mehr oder weniger Unpolitischen trifft der express-Satz zu, für die andere Hälfte der Bevölkerung nicht.


Der Opposition fehlte die politische Kraft

War der Umbruch von 1989 eine Revolution?


Bernd Gehrcke:
Falls man den "Umbruch 1989" als Ganzes im Sinne des Untergangs des sowjetischen Imperiums sieht, dann sollte man vom Charakter dieses Umbruchs sprechen. Klar ist aus meiner Sicht, dass wir aus einem antagonistischen Ausbeutungssystem in ein anderes gelandet sind. Ob das für die einzelnen Länder ein Fortschritt oder Rückschritt war, lässt sich nicht global beantworten. Das Entwicklungsniveau und die politischen Prozesse waren sehr unterschiedlich.

Der Sturz des Honecker-Regimes hatte für mich die Form einer Revolution und den Charakter einer demokratischen Volksbewegung, die Arbeiter und Intelligenzia vereinte. Das Regime "brach" nicht von selbst "zusammen", "die Straße" führte diesen Zusammenbruch herbei - ganz nach dem revolutionären Verständnis Lenins, dass die unten nicht mehr beherrscht werden wollten wie bisher, und die oben nicht mehr herrschen konnten wie bisher. Diese Revolution machte die DDR ein Jahr lang zum freiesten Land der Welt. Wir hatten nicht nur Rede-, Koalitions- und Versammlungsfreiheit, sondern auch wirklich freie Medien und ein Wahlgesetz ohne 5%-Klausel; Bürgerinitiativen konnten sich zur Wahl stellen; wir hatten keinen Paragraphen 218 und keinen Geheimdienst. Mit dem "Beitritt" wurden wir wieder auf das bundesrepublikanische Demokratiemaß zurückgeschraubt. Es bestand die reale Alternative zwischen einer rot-grünen Bürgerdemokratie und einer gleichberechtigten Vereinigung beider deutscher Staaten einerseits, und der dann realisierten Unterwerfung Ostdeutschlands mit dem Sieg des Neoliberalismus im Gefolge andererseits. Die Erinnerung an diese Alternative soll völlig ausgelöscht werden.

Der Opposition fehlte die politische Kraft zur Umsetzung der Bewegung des Herbstes in Macht, und die westdeutschen Parteien mischten sich massiv in die politischen Auseinandersetzungen auf der Straße ein. Kohls CDU verbreitete das Plakat "Wir sind ein Volk", die SDP wurde zum Vorreiter in Sachen Import westdeutscher Politiker und Wohlstandsversprechen (Währungsunion!). Zugleich versuchte die SED-PDS seit Anfang 1990 eine Offensive, womit sie allerdings das Gegenteil bewirkte - eine Gegenrevolution von unten, getragen von den ostdeutschen Arbeitern, die die deutsche Einheit nicht im politischen Bündnis mit der westdeutschen Arbeiterklasse, sondern mit der westdeutschen Bourgeoisie verwirklichten. Dieses politisch entscheidende Bündnis zerbrach erst mit der Deindustrialisierung Ostdeutschlands 1993.

Sebastian Gerhardt:
Nein, es war keine Revolution. Drei zentrale Ergebnisse dieses Umbruchs, die bis heute die Weltpolitik bestimmen, machen das deutlich:

a) 1989/90 entschied sich, dass es keinen emanzipatorischen Aufbruch in den Ländern des Ostblocks geben würde. Nicht die Streikbewegungen gestalteten das Ende der Gorbatschow'schen Perestroika, sondern die Politbürokratie machte sich auf den Weg der Privatisierung. Und der nationalistische Aufbruch bildete den Rahmen, in der die Unterordnung unter den Weltmarkt als Befreiung gefeiert werden konnte.

b) Mit dem Ostblock brach für relevante Teile von Befreiungsbewegungen im Trikont der weltpolitische Bündnispartner weg.

c) Schließlich hat der Rückzug der Sowjetunion von der weltpolitischen Bühne den USA und ihren Verbündeten Räume eröffnet, deren Umgestaltung die Weltpolitik bis heute prägt: ohne die Kapitulation der UdSSR kein erster Irakkrieg 1991 und keine Talibanisierung Afghanistans.

Silvia Müller:
Die revolutionierende Wirkung der Demonstrationen im Herbst 1989 war, dass die Alleinherrschaft der Politbürokratie der SED beendet und staatsbürgerliche Rechte errungen wurden. Das System, in dem freie und öffentliche Kritik an der Staatspolitik über Jahre mit repressiven Mitteln unterdrückt worden war, erwies sich angesichts der erklärten und weitgehend praktizierten Gewaltlosigkeit bei den Protesten auf der Straße und unter den Rufen "Wir sind das Volk" als immer weniger handlungsfähig.


ZUR PERSON

Bernd Gehrke
Jg. 1950, Politökonom, aufgewachsen in Ostberlin, Linksoppositioneller seit den 70er Jahren. 1989 arbeitete er als Ökonom im Möbelkombinat Berlin, war Mitbegründer der Vereinigten Linken sowie der Grünen Liga. Heute ist er als Zeithistoriker und in der politischen Bildung tätig.

Sebastian Gerhardt
Jg. 1968, Wehrdienst bis Januar 1990, dann Krankenträger im Kreiskrankenhaus Neustrelitz. Studium der Philosophie und Mathematik. Herbst '89: VL. Verdient heute sein Geld mit Ausstellungsführungen in der "Topographie des Terrors" und im "Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst"; Mitglied des Vorstands vom "Haus der Demokratie".

Renate Hürtgen
Jg. 1947, Ostberlin, Kulturwissenschaftlerin, heute als Zeithistorikerin tätig, Themen: Arbeiter und Angestellte in der DDR, Gewerkschaften, betriebliche Wende. Seit 1987 in der Opposition, gründete 1989 die Initiative für eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung, seitdem in der betrieblichen und sozialen Bewegung aktiv.

Thomas Klein
Jg. 1948, Berlin/ DDR, Mathematiker. Linke Opposition seit Ende der 60er Jahre, tätig in den 70er Jahren an der Humboldt-Uni Berlin und im Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR. In den 80er Jahren (während des Berufsverbots nach politischer Haft) als Preisbearbeiter im Möbelkombinat Berlin beschäftigt. 1989 Mitbegründer der Vereinigten Linken, heute tätig als Zeithistoriker.

Silvia Müller
Geb. Teutloff, Jg. 1953, Ostberlin. Vater Polizist, Mutter Sachbearbeiterin. Studium der Kulturwissenschaft an der HU Berlin, Redaktionsarbeit im Verlag Junge Welt, dann verschiedene andere Tätigkeiten; 1981 erste Kontakte zur polnischen Gewerkschaft Solidarnosc; ab Sommer 1981 aktiv in der Friedensbewegung; 1984 Disziplinarmaßnahmen, die auf Berufsverbot hinausliefen; 1986 Mitbegründerin der Menschenrechtsgruppe Gegenstimmen; Kontakte zu oppositionellen rumäniendeutschen Schriftstellern, bis März 1990 VL- Vertreterin am Zentralen Runden Tisch; seit 1994 verschiedene Honorartätigkeiten, u. a. für die Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Gerd Szepansky
Jg. 1950, Dreher, aufgewachsen in Karl-Marx-Stadt. 1989 als Dreher in einem Rationalisierungsmittelbau tätig, Mitglied des Bezirkssprecherrats des Neuen Forum. Derzeit Ver.di-Gewerkschaftssekretär in der Freistellungsphase der Altersteilzeit.

Klaus Wolfram
Jg. 1950. Studium der Philosophie und Ökonomie in Ost-Berlin; Gründung einer oppositionellen Gruppe in den 70er Jahren; Arbeit am Institut für Internationale Politik und Wirtschaft bis zur Auflösung seiner oppositionellen Gruppe durch das MfS. Danach Fabrikarbeit. Zusammenarbeit mit verschiedenen oppositionellen Gruppierungen; Lektor; 1989 im Neuen Forum aktiv, u. a. am Runden Tisch; Mitbegründer des BasisDruck-Verlags; 1990-1992 Herausgeber der Wochenzeitung Die Andere; November 1990 Mitbegründer der Robert-Havemann-Gesellschaft; 1994 Redakteur der Zeitschrift Sklaven.


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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1323: Gespräch mit DDR-Oppositionellen, die nicht im Kapitalismus landen wollten


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 11, 24.Jg., November 2009, Seite 19
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
Telefon: 0221/923 11 96, Telefax: 0221/923 11 97
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Dezember 2009