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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1292: Auf Börsenaufschwung folgt kein Wirtschaftsaufschwung


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 - Juni 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer
Auf den Börsenaufschwung folgt kein Wirtschaftsaufschwung

Von Ingo Schmidt


Ein kleiner Börsenaufschwung schürt große Hoffnungen auf ein baldiges Ende der Krise. Pure Illusion; wenn sie verfliegt, kracht es nochmal, und diesmal richtig.


Seit März dieses Jahres hat die Wirtschaftsentwicklung eine Richtung eingeschlagen. Auf eine einfache Formel gebracht lautet sie: Börse hebt ab, Konjunktur schmiert ab.

In den ersten beiden Monaten des Jahres waren Börsenkurse, Produktion, Absatz und Beschäftigung im Gleichschritt in den Keller gegangen. Seit Anfang März konnten die Börsen in New York, Tokyo, London und Frankfurt die Kursverluste von Januar und Februar nahezu vollständig wieder ausgleichen.

Ausfallbürgschaften und fast unbegrenzte Staatskredite, auf dem G20-Treffen Ende März zum internationalen Konsens befördert, haben die seit September 2008 arg verunsicherten Bankiers und Investoren zu der ihnen eigenen Besserwisserei zurückfinden lassen. Steigende Börsenkurse gelten jetzt wieder als Vorboten des Wirtschaftsaufschwungs, der Beginn des nächsten Aufschwungs sei nur noch eine Frage der Zeit. Wer dies in Frage stellt, gilt wieder als marxistischer Miesmacher.

Mehrere Faktoren haben die Börsenkurse in den letzten Wochen erneut angetrieben: nicht nur Staatsgarantien, sondern sinkende Anlagezinsen. Da die Zinsen auf Rentenpapiere weiter nachgeben, führt selbst die kleinste Hoffnung auf Dividendenzahlung zu Kapitalumschichtungen in Aktien.

Viele Investoren hoffen vermutlich auf die Wiederholung des Dividendenwunders von 2008. Denn trotz Börsen- und Konjunkturabsturz zahlten im vergangenen Jahr die meisten Unternehmen die gleiche oder sogar eine höhere Dividende als in den Jahren vor der großen Krise.

Zudem wurden die Bilanzierungsregeln geändert, die Banken müssen ihre Aktiva nicht mehr zu Marktwerten ansetzen. Das führt dazu, dass sie weit über den Erlösen liegen, die sie durch ihren Verkauf realisieren könnten. Somit erscheint die Überschuldung vieler Banken nicht mehr ganz so dramatisch.

Weil sich die meisten Sparbuchbesitzer nicht für Bilanzrichtlinien interessieren und sich mit wohlfeilen Bekenntnissen der Finanzminister abspeisen lassen, fällt das nicht weiter auf. Sollte sich das einmal ändern, wären Bankenpanik und eine rasante Entwertung des Geldkapitals wie des politischen Kapitals unausweichlich.


Entgegengesetzte Entwicklung

Während sich die Politik nach Kräften bemüht, der Finanzwelt Mut zu machen, bleiben die Hoffnungssignale aus der Welt der Produktion und Zirkulation sehr schwach. Sicher, irgendwann müssen Lagerbestände wieder aufgefüllt und eine schrottreife Maschine ausgewechselt werden. Ein Konjunkturaufschwung setzt aber Neuinvestitionen voraus, die über Lagerhaltungs- und Ersatzinvestitionen hinausgehen. Dafür gibt es jedoch angesichts der bestehenden Überkapazitäten nicht den geringsten Anlass.

Seit dem September letzten Jahres ist die Kapazitätsauslastung in den kapitalistischen Hauptländern im Schnitt um 10% auf Werte um die 75% gesunken. Aus Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und der Ersparnisse halten sich darüber hinaus die meisten Haushalte mit ihren Konsumausgaben zurück, sodass auch von dieser Seite wenig zu erwarten ist.

Die aktuelle Börsenentwicklung weist deshalb in eine diametral entgegengesetzte Richtung wie die Konjunktur. Man kann sie nur als Folge des Wunschdenkens von Vermögensbesitzern verstehen, die immer noch Geld haben, von dem sie nicht wissen, wohin damit. Sie hoffen auf eine Neuauflage des Dividendenwunders von 2008. Die leiseste Erschütterung dieser Traumwelt kann zu Panik und Depression führen.

Hält der Wirtschaftsabschwung lang genug an, verwandeln sich Produktionsanlagen durch Nichtbenutzung mehr oder minder automatisch zu Schrott. Nach einer gewissen Zeit erledigt sich das Problem der Überkapazitäten von selbst, brachliegende Produktionsmittel werden der Korrosion ausgesetzt und vom technischen Fortschritt abgehängt, der in einigen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen trotz Krise weitergetrieben wird.

Ist das Problem der Überkapazitäten auf diese Weise erst einmal gelöst, was freilich eine ganze Weile dauern kann, liegt es in der Hand der Unternehmer, durch Investitionen für Nachfrage und damit für einen Konjunkturaufschwung zu sorgen. Freilich könnten freiwillige Lohnsteigerungen und dadurch steigende Konsumgüternachfrage zum gleichen Resultat führen, doch das ist von Unternehmern, die um des Profits willen investieren, nicht zu erwarten.

Hier gilt das Wort des Linkskeynesianers Lord Nicholas Kaldor: Kapitalisten verdienen, was sie ausgeben, Arbeiter geben aus, was sie verdienen.


Wo kann der Aufschwung herkommen?

Selbst wenn die Löhne - und damit die Konsumausgaben - niedrig und die Kredit billig bleiben, kommt der Aufschwung nicht von selbst. Um das Wagnis der Investition in produktive Anlagen und Beschäftigung einzugehen, bedarf es eines Unternehmertypus, der eine Vision von der zukünftigen Wirtschaftsentwicklung hat, an der Verwirklichung dieser Vision mitzuwirken bereit ist und dabei auch das Risiko des Scheiterns eingeht.

Diesen Typus hat der erzliberale Ökonom Joseph Schumpeter immer wieder beschworen. In den 40er Jahren kam er jedoch angesichts des Übergangs von einem Kapitalismus mit "monopolistischen Unternehmenspraktiken", die er zur Durchsetzung radikaler Innovationen für notwendig hielt, zu einem politisch organisierten Kapitalismus zu dem Schluss, dass die "Unternehmerfunktion veralte" und der "Marsch in den Sozialismus" leider unausweichlich sei. Letzteren stellte er sich genauso bürokratisch verwaltet vor, wie er in der Sowjetunion gerade entstanden war.

Schumpeters Pessimismus erwies sich damals als unzeitgemäß, stand doch der längste und kräftigste Boom der kapitalistischen Geschichte unmittelbar bevor. Als dieser in den 70er Jahren dann in einer Serie von Währungs-, Haushalts- und Konjunkturkrisen endete, besannen sich bürgerliche Ideologen auf Schumpeters Analysen und wandelten sie dahingehend ab, entschlossene Unternehmer müssten sich nunmehr an die Zerstörung des Sozialstaats machen, sollte der Weg wieder frei werden für Innovationen und Prosperität. Auf diese Weise könnte der Marsch in den Sozialismus doch noch aufgehalten und die Menschheit auf die Bahn der unternehmerischen Freiheit und Initiative geleitet werden.

Diese Vision beflügelte praktische Unternehmer, Lobbyisten und Politiker. Beginnend in den 80er Jahren machten sie sich daran, Sozialstaaten zurückzudrängen, zu zerstören oder zu umgehen. Zusätzlich beflügelte sie der - in Schumpeters Analyse nicht vorgesehene - Zusammenbruch der Sowjetunion. Unter der neuen Hülle von Börse, Bits und Bytes blieb die Ökonomie jedoch wesentlich eine auf Gewalt und Öl beruhende Massenproduktion.

War Schumpeter zu pessimistisch gewesen, erwiesen sich seine Erben als zu optimistisch. Auf ihrem Kreuzzug gegen Sozialstaat und Sozialismus haben sie neue Modelle betrieblicher und internationaler Arbeitsteilung geschaffen und sämtliche Produktionsmittel und Konsumgüter mit Informationstechnik vollgestopft.

Einen Wachstumsimpuls, der der Einführung des Fließbands und der Standardisierung in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts vergleichbar wäre, haben sie damit jedoch nicht ausgelöst.

Aus den Trümmern des Sozialstaats ist keine neue Prosperität erwachsen - bestenfalls Innovationsrhetorik, die ebenso aufgeblasen ist wie die sie begleitende Börsenspekulation.

Beide sind mit der aktuellen Krise an ein Ende gekommen. Mag die Finanzwelt es in den letzten Wochen auch geschafft haben, sich wieder etwas Mut zu machen - ihre Vision einer von ungehinderter Unternehmerinitiative vorangetriebenen Prosperität zerrinnt ihr zwischen den Fingern.

Der Kapitalismus steckt auch in einer tiefen ideologischen Krise, und die Linke kann zeigen, ob sie realitätstüchtige Ideen für eine nicht-kapitalistische Entwicklung hat.


(Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie [1942], Tübingen/Basel 1993.)


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6, 24. Jg., Juni 2009, Seite 15
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2009