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POLITISCHE BERICHTE/126: Zeitschrift für linke Politik 7/09


Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik

Nr. 7 am 2. Juli 2009


INHALT

Aktuell aus Politik und Wirtschaft
Politische Berichte im Internet
Harter Fakt: Die EU ist eine Wirtschaftseinheit
Iran: Aufruhr in einer anderen Welt

Regionales und Gewerkschaftliches
Auslandsnachrichten
Aktionen ... Initiativen
Kommunalwahlen in Baden-Württemberg: Linke Liste
und die Partei Die Linke konnten sich festigen
Kommunale Politik
Der Opel-Deal: Regulierte Verteilung von Leid
Trotz satter Gewinne will EDS 852 Kollegen entlassen

Diskussion und Dokumentation
Quelle: Massekredit, aber weiter am Abgrund
Solidarität mit den Beschäftigten der Textilfabrik Edirne Giyim in der Türkei
Die Konfession der Konfessionslosen?
Parteitag Die Linke: Große Widersprüche, aber auch Chancen
In & bei der Linken
Beilage "Rundbrief Arge Konkrete Demokratie - Soziale Befreiung"

Termine

Raute

AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT

Politische Berichte im Internet: www.gnn-verlage.com


Zwei Bankgesetze

BT-Drucksachen 16/12783, 16/13113 und 16/13156. rül. In seiner letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause und damit vermutlich auch vor der Bundestagswahl wird sich der Bundestag noch mit zwei Bankgesetzen befassen.

Ein Gesetzentwurf der Bundesregierung "zur Stärkung der Finanzmarkt- und Versicherungsaufsicht" soll der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) erlauben, Banken und Versicherungen künftig eine höhere Eigenkapitalquote zur Abdeckung von Finanzmarktrisiken vorzuschreiben. Die "Leverage-Ratio", d.h. das Verhältnis zwischen Eigenkapital-Ausstattung einer Bank und ihren Kreditrisiken, soll künftig regelmäßig der BaFin gemeldet werden. Eine Krise wie bei der Hypo Real Estate könne so in Zukunft viel früher erkannt werden, sagt die Bundesregierung. Die Meldepflichten für Banken und Versicherungen an die BaFin werden auch auf anderen Gebieten verschärft, um z.B. Risiken bei Auslandstöchtern künftig besser zu erfassen. Außerdem soll die BaFin ein Gewinnaussschüttungsverbot verhängen und verbieten können, dass im Krisenfall aus hiesigen Töchtern ausländischer Banken flüssige Mittel abgezogen werden. Der Bundesrat lehnt den Regierungsentwurf ab. Sein Argument: Die Risiken im Finanzgewerbe seien nur EU-weit und nicht durch eine stärkere nationale Finanzmarktaufsicht zu regulieren. Warum das eine das andere ausschließt, bleibt dabei unerfindlich.

Am letzten Sitzungstag soll der Bundestag noch den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einrichtung sogenannter "Bad Banks" beschließen. Diese "Bad Banks" sollen von Landesbanken und privaten Banken eingerichtet werden können, um die vielen (fast) wertlosen Finanzmarkt-Papiere dieser Banken zu übernehmen und so deren Bilanzen zu entlasten. Um die konkrete Ausgestaltung dieser "Bad Banks" dürfte bis zum Schluss heftig gekämpft werden, da es dabei u.a. um die Neuordnung der Landesbanken geht. Bekannt ist, dass die Bundesregierung zu erheblichen Steuerbefreiungen bereit ist, um die Verluste der "Bad Banks" in Grenzen zu halten. Unter anderem ist eine Freistellung der "Bad Banks" von der Gewerbe- und Körperschaftssteuer in Diskussion.


Verbot der Leerverkäufe verlängert

Berliner Zeitung, 30. Mai 2009. rül. Das Bundesaufsichtsamt für das Finanzwesen (Bafin) hat das im Zuge der weltweiten Finanzkrise ausgesprochene Verbot sogenannter ungedeckter Leerverkäufe von Finanzaktien bis 31. Januar 2010 verlängert. "Ungedeckte Leerverkäufe" sind Börsenwetten, bei denen Spekulanten, z.B. Hedgefonds, Aktien einzelner Unternehmen zu einem Termin in naher Zukunft verkaufen, ohne diese Aktien überhaupt zu besitzen. Die Spekulation dabei ist, dass bei vielen Verkaufsangeboten die Kurse der betroffenen Aktien so stark fallen, dass die Spekulanten diese Aktien zum tatsächlichen Verkaufszeitpunkt günstiger einkaufen können, als sie sie zum gleichen Termin verkaufen müssen, und so ihren Schnitt machen. Solche "ungedeckten Leerverkäufe" waren nach der Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts lange Zeit verboten gewesen, in den letzten Jahren aber im Zuge der weltweiten Deregulierung von Finanzmärkten wieder zugelassen worden. Um deutsche Banken und Versicherungen vor solchen Spekulationen zu schützen, hatte die Bafin im Herbst 2008 solche Geschäfte mit Papieren der Deutschen Bank, der Postbank, der Commerzbank, der Allianz und sieben weiterer Finanzkonzerne bis Ende Mai 2009 verboten. Nun hat die Bafin das Verbot um acht Monate, bis 31.1.2010, verlängert - und damit die Öffentlichkeit daran erinnert, dass die amtierende Bundesregierung entgegen allen öffentlichen Bekundungen bis heute fast nichts getan hat, um die Finanzmärkte stärker zu regulieren.


Schweden stellt Hauptaufgaben für EU-Ratspräsidentschaft vor

afp, 25.6. hav. Schweden hat für seine EU-Ratspräsidentschaft, die am 1. Juli begonnen hat, den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und den Klimaschutz zur Hauptaufgabe erklärt. "Gemeinsam müssen wir die Finanzkrise bewältigen und die steigende Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen, die derzeit ganz Europa trifft", sagte Regierungschef Fredrik Reinfeldt vor dem Parlament in Stockholm. Die EU müsse in einer "stärkeren Position" aus der derzeitigen Wirtschaftskrise hervorgehen, heißt es im Arbeitsprogramm für den sechsmonatigen EU-Ratsvorsitz. Schweden rechnet jedoch damit, dass die Rekordarbeitslosenrate von 8,6 Prozent in der EU im Herbst weiter steigt. Während seiner Ratspräsidentschaft will sich Schweden zudem für den Klimaschutz stark machen. Bei der im Dezember stattfindenden UN-Klimakonferenz in Kopenhagen müsse die EU dafür sorgen, dass im Ringen um ein Nachfolgeabkommen zum 2012 auslaufenden Kyoto-Protokoll eine neue Vereinbarung geschlossen werde, heißt es im Arbeitsprogramm Stockholms.


Kritik an EU Kernkraft-Richtlinie und Industrie-Umweltauflagen

Die Zeit, afp, 26.6. hav. Die Umweltminister der EU haben verpflichtende Regeln zur nuklearen Sicherheit beschlossen, die sich an den Richtlinien der UNO-Energieagentur IAEA orientieren. Die Umweltorganisation Greenpeace kritisierte die IAEA-Regeln hingegen als zu schwach. Auch seien Versuche, im Rahmen der neuen Richtlinie die Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörden zu verbessern, verwässert worden. "In diesem Gesetz gibt es nichts Neues, was die Nuklearsicherheit in Europa verbessern könnte", kritisierte Greenpeace-Experte Jan Haverkamp. Ebenso gibt es Kritik von Umweltorganisationen an den nun beschlossenen Umweltauflagen für die europäische Industrie. Die EU-Umweltminister einigten sich in Luxemburg auf abgeschwächte Vorgaben für den Schadstoff-Ausstoß der 52.000 europäischen Industrieanlagen. Mit dem Richtlinienvorschlag sollten die Emissionen dieser Anlagen bis 2020 um ein Drittel sinken. Großbritannien, Polen und andere osteuropäische Länder setzten aber eine Reihe von Ausnahmen durch. Umweltschützer kritisierten die Einigung. Der WWF forderte in Brüssel, auch das Treibhausgas Kohlendioxid (CO2) in die Richtlinie einzubeziehen. Ohne strenge Pflichten für die besonders schmutzigen Kohlekraftwerke bleibe unklar, wie die EU ihre selbst gesteckten Klimaziele erreichen könne, erklärte der WWF.


Erpressung im Osram-Werk Molsheim/Elsass

Eu-Linke, 25.6, hav. "Als konföderale Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europäischen Parlament protestieren wir gegen die massive Erpressung der Beschäftigten des Osram-Werkes in Molsheim/Elsass durch die dortige Geschäftsleitung", so der neu gewählte Europaabgeordnete Thomas Händel. Die Beschäftigten wurden vor wenigen Tagen genötigt, auf 12,5 Prozent ihrer Entgelte zu verzichten. Begründet wurde dies mit dem durch die Europäische Kommission erlassenen Verkaufsverbot für herkömmliche Glühlampen, das zum 1. September diesen Jahres in Kraft tritt. Der zu erwartende Umsatzrückgang sollte mit dieser Entgeltkürzung ausgeglichen werden. Ein Teil der Belegschaft hat dem nun widersprochen. Die Geschäftsleitung hat darauf mit der Entlassung von 108 Beschäftigten reagiert. Nun bietet Osram an, die Entlassungen zurück zu nehmen, wenn im Gegenzug im Berliner Werk der zum Siemenskonzern gehörenden Lichtsparte Osram Produktionseinschränkungen vorgenommen würden. "Gegen diese Art von grenzüberschreitender Erpressung von Belegschaften müssen wir uns zur Wehr setzen", so Thomas Händel. "Gerade ein hochprofitabler Konzern wie Siemens muss gezwungen werden, in der zur Verfügung stehenden Zeit Ersatzproduktion zu organisieren und allen Beschäftigten eine Perspektive für den langfristigen Erhalt ihrer Arbeitsplätze zu geben."


Verbraucher in Europa

Eurostat, 26.6., hav. Wie hoch ist der Anteil der Bevölkerung in der EU27 , der in Häusern oder Wohnungen lebt, und welcher Anteil besitzt Wohneigentum? Antworten auf diese Fragen gibt die Veröffentlichung: "Consumers in Europe", die von Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften herausgegeben wurde. Daraus zwei Beispiele: 1. In der EU27 lebten 2007 46% der Haushalte in Wohnungen, 30% in freistehenden Häusern und 22 % in Reihenhäusern oder Doppelhaushälften. Der Anteil an Haushalten, die in Wohnungen lebten, war in Lettland (72%), Estland (69%), Spanien (66%) und Deutschland (62%) am höchsten. Der größte Anteil an Haushalten in freistehenden Häusern war in Slowenien (65%), Ungarn (57%), Rumänien (56%) und Dänemark (48%) zu finden, während der Anteil an Haushalten in Reihenhäusern oder Doppelhaushälften im Vereinigten Königreich (59%) und in Irland sowie in den Niederlanden (jeweils 55%) am höchsten war. Im Jahr 2007 besaßen 65% aller Haushalte in der EU27 Wohneigentum, während 21% marktübliche Mieten zahlten, 8% in einer mietreduzierten Wohnung lebten und 7% mietfrei wohnten. Mehr als die Hälfte aller Haushalte in den Mitgliedstaaten (ohne Deutschland) verfügte über Wohneigentum, wobei die höchsten Anteile in Rumänien (96%), Litauen und der Slowakei (jeweils 89%) sowie in Ungarn (87%) zu finden waren. Die niedrigsten Anteile an Haushalten mit Wohneigentum meldeten Deutschland (46%), Österreich (52%), die Niederlande (56%) sowie Dänemark, Frankreich und Polen (alle 58%).


Lebensbedingungen in der EU 27

Eurostat, 28.5. hav. Folgende Daten stammen aus der EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen, die von Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften, veröffentlicht werden. Im Jahr 2007 lebte ein Drittel der Bevölkerung der EU 27 in einem Haushalt, der sich keine unerwarteten Ausgaben leisten konnte. In der EU 27 lebten 7% der Bevölkerung in einem Haushalt, der in den letzten zwölf Monaten seine Rechnungen für Strom, Wasser oder Gas für die Hauptwohnung nicht fristgerecht bezahlen konnte und 3% lebten in einem Haushalt, der seine Miet- oder Hypothekenzahlungen nicht bezahlen konnte. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Lettland und Ungarn (je 63%) sowie in Polen (54%) lebte in einem Haushalt, der sich keine unerwarteten Ausgaben leisten konnte. Dagegen lebte in Schweden (18%), Dänemark (19%) und Portugal (20%) nur ein Fünftel oder weniger der Bevölkerung in einem solchen Haushalt. Die höchsten Bevölkerungsanteile, die in Haushalten lebten, die mit der Zahlung von Rechnungen für Versorgungsleistungen im Rückstand waren, verzeichneten Ungarn (18%), Polen (17%), Griechenland (16%) und Slowenien (11%). Die höchsten Bevölkerungsanteile, die in Haushalten lebten, die mit der Zahlung von Mieten oder Hypotheken im Rückstand waren, meldeten Griechenland (7%), Frankreich und Zypern (je 6%).


Die Beteiligung am sogenannten Bildungsstreik war hoch (250.000 bundesweit) - die Zielsetzungen dagegen eher undeutlich. In den nächsten Ausgabe werden wir uns genauer damit beschäftigen.


*


Die nächste Ausgabe der Politischen Berichte erscheint am 30. Juli 2009. Redaktionsschluss: Freitag, 24. Juli. Artikelvorschläge und Absprachen über pb@gnn-verlage.de. Tel: 0711/3040595, freitags von 7-12 h. Die übrigen Erscheinungstermine für 2009, jeweils donnerstags: 10. September, 8. Oktober, 5. November, 3. Dezember.

Raute

Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Grundgesetz ist "europafreundlich"

Harter Fakt: Die EU ist eine Wirtschaftseinheit

Das Bundesverfassungsgericht hat den Lissabon-Vertrag, der die politischen Beziehungen der Europäischen Union neu regeln soll, gebilligt. "Europafreundlichkeit" sei ein Gebot des Grundgesetzes. Gekippt wurde dagegen das Durchführungsgesetz, das der Regierung zu viel und dem Bundestag zu wenig Rechte bei grundsätzlichen europäischen Entscheidungen gibt. Damit sind Gauweiler (CSU), die ÖDP und andere aus dem rechten Lager und die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke damit gescheitert, den Lissabon-Vertrag vor Gericht zu Fall zu bringen. Der Bundestag will das beanstandete Gesetz noch vor den Neuwahlen ändern, damit der Lissabon-Vertrag von der Bundesrepublik ratifiziert werden kann. Dann steht noch die erneute Volksabstimmung der Iren aus - der EU-Ministerrat hat dem Land noch einmal ausdrücklich die Rechte bezüglich eigener Gesetzgebung bei Abtreibung und Neutralität gegenüber Militärbündnissen zugesichert. Bei einem Ja wäre die Erweiterung der EU auf inzwischen 27 Länder auf eine neue Vertragsgrundlage gestellt - ein Nein käme einem Austritt Irlands aus der EU gleich. Die eindeutige Zustimmung des Verfassungsgerichts hat neben vielen Erwägungen zur Grundlage, dass die EU als Wirtschaftseinheit inzwischen sehr gefestigt ist und darum politischer Regulierung bedarf. Dazu im folgenden eine nähere Betrachtung.


In einem kürzlich von Michael Schlecht, Mitglied des Parteivorstands (außerdem noch Verdi-"Chefökonom") veröffentlichten Papier unter dem Titel "Wirtschaftspolitische Alternativen, Schutzschirm für Menschen" wird der "Umbau einer überzogenen Exportökonomie mit einer Umsteuerung zu einer stärkeren binnenwirtschaftlichen Orientierung" gefordert. Dazu wird eine Grafik abgedruckt mit dem Titel "Exportüberschuss am Limit" und darin auf den aufsummierten deutschen Exportüberschuss von 2000 bis 2008 von 925 Milliarden Euro verwiesen.

Die geforderte "binnenwirtschaftliche Orientierung" existiert aber längst, wenn unter Binnenmarkt nicht Deutschland, sondern die ganze EU mit derzeit 27 Ländern oder zumindest die Euro-Zone mit 16 Ländern verstanden wird. Hierzu haben wir in der Tabelle eine Übersicht zusammengestellt a) über die Entwicklung des Intra- und Extrahandels der Europäischen Union seit 1999 mit den Exportquoten der gesamten EU nach außerhalb, b) der Exporte aus der Eurozone nach außerhalb und c) der Exporte der BRD nach außerhalb der EU. Die enorme Exportquote der BRD von 2008 von fast 40 Prozent für Waren schrumpft so betrachtet auf 14%. Die Exportquote in der Euro-Zone liegt mit über 16% in den vergangenen Jahren sogar noch darüber - das liegt daran, dass Belgien und die Niederlande mit ihren internationalen Häfen Exportquote von bis zu 90% haben.

Die gesamte EU kommt auf eine Exportquote von um die 10 Prozent, was kaum höher liegt als die Exportquote von 9% für die USA im selben Jahr. Auch der Exportüberschuss schmilzt dahin. Zwar macht die BRD für sich betrachtet immer noch einen Überschuss im Handel mit Ländern außerhalb der EU, aber bereits die Länder der Euro-Zone haben zusammen genommen mal einen Überschuss, mal ein Defizit erzielt. In der EU insgesamt gab es sogar durchgängig seit 1999 ein Exportdefizit, das heißt die Einfuhren waren höher als die Ausfuhren. (Der Grund dürfte in dem enormen Bedarf von Erdöl und Erdgas liegen; welche Folgen ein solches Defizit hat, bedürfte näherer Untersuchung; es müssten dann auch die Dienstleistungen einbezogen werden und die Kapitaltransfers betrachtet werden, was hier jetzt nicht geleistet werden kann).

Die EU ist also ein großer Wirtschaftsraum, in dem Warengeschäfte zum ganz überwiegenden Teil innerhalb dieses Raumes gemacht werden und wo der Außenhandel neben dem Bezug von Rohstoffen (vor allem Erdöl und Erdgas) den Austausch von innovativen Produkten beinhaltet, die unter anderem die Produktvielfalt gegenüber Monopolstrukturen erhöhen (zum Beispiel Automobilindustrie: die EU-Länder sind da Exportweltmeister, aber auch Importweltmeister).


Ist die EU ein einheitlicher Wirtschaftsraum?

Aber darf die EU tatsächlich als ein einheitlicher Wirtschaftsraum betrachtet werden, wo dann Exportquoten für Deutschland genauso viel Sinn machen wie die Exportquote Bayerns nach Preußen?

Die Antwort ist überwiegend ja, zumindest entwickelt sich bisher die EU ziemlich flott in diese Richtung. Begonnen hatte die Europäische Union (EU) bzw. der Vorläufer Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) als Zollunion. Es sollten damals die Zollschranken zwischen den Märkten der Mitgliedsländer beseitigt werden. Das ist tatsächlich ein wichtiger Schritt zur Herstellung eines einheitlichen Marktes, von dem dann gesprochen wird, wenn die Produktionsfaktoren, Waren und Dienstleistungen frei transferiert werden können. Dem stehen allerdings noch diverse Handelshemmnisse entgegen: die wichtigsten sind unterschiedliche Umsatzsteuersysteme, nationale Vorschriften und ein eingeschränkter europäischer Arbeitsmarkt.


Exkurs: Theorie des optimalen Währungsraumes am Beispiel EU

Zur Beurteilung der wirtschaftlichen Integration und der Vor- bzw. Nachteile eines einheitlichen Währungsraumes hat die moderne Wirtschaftswissenschaft Untersuchungsmethoden entwickelt. Erstmals beschäftigte sich Robert Munddells (USA) damit; er hat 1961 die "Theorie des optimalen Währungsraums" veröffentlicht, wofür er später den Nobelpreis erhielt. Da sein Buch nicht auf Deutsch greifbar ist, stütze ich mich im Folgenden auf die Darstellung dieser Theorie durch Paul Krugman und Maurice Obstfeld in ihrem Lehrbuch "Internationale Wirtschaft, Theorie und Politik der Außenwirtschaft" (8. Auflage 2009), zumal sie diese Theorie am Beispiel der EU darstellen. Den ersten Lehrsatz entwickeln sie aus der Frage, soll Norwegen die Krone zugunsten des Euro aufgeben. Er lautet, "dass ein hohes Maß an wirtschaftlicher Integration zwischen einem bestimmten Land und einem Gebiet mit festen Wechselkursen die monetären Effizienzgewinne erhöht, die dieses Land aus der Festlegung seines Wechselkurses gegenüber den Währungen des Festkurssystems ziehen kann. Je umfangreicher der Außenhandel und die grenzüberschreitenden Faktorbewegungen, desto größer der Gewinn aus einem festen grenzüberschreitenden Wechselkurs." Eine weitere Voraussetzung ist eine niedrige und stabile Inflationsrate im Gebiet des Wechselkursverbundes, ansonsten würden die Preisschwankungen die Effizienzgewinne unter Umständen aufheben.

Allerdings ergeben sich aus einem Währungsverbund nicht nur Effizienzgewinne, sondern auch Kosten: "Diese Kosten entstehen deshalb, weil das Beitrittsland auf seine Fähigkeit verzichtet, Produktion und Beschäftigung mit Hilfe währungs- und geldpolitischer Maßnahmen zu stabilisieren." Das wird wieder am Beispiel Norwegens erläutert: Wenn insgesamt ein Nachfragerückgang in der Eurozone eintritt, ist das kein Problem, weil dann der Euro einheitlich abwerten kann. Anders, wenn Norwegen wegen des Nachfragerückgangs nach Erdöl, seinem wichtigsten Exportprodukt, das einzige Land im Verbund ist, das unter dem Nachfragerückgang leidet. Eine Abwertung ist im Währungsverbund nicht möglich und erst eine allgemeine Senkung des norwegischen Preisniveaus einschließlich der Löhne schafft einen Ausweg. Auch hier hängt es davon ab, wie stark die gesamte Integration der Volkswirtschaft zwischen Norwegen und der Eurozone ausgebildet ist. "Unsere Schlussfolgerung lautet", schreiben Krugman/Obstfeld, "dass ein hohes Maß an wirtschaftlicher Integration zwischen einem Land und dem Währungsverbund, dem es beitritt, den Verlust wirtschaftlicher Stabilität infolge von Gütermarktstörungen reduziert."

Das Fazit: "Optimale Währungsräume bestehen aus Regionen, deren Volkswirtschaften durch den Handel mit Gütern und Dienstleistungen und durch ihre Faktormobilität eng miteinander verflochten sind." Daher, sagt Krugmann, sei es sinnvoll, dass die USA, Japan und Europa die gegenseitigen Wechselkurse ihrer Währungen schwanken lassen. Zwar finde Handel zwischen diesen Gebieten statt, aber im Vergleich zum Bruttonationaleinkommen sei das bescheiden (für die USA macht der Außenhandel mit Europa nur 2% seines BNE aus) und die Arbeitsmobilität zwischen ihnen ist gering, also macht eine gemeinsame Währung wenig Sinn. Aber dann erhebt sich die interessante Frage: ist Europa bzw. die Euro-Zone ein optimaler Währungsraum?

Krugmann antwortet verhalten positiv: Zu Beginn der Währungsunion 1999 sei der Exportanteil von 10 bis 20 Prozent der Produktion in andere EU-Länder zwar höher gewesen als der Anteil des Handels mit den USA, aber erheblich geringer als der Umfang des Handels zwischen verschiedenen Regionen der USA. Allerdings hätte dann durch die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) der innereuropäische Handel rasch zugenommen (was ja auch unsere Tabelle bestätigt). Krugmans Fazit: auf dem Weg, aber noch nicht am Ziel eines optimalen Währungsraums.

Pessimistisch beurteilt er die Arbeitsmobilität. Sprachliche und kulturelle Unterschiede seien in Europa viel stärker ein Hemmnis als zwischen den verschiedenen Regionen der USA. Dazu kämen nationale gesetzliche Hemmnisse. Er vergleicht die Arbeitsmobilität (Anzahl der Wohnsitzverlegungen von einer Region in eine andere in Prozent der Wohnbevölkerung). Sie beträgt in den USA: 3,1, in Großbritannien: 1,7, in Deutschland 1,1 und in Italien: 0,5. Ich finde diesen Vergleich allerdings etwas problematisch. Er berücksichtigt nicht, dass die Sozialsysteme in Europa bewusst anders gestaltet sind als in den USA und dass das im Großen und Ganzen ein gesellschaftlicher Konsens ist.

Als weitere Beurteilungselement für Erfolg oder Misserfolg des Euro-Währungsgebietes nennt Krugman: Ähnlichkeit der Wirtschaftsstruktur, die einen Ausgleich bei Gütermarktstörungen erleichtert. Als Indiz für eine solche Ähnlichkeit wird der große Umfang des brancheninternen Handels genannt (Autos werden zwischen den Ländern der WWU exportiert und importiert usw.). Allerdings existiere ein großer Unterschied zwischen dem Norden (bessere Kapitalausstattung, qualifizierte Arbeit) und Südeuropa (gering qualifizierte Arbeit). Hier sieht Krugman das Risiko, dass die Ausnutzung von Größenvorteilen die regionale Spezialisierung noch weiter vorantreibt und es dann zu massiven Ungleichgewichten zwischen den Regionen kommt.

In eine ähnliche Richtung wirkt der Fiskalföderalismus. In den USA erhalten Bundesstaaten, die wirtschaftlich in Schwierigkeiten stecken, Transferzahlungen von den anderen Bundesstaaten. In der EU sei das mangels eignem Steueraufkommens nur in sehr geringem Umfang der Fall. (Hier liegt, glaube ich, beim Autor u.U. mangelnde Information vor; bekanntlich gibt es ja umfangreiche Regionaltöpfe der EU, die keineswegs nur in den Agrarsektor fließen).

Sein Fazit: Die EU bzw. die Eurozone stellt noch keinen optimalen Währungsraum dar, aber: "Die Erfahrung der USA zeigt, dass eine große Währungsunion, die ganz unterschiedliche Wirtschaftsregionen umfasst, recht gut funktionieren kann. Wenn die WWU einen vergleichbaren wirtschaftlichen Erfolg erzielen möchte, muss sie allerdings einen flexiblen, EU-weiten Arbeitsmarkt schaffen, ihre Fiskalsysteme reformieren und ihre politische Einheit ausbauen. Die europäische Einigung selbst gerät in Gefahr, wenn es der WWU und ihrer wichtigsten Institution der EZB, nicht gelingt, neben Preisstabilität auch Wohlstand zu schaffen."

Soweit die Sicht eines US-Wirtschaftswissenschaftlers auf die EU und ihren gemeinsamen Markt.


Welche Konsequenzen ergeben sich für die linke Politik?

Die Wirtschaftswissenschaft geht heute von einer klaren Überlegenheit einer weltweiten Arbeitsteilung und entsprechendem weltweiten Handel aus (siehe Kasten zu komparativer Vorteil). Dass diese theoretischen Überlegungen auch zutreffen, lehren die historischen Erfahrungen. Der Erste Weltkrieg unterbrach eine Entwicklung mit wachsendem internationalen Handel und leitete eine Phase protektionistischer Abschottung ein; am aggressivsten vertreten durch den Hitlerfaschismus. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs der internationale Handel wieder über das Niveau der Jahre vor 1914.

Länder, die nach ihrer Befreiung von kolonialer Abhängigkeit versuchten, sich "aus eigener Kraft" unter Abschottung von den Weltmärkten zu entwickeln, scheiterten mit zum Teil bis heute schrecklichen Folgen. Das Extrem der Abschottung vom Weltmarkt ist die Subsistenzwirtschaft; eine Wirtschaft vom Hand in den Mund mit allen Risiken von schlechten Ernten und Fehlentscheidungen, die nicht ausgeglichen werden können. In Erinnerung sollte auch gerufen werden, dass die Boykottpolitik des Westens bei Spitzentechnologien (Elektronik, Computer) der Sowjetunion und den mit ihr verbündeten Staaten ernsthaft geschadet hat. Wirtschaftliche Kurskorrekturen wie in der Volksrepublik China führten dagegen zu wachsender Produktivität und wachsendem Wohlstand (wie ungerecht der auch immer verteilt sein mag). Die Geschichte zeigt aber auch, dass diese zweifellos bestehenden Vorteile bei freiem Spiel der Marktkräfte von wenigen monopolisiert werden können. Die "Bananenrepubliken" in Mittelamerika litten jahrzehntelang unter einseitiger Wirtschaftsentwicklung, einer Exportabhängigkeit gegenüber den USA. Nur eine kleine Oberschicht hatte Vorteile.

Viele arme, vor allem afrikanische Länder haben bis jetzt ohne politische Intervention auf internationaler Ebene gar keine Chance, sich in den Welthandel einzuklinken, um zum Beispiel einen Weg zu beginnen, der die Vorteile des Welthandels mit einer mäßigen Schutzzollpolitik für heimische Industrie und Finanzwesen kombiniert. Das war für viele Entwicklungsländer der richtige Weg - wenigsten haben das die VR China und auch Indien, Korea, Brasilien usw. so betrieben.

Auch die Europäische Union als Wirtschaftsraum kam nicht durch die freien Marktkräfte zustande, sondern aus dem politischen Willen der Beteiligten, die Marktkräfte auszunutzen und sie entsprechend zu regulieren. Die Frage für die Zukunft ist also, was ist der richtige ordnungspolitische Rahmen für die weitere wirtschaftliche Entwicklung der EU - anknüpfend an die Feststellung Krugmans, ein erfolgreiches Europa verlangt, dass Wohlstand in der gesamten EU geschaffen wird und zwar nicht nur für einige Regionen und nicht nur für einige Schichten.

Bei allen Schwächen und Fehlern in der programmatischen Position zur Europapolitik bei der Partei der Linken finden sich in Bezug auf den Wirtschaftsraum Europa in diese Richtung durchaus Ansätze, die weiterführen. Im Europawahlprogramm der Partei Die Linke vom März 2009 wird die Idee einer europäischen Wirtschaftsregierung entwickelt, die die notwendige politische Regulierung der Ökonomie betreiben soll:

"DIE LINKE fordert eine europäische Wirtschaftsregierung statt einer Wirtschaft, die Europa regiert. Diese soll die Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik koordinieren und wirtschaftlichen Nationalismus überwinden. Die EU muss sich auf verbindliche und hohe Standards in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik verständigen. Die EZB muss neben ihrem geldpolitischen Beitrag zur Preisstabilität gleichrangig auf die Förderung von nachhaltiger Entwicklung und Beschäftigung verpflichtet und durch das Europäische Parlament sowie den Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (ECO-FIN) kontrolliert werden."

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts kann die Partei ja mal noch ein paar Ideen auf diesem Gebiet entwickeln.

Alfred Küstler


Bruttoinlandsprodukt, Intra- und Extra-Handel der EU-27, der Eurozone-16, Deutschlands und der USA, alle Waren ohne Dienstleistungen in
Milliarden EURO
Land/Zeitraum
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
EU (27 Länder): BIP
Intra: Ausfuhr
in % BIP
Export-(+) / Importüberschuss(-)
Extra: Ausfuhr
in % BIP (Exporte nach Nicht-EU)
Export-(+) / Importüberschuss(-) Nicht-EU
8.583,62
1.528,40
17,8%
72,00
683,08
8,0%
-60,21
9.202,20
1.805,76
19,6%
79,83
849,74
9,2%
-142,96
9.580,08
1.872,80
19,5%
87,88
884,71
9,2%
-94,44
9.941,65
1.897,44
19,1%
95,81
891,90
9,0%
-45,07
10.108,23
1.914,48
18,9%
90,35
869,24
8,6%
-66,03
10.602,78
2.071,76
19,5%
78,40
952,95
9,0%
-74,57
11.063,07
2.214,98
20,0%
74,33
1.052,72
9,5%
-126,85
11.675,70
2.497,26
21,4%
79,29
1.159,29
9,9%
-192,43
12.355,36
2.647,75
21,4%
69,56
1.241,57
10,0%
-192,48
12.504,35
2.701,69
21,6%
79,76
1.308,60
10,5%
-242,09
Eurozone (16 Länder): BIP
Extra: Ausfuhr
davon Großbritannien
davon USA
in % BIP (Exporte außerh, Eurozone)
Export(+) /Importüberschuss(-) Nicht-Euro
6.441,34
814,78
161,97
136,41
12,6%
26,02
6.779,43
993,07
188,80
173,31
14,6%
-29,49
7.075,21
1.053,53
203,10
180,98
14,9%
38,15
7.324,08
1.074,57
206,46
184,89
14,7%
90,89
7.544,36
1.050,31
195,44
168,50
13,9%
63,65
7.854,29
1.145,68
206,73
175,42
14,6%
65,09
8.149,42
1.235,39
204,23
186,11
15,2%
7,04
8.553,29
1.380,38
217,50
200,16
16,1%
-19,00
8.994,38
1.500,73
230,40
195,49
16,7%
11,57
9.272,31
1.559,38
222,01
186,84
16,8%
-38,89
Deutschland (BIP)
alle: Ausfuhren
in % BIP ("klassische Exportquote")
Export-(+) / Importüberschuss(-) alle
Intra: Ausfuhren nach EU27
in % BIP (Exportquote EU27)
Export-(+) / Importüberschuss(-) EU27
Extra: Ausfuhr Nicht-EU
in % BIP (Exportquote Nicht-EU)
Export-(+) / Importüberschuss(-) Nicht-EU
2.012,00
509,98
25,3%
65,20
334,01
16,6%
40,31
175,97
8,7%
24,90
2.062,50
597,45
29,0%
59,13
386,62
18,7%
46,48
210,83
10,2%
12,65
2.113,16
638,28
30,2%
95,50
406,04
19,2%
55,55
232,24
11,0%
39,95
2.143,18
651,25
30,4%
132,77
412,71
19,3%
72,15
238,54
11,1%
60,62
2.163,80
664,39
30,7%
129,90
431,13
19,9%
77,8
233,26
10,8%
52,11
2.210,90
731,48
33,1%
156,08
472,27
21,4%
94,52
259,21
11,7%
61,55
2.243,20
780,42
34,8%
155,81
501,64
22,4%
98,95
278,78
12,4%
56,86
2.321,50
882,53
38,0%
160,42
561,35
24,2%
101,22
321,18
13,8%
59,20
2.422,90
964,04
39,8%
194,26
623,86
25,7%
126,58
340,18
14,0%
67,68
2.491,40
993,92
39,9%
175,46
632,96
25,4%
106,24
360,96
14,5%
69,22
USA (BIP) in Mrd, € (Eurostat)
BIP in Mrd, US-$ (US Fed Stat)
Exporte in Mrd, US-$ (US Fed Stat)
in % BIP (Exportquote)
Export-(+) / Importüberschuss(-) Mrd. $
8.696,19
9.268,40
683,97
7,4%
-347,82
10.629,06
9.817,00
771,99
7,9%
-454,69
11.308,62
10.128,00
718,71
7,1%
-454,69
11.071,91
10.469,60
685,17
6,5%
-482,83
9.689,53
10.960,80
715,85
6,5%
-549,01
9.394,57
11.685,90
806,16
6,9%
-671,84
9.984,65
12.421,90
892,34
7,2%
-790,85
10.495,70
13.178,40
1.015,81
7,7%
-847,26
10.074,79
13.807,50
1.138,38
8,2%
-830,99
9.698,53
14.264,60
1.276,99
9,0%
-840,25
Exporte: Extra-Handel der EU-27 Länder nach Produktgruppen, Anteile an gesamtem Extra-Handel in Prozent
Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren
Grundstoffe
Mineralische Brennstoffe, Schmiermittel uä
Chemische Erzeugnisse, a.n.g.
Maschinen und Fahrzeuge
Sonstige bearbeitete Waren
6,1
2,1
2,3
14,3
46,0
26,5
5,6
2,1
3,4
14,0
46,3
26,4
5,6
1,9
2,8
14,7
46,6
26,3
5,6
2,1
2,9
15,8
45,0
26,3
5,6
2,1
3,2
16,2
45,0
25,8
5,1
2,2
3,5
16,0
45,1
25,8
4,9
2,3
4,4
15,7
44,7
25,3
5,0
2,5
5,1
15,9
43,5
25,3
5,0
2,4
5,1
15,9
43,8
25,0
5,2
2,5
6,2
15,7
43,5
24,2
Importe: Extra-Handel der EU-27 Länder nach Produktgruppen, Anteile an gesamtem Extra-Handel in Prozent
Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren
Grundstoffe
Mineralische Brennstoffe, Schmiermittel uä
Chemische Erzeugnisse, a.n.g.
Maschinen und Fahrzeuge
Sonstige bearbeitete Waren
6,8
5,2
11,3
7,9
38,8
26,9
5,5
5,0
16,2
7,1
37,4
25,2
5,9
4,9
16,1
7,9
36,0
25,9
6,2
4,8
15,9
8,6
35,1
26,1
6,1
4,6
16,9
8,6
34,9
25,5
5,7
4,7
17,9
8,6
34,5
25,5
5,3
4,5
23,1
8,2
32,1
24,6
5,0
4,7
25,1
8,1
29,8
25,2
5,3
4,9
23,4
8,4
29,2
26,6
5,2
4,9
28,6
8,2
26,7
24,1

BIP: Bruttoinlandsprodukt; Intra: Außenhandel mit Ländern innerhalb der EU bzw. Eurozone; Extra: Außenhandel mit Ländern außerhalb der EU bzw. Eurozone

Datenquellen: Eurostat, US Federal Statistics: http://epp.eurostat.ec.europa,eu/portal/page/portal/external_trade/data/main_tables; http://www.fedstats.gov


*


Komparativer Vorteil (Wikipedia)

Die Theorie des komparativen Kostenvorteils besagt, dass die Vorteilhaftigkeit des Handels zwischen zwei Ländern nicht von den absoluten Produktionskosten abhängt, sondern von den relativen Kosten der produzierten Güter zueinander. Grundsätzlich ist demnach der Handel zwischen zwei Ländern immer vorteilhaft, wenn bei beiden Handelspartnern unterschiedliche Produktionskostenstrukturen existieren, d.h. wenn das eine Land für ein produziertes Gut auf weniger Einheiten eines anderen Gutes verzichten muss als das andere Land (niedrigere Opportunitätskosten). In diesem Fall sollte jedes Land sich auf das Gut spezialisieren, das es relativ (komparativ) günstiger herstellen kann. Somit sind nach der Theorie internationaler Handel und internationale Arbeitsteilung selbst für solche Länder von Vorteil, die alle Güter zu niedrigeren Kosten erzeugen können als das Ausland. In der Realität lässt sich dies vor allem auf Handelsbeziehungen zwischen hoch und niedrig industrialisierten Ländern anwenden. Die Theorie Ricardos beinhaltet generell eine Forderung nach einem weltweit freien Handel, der bei Spezialisierung der Staaten auf ihre komparativen Kostenvorteile zum Vorteil aller ist.

Dabei ist zu beachten, dass nichts über die Verteilung des Handelsgewinnes oder die Effekte der Spezialisierung ausgesagt wird.


Beispiel

Nehmen wir an, es gäbe nur zwei Länder Frankreich und die Türkei. Frankreich hat 10 Brotbäcker. Jeder dieser Brotbäcker kann 20 Brote pro Tag herstellen. Das gleiche gilt für Fischer, 10 Fischer fangen jeweils 20 Fische. Die Türkei hat 30 Brotbäcker und jeder kann 4 Brote pro Tag erstellen. Zudem besitzt sie 10 Fischer, die 12 Fische pro Tag fangen. Wenn sich nun die beiden Länder auf das spezialisieren würden, wo sie am produktivsten sind, würden sie mit einem Austausch (Handel) in der Menge mehr produzieren. Zwar sind die Franzosen als Fischer fast 50% leistungseffektiver als die Türken, aber im Brotbacken sind sie fünfmal so produktiv. Das heißt, dass der komparative Vorteil bei den Franzosen beim Brotbacken ist und der der Türken beim Fischen. So erreichen beide beim Handeln mit der jeweils von ihnen produzierten Ware, eine Steigerung der Produktion.


Zustand ohne Handel
Frankreich
Türkei
­10 x 20 Brote = 200 Brote
­10 x 20 Fische = 200 Fische
­30 x 4 Brote = 120 Brote
­10 x 12 Fische = 120 Fische

Total je 320 Brote und 320 Fische


Zustand mit Handel
Frankreich
Türkei
­20 x 20 Brote = 400 Brote
­40 x 12 Fische = 480 Fische

Total je 400 Brote (+80) und 480 Fische (+160)

Raute

Iran

Aufruhr in einer anderen Welt

Die harten politischen Kämpfe in der Islamischen Republik Iran wurden in der öffentlichen Meinung der christlich geprägten Gesellschaften des Westens zunächst als Kontroverse zwischen islamischem Fundamentalismus und Demokratie begriffen. Dass sich die Opposition gegen die Regierung des amtierenden Präsidenten Ahmadinedschad unter den grünen Bannern des Islam sammelte, sorgte für einige Irritation. Inzwischen ist unübersehbar, dass die kämpfenden Parteien im Iran sich auf Traditionen und kulturelle Konstellationen im Iran beziehen. Das 1979 gestürzte Schah-Regime stabilisierte seine Herrschaft durch Verbindungen zum Ausland, vor allem zu den USA. Es gibt keine Anzeichen für ein Wiederaufleben einer solchen Strategie.

Nach drei Wochen härtester Auseinandersetzungen in den Institutionen und zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen hat der Wächtererrat nun entschieden, dass die Wahlen im wesentlichen korrekt durchgeführt wurden und das Ergebnis anzuerkennen sei. In der weltweiten Publizistik setzt sich die Meinung durch, dass der amtierende Präsident Ahmadinedschad wahrscheinlich eine Mehrheit der Wählerstimmen hinter sich bringen konnte, es gleichzeitig aber zu groben Wahlfälschungen gekommen ist. Unbestritten ist, dass die Opposition einen Wahlkampf erzwingen konnte, der eine breite Öffentlichkeit erfasste, dies obwohl die regierende Partei vielfältige institutionelle und auch außergesetzliche Repressionsmittel aufbot. Fest steht auch, dass eine sehr hohe Wahlbeteiligung eintrat. Schließlich zeigte sich nach der Wahl, dass für die streitenden Parteien die Frage nach Korrektheit des Wahlaktes und Mehrheit der Stimmen von allergrößter Bedeutung ist. Das ist nicht selbstverständlich, denn in einer religiös-fundamentalistisch geordneten Gesellschaft wäre interessant, wer das Gute vertritt und wer das Übel.

In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 17. Juni erläutert der islamisch-schiitische Theologe / Rechtsgelehrte Hassan Yousefi Eshkevari, wie Fragen etwa des Transfers der politischen Macht durch Wahlen, der Mehrheit, der Korrektheit des Verfahrens usw. auf der Grundlage islamischer Tradition aufgegriffen werden können. In Koran und Überlieferung (Scharia) sei die "Wahrung der Treue" als moralische Pflicht fixiert. Übergebe ein Mensch einem Treuhänder ein Gut, so sei der verpflichtet, es zu schützen, aufzubewahren und zum rechten Zeitpunkt zurückzuerstatten. Nach diesen Quellen sei auch die politische Macht als Treuhandgut zu begreifen, das von den ursprünglichen Besitzern, einem anderen oder einer Personengruppe auf Zeit überlassen werde. Die umfangreichen Ausführungen Eshkevaris können hier nur andeutungsweise wiedergegeben werden. Es ist aber plausibel, dass im Islam eine Deutung des Menschen als zu Besitz, eigenem Ratschluss und Vertrag befähigte Person seit langem vorhanden sein muss, da anders die für diesen Kulturraum von Anfang an typischen, weit über Zeit und Raum gespannten Handelsbeziehungen nicht geordnet hätten werden können.

Wird die politische Macht als weltliches Gut begriffen, das durch den Akt der Wahl treuhänderisch übertragen wird, so ist die Korrektheit des Verfahrens bei der Rückerstattung bzw. der Neu-Überlassung von entscheidender Bedeutung. Hat Ahmadinedschad nebst Anhang die Wahl gefälscht, so findet er sich in der Rolle des Treuhänders, der versucht das anvertraute Gut an sich zu reißen. Wird umgekehrt behauptet, die Wahl sei im wesentlichen korrekt verlaufen, dann versucht die Oppositionsbewegung dem Treuhänder ein Gut zu rauben, das er schützen muss. Der Wächterrat hat, als er den Hergang der Wahl und ihr Ergebnis absegnete, nicht eine geistliche Frage - nach der Gottgefälligkeit von Personen und Programmen - beurteilt, sondern eine weltliche, ein Vertragsverhältnis zwischen Menschen.

Die Parteikämpfe in der islamischen Republik Iran lassen erkennen, dass in der islamischen Republik Iran Differenzierungsprozesse zwischen der Religion und der politischen Macht im Gange sind und, was wichtig ist, dass diese Prozesse auf der eigenen kulturellen Grundlage einsetzten, nicht etwa als Konflikt mit Ideen aus dem Ausland. Sieht man den Iran im Übergang von einer vorindustriellen zu Industriegesellschaft, wird deutlich, dass neben die Differenzierung von Religion und Politik auch eine Differenzierung von Staat und Wirtschaft bzw. "Kirche" und Wirtschaft treten muss.

Es gibt viele Anhaltspunkte dafür, dass das Regime Ahmadinedschads sich gegen solche Differenzierungsprozesse sperrt und im Gegenteil, Zie Vermengung von politischer Macht und Bewegung mit der Wirtschaft fördert. Eine solche Politik ermöglicht Wohlfahrsversprechen der politischen Macht an die Armen und sie ermöglicht Unterbringung verdienter Revolutionsfunktionäre auf vorteilhaften Posten. Sie ist vor allem dann möglich, wenn der Staat erhebliche Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft hat. Eine solche Politik kann schließlich durch Zentralisation großer Mittel beim Staat wirtschaftlich kostspielige Prestigeprojekte vorantreiben. Ahmadinedschads Politik hätte somit eine Basis in der großen Zahl der Verarmten und sie hätte eine große Basis bei den aktiven Parteikämpfern, die Einkommen und Ehren aus der staatlichen Wirtschaft ziehen, sie könnte wegen der ehrgeizigen technologischen Projekte auch auf Zustimmung aus Kreisen der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz rechnen. Gleichwohl bliebe die Vermengung von sozialen Funktionen ein Entwicklungshindernis.

Ein Seitenblick auf die Türkische Republik macht die Problematik deutlich, die entsteht, wenn Staat, Militär und Wirtschaft zu einem einheitlichen Machtkomplex zusammengezogen werden. Dort kam es zu einem Pakt zwischen den industriell orientierten nationalistischen Kräften und den rückständigsten Teilen der Gesellschaft, dem halbfeudalen Großgrundbesitz, der die bäuerlichen Massen und die nationalen Minderheiten mit brutaler Gewalt in Schach hielt. Die damit verbundene Nicht-Entwicklung der Gesellschaft hat in der Türkischen Republik eine Oppositionsbewegung ausgelöst, die von Kräften der Privatwirtschaft unter islamischer Flagge geführt wird. Ein wichtiger Punkt für den Erfolg dieser Bewegung war ihr Bereitschaft, sich auf Wahlen einzulassen.

Auch wenn das Regime Ahmadinedschads bei diesen Wahlen eine Mehrheit hinter sich gebracht haben sollte, seine Bereitschaft den Weg der Wahlfälschung und der "Veruntreuung" zu gehen, ist unverkennbar hervorgetreten. Das mag ein Grund für den hartnäckigen und zu schweren Opfern bereiten Widerstand der unterlegenen Parteien sein. Es bleibt unklar, ob sich das bestehende Machtkartell um Ahmadinedschad auf den Weg einer demokratischen Auseinandersetzung einlassen wird. Ziemlich wahrscheinlich ist aber, dass die Islamische Republik Iran sich in einem Stadium befindet, in der die Verklumpung der Politik mit Wirtschaft und Religion zum ernsten Entwicklungshindernis geworden ist. Politischer Machterhalt ist nicht gleichbedeutend mit gesellschaftlicher Stabilisierung, von Entwicklung ganz zu schweigen.

Es scheint aber, als könne im Iran eine Opposition entstehen, die als Modernisierungs- und Demokratiebewegung nicht im glatten Gegensatz zu Religion und Tradition steht, sondern diese selbst erfasst und umgestaltet. In diesem Fall würden Versuche, den dortigen Entwicklungen Ziele aufzupropfen, die Auseinandersetzungen verschärfen. Sie würden der Opposition den Boden unter den Füssen wegziehen, weil der Bezug auf den einzelnen Menschen als Treugeber der politischen Macht und damit als Quelle von Legitimation zu schaden käme.

Wenn auch bei der Entwicklung des Iran die inneren Entwicklungen dieser Gesellschaft entscheidend sein werden, so ist diese von der internationalen Entwicklung nicht unbeeinflusst. Würde die Politik der Westmächte, ihre Interventionskriege "gegen den Terror" in eine strikte Defensivpolitik umgewandelt, und würde dieser Wandel hin zur "Nicht-Intervention" durch unübersehbare Fakten deutlich gemacht werden, so würden die Chancen für eine demokratische Entwicklung der Islamischen Republik Iran ganz erheblich zunehmen. Gegenwärtig fehlt ein Plan zum Rückzug aus Afghanistan.

Martin Fochler


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Einen Eindruck vom Stand der Industrialisierung des Irans außerhalb der Erdölförderung und Rüstungsproduktion geben deutsch-iranische Projekte: Im Bild eine Mühle für Rohmehl als Vorstufe für die Baustoffindustrie, ein Schritt im Wandel vom Agrar- zum Industrieland. Die Exporte des Iran nach der BRD sind neben Erdöl hauptsächlich Lebensmittel.

Raute

REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES

AUSLANDSNACHRICHTEN


Europawahlen: Extreme Rechte auf dem Vormarsch

Nicht nur rechtskonservative antieuropäische Parteien, auch direkt neofaschistische und andere Parteien der extremen, nationalistischen Rechten haben bei den Europawahlen in vielen Ländern ihren Einfluss ausbauen können. Zu diesen Parteien gehören: Jobbik (Ungarn): 3 Mandate (2004: 0), Großrumänenpartei: 3 Mandate (2), FPÖ (Österreich): 2 Mandate (1), Dänische Volkspartei: 2 Mandate (1), Britische National-Partei: 2 Mandate (0), PVV Niederlande: 4 Mandate (0), Vlaams Belang (Belgien): 2 Mandate (0); die Wahren Finnen: 1 Mandat (0); Laos (Griechenland): 2 Mandate (2); Ataka (Bulgarien): 2 Mandate (3); Front National (Frankreich): 3 Mandate (7); Lega Nord (Italien): 9 Mandate (4). Inzwischen haben 20 Abgeordnete der extremen Rechten aus sieben Ländern eine eigene Fraktion - "Identität, Tradition und Souveränität" - im EU-Parlament gegründet; dies schien zunächst fraglich. Ihr Vorsitzender wird wahrscheinlich der Vize-Chef der französischen FN werden, Bruno Gollnisch, gegen den zurzeit in Lyon ein Strafverfahren wegen Holocaust-Leugnung läuft.

Der Rechtstrend bildet sich auch in der Bildung einer neuen rechtskonservativen Fraktion ab, der "European Conservatives and Reformists Group". Ihr werden vermutlich die britischen Tories angehören, die damit aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei EVP austräten. Weitere Mitglieder dürften die islam-kritische belgische Liste Dedecker, die wertkonservative Regierungspartei Christen-Union (CU) aus den Niederlanden, das rechtsliberale Ungarische Demokratische Forum MDF, "Recht und Gerechtigkeit" aus Polen, die tschechische Demokratische Bürgerpartei, die rechtsnationale lettische Partei für Vaterland und Freiheit, die Partei der polnischen Minderheit in Litauen angehören. Die Verhandlungen mit der Lega Nord dagegen sind gescheitert.

Insgesamt stellen neofaschistische, rechtspopulistische und nationalkonservative Parteien künftig rund 120 Abgeordnete und haben damit etwa 18% der insgesamt 736 Sitze des Europaparlaments inne.


Bedrohung der Roma, Schürung von Nationalitätenkonflikten

Ungarn: Besonders beunruhigend ist der Wahlerfolg von Jobbik. Die Partei erreichte fast 15% und realisierte bei den Europawahlen zusammen mit der nationalkonservativen, eine autoritäre Präsidialherrschaft anstrebende Fidesz (56,37%) eine Zweidrittelmehrheit. Jobbik ist eine antisemitische und antizigane neofaschistische Partei. Sie ist die Partei hinter der berüchtigten paramilitärischen "Ungarischen Garde", die sich die "Lösung der Zigeunerfrage" auf die Fahnen geschrieben hat und deren Aufmärsche die große Minderheit der Roma in Ungarn in Angst und Schrecken versetzt. Die Zeitung "Pester Lloyd" charakterisierte kurz vor den Europawahlen die "Ungarische Grade" als "rechtsextreme, martialisch auftretende Bande, die sich zum 'Schutz des Ungarntums' rekrutierte und in der sich brave Schwiegersöhne in Uniformen der Pfeilkreuzler (die damals die ungarischen Juden an die Nazis auslieferten, bzw. selbst umbrachten) als Bürgersoldaten für Recht und Ordnung aufspielen, beklatscht von ihren Mamis am Straßenrand." Trotz eines bisher ergebnislosen Verbotsverfahrens gegen die "Garde" hat eine Polizeigewerkschaft inzwischen ein "Sicherheitsabkommen" mit Jobbik geschlossen. Das ist umso beunruhigender, als die Zahl von Anschlägen auf Roma zunimmt, mit oft auch tödlichen Folgen. Ungarns Polizei als "Freund und Helfer" von Nazis, fragte der Pester Lloyd.

Rumänien: "Wider Erwarten ist es der 'Partidul Romania Mare' (PRM) von Parteichef Corneliu Vadim Tudor gelungen, nicht nur die in Rumänien geltende 5-Prozent-Hürde zu überspringen, sondern mit 8,7 Prozent sogar drei Abgeordnete nach Brüssel zu entsenden - darunter auch den Inhaber des Fußballclubs 'Steaua Bukarest', Gikgi Becali. Nach dem Scheitern der PRM bei den Nachwahlen zum Europaparlament im November 2007 mit 4,2 Prozent und bei der nationalen Parlamentswahl 2008 mit 3,2 Prozent galt sie zunächst als politisches Auslaufmodell. Im Parteiblatt, der Wochenzeitung 'Romania Mare', ist die Rede von 'stinkenden Zigeunern' oder von 'blutrünstigen amerikanischen Spionen'. Tudor selbst forderte in der Vergangenehit die 'Liquidierung von Zigeunern', tritt für die Wiedereinführung der Todesstrafe ein und will Lager für die ungarische Minderheit errichten." (Carsten Hübner, Antifaschistische Nachrichten 12/09)

Slowakei: Auch die extrem rechte Slowakische Nationalpartei errang einen Sitz. Die SNS schürt antiungarische Ressentiments. Auf der Internetseite der Partei war 2008 mehrere Tage lang eine Europa-Karte zu sehen, auf der Ungarn zwischen Österreich (westlich der Donau) und der Slowakei (östlich der Donau) aufgeteilt war. Die Karte wurde zwar nach einigen Tagen entfernt, jedoch ohne Stellungnahme. Der SNS-Vorsitzende hetzt gegen Ungarn als "mongolische Horden". Auch gegen Roma und Homosexuelle richten sich immer wieder die Hasstiraden der SNS, die als kleiner Koalitionspartner der Sozialdemokraten in der Regierung vertreten sind.

Migrantenfeindlichkeit, Antiislamismus und Rassismus, verbunden mit strikt antieuropäischem Kurs verhalfen in Großbritannien, den Niederlanden, Belgien und Dänemark Parteien der extremen Rechten zu Wahlerfolgen.

In Großbritannien errang die neonazistische BNP, die nur "Weiße" als Mitglieder zulässt, landesweit 6,5 Prozent. In einigen früheren Labour-Hochburgen errang sie zwischen 12 und 16 Prozent. Die Wilders-Partei PVV wurde mit Slogans wie "Auflösung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission", "fünfjähriger Einwanderungsstopp für Muslime" oder "Einführung von Umerziehungslagern" zweitstärkste Kraft in den Niederlanden (knapp 17%).


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Jobbik Aufmarsch in Ungarn

Quellen: Diverse Tageszeitungen, Antifa-Nachrichten 12/09

Raute

AKTIONEN ... INITIATIVEN

Bundesweite Nacht der Solidarität

BERLIN. Bereits zum sechsten Mal begingen am 20. Juni 2009 in ganz Deutschland AIDS-Hilfen, Kirchengemeinden und Eine-Welt-Gruppen die Nacht der Solidarität. Mit großen Lichterschleifen auf öffentlichen Plätzen wurde auf das Schicksal der weltweit 33,2 Millionen HIV-positiven Menschen aufmerksam gemacht. Schwerpunkt in diesem Jahr sind die Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Bekämpfung von HIV und Aids. Gerade in den Entwicklungsländern hat sie dramatische Auswirkungen: "Mindestens 30 Millionen Menschen werden ihren Arbeitsplatz verlieren. In den betroffenen Haushalten bedeutet das, dass weniger oder gar kein Geld für die nötigen Behandlungsmaßnahmen zur Verfügung steht.

Auch die durch Armut erzwungene Entscheidung, entweder Medikamente oder Lebensmittel zu kaufen, ist für Menschen mit HIV und Aids fatal: Sie benötigen beides in ausreichendem Maße, denn unter der Behandlung von antiretroviralen Medikamenten wird die aufgenommene Nahrung im Körper viel schneller abgebaut", so Dr. Birte Rodenberg, politische Beraterin im Aktionsbündnis gegen AIDS. Mit der Unterschriftenkampagne "Leben vor Pharmaprofit! Patente können tödlich sein" fordert das Aktionsbündnis drei Pharmaunternehmen auf, freiwillig auf ihre Patente in Indien zu verzichten und so die Versorgung der Ärmsten mit Aids-Medikamenten nicht wie bisher zu behindern.
www.aids-kampagne.de


"CO-Pipeline stoppen"-Demonstration am 15. August 2009

DÜSSELDORF. Der Leverkusener Multi Bayer will hochgiftiges Kohlenmonoxid per Pipeline von seinem Dormagener Werk zum Standort Krefeld leiten. Nach Ansicht der Coordination gegen Bayer-Gefahren existiert kein öffentliches Interesse an dem Bau der Rohrleitung - hierdurch entfällt die Rechtsgrundlage für das risikoreiche Projekt, besonders für die notwendigen Enteignungen. Deshalb ruft die Initiative zu einer landesweiten Demonstration am 15. August 2009 in Düsseldorf auf. In ihrem Flugblatt heißt es: "Seit 2005 möchte der Bayer-Konzern in einer inzwischen schon fast fertig gebauten Pipeline hochgefährliches tödliches CO-Giftgas über 67 Kilometer durch dicht besiedeltes Gebiet von Dormagen nach Krefeld leiten. Mit Rückendeckung der Landesregierung und einem eigens dafür einstimmig (!) beschlossenen Landesgesetz im Rücken. Aber gegen den erbitterten Widerstand der Bevölkerung und den geschlossenen (!!) Protest der Kommunalpolitik. Auch wurde der Betrieb der Leitung 2008 höchstrichterlich untersagt. Ein Eilverfahren von Bayer gegen diese Entscheidung in 2009 wurde gerichtlich abgeschmettert. Was jedoch den Bayer-Konzern und die Landesregierung nicht hindert, rücksichtslos an der Giftgas-Pipeline festzuhalten. Deshalb gilt es, den Widerstand weiter zu verstärken! Heraus zur zentralen Demonstration am 15. August in Düsseldorf. Der Bau der CO-Pipeline muss gestoppt werden!"
www.cbgnetwork.org


"Deutschland blockiert Reform des EU-Flüchtlingsrechts"

BERLIN. Deutschland blockiert notwendige Reformen des europäischen Flüchtlingsrechts und entzieht sich zunehmend seiner Verantwortung, Schutzbedürftige in Deutschland aufzunehmen, kritisierten Amnesty International und Pro Asyl anlässlich des 9. Berliner Symposiums zum Flüchtlingsschutz in Berlin. Trotz anhaltend hoher Flüchtlingszahlen weltweit ist es immer weniger Menschen überhaupt möglich, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. Zum einen gelangt ein Großteil der Flüchtlinge mit Ziel Europa gar nicht erst auf EU-Territorium. Entgegen ihrer völkerrechtlichen Verpflichtungen fangen EU-Grenzkontrolleure Flüchtlingsboote auf hoher See ab, ohne ihnen Zugang zu einem Asylverfahren zu gewähren. Zum andern ist Deutschland aufgrund seiner geographischen Mittellage nach den Regeln des europäischen Flüchtlingsrechts nur selten für die Prüfung von Asylgesuchen zuständig. Malta beispielsweise ist derzeit gemessen an der Einwohnerzahl für rund 19 Mal mehr Asylgesuche zuständig als die Bundesrepublik Deutschland. Deutschland darf sich nicht weiter gegen eine gerechtere Verteilung der Asylbewerber sperren, wie sie die EU-Kommission vorgeschlagen hat, forderten Pro Asyl und Amnesty International.

Die Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen sind überfordert. In Griechenland müssen viele Asylbewerber zum Teil Monate warten, bis sie einen Asylantrag stellen können. Da es keine hinreichenden Unterbringungsplätze gibt, müssen die meisten Asylsuchenden auf der Straße und in Parks schlafen. "Besonders dramatisch ist, dass die griechischen Asylverfahren weit unterhalb rechtsstaatlicher Standards liegen", sagte Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl. "Die zuständigen deutschen Behörden müssen sofort damit aufhören, Flüchtlinge nach Griechenland zurückschicken." "Es ist kaum noch möglich, Zugang zu einem fairen Asylverfahren in Europa zu erhalten", sagte Wiebke Hennig, Flüchtlingsreferentin von Amnesty International. "Das ist nicht nur völkerrechtswidrig, es ist auch beschämend für eine EU, die erst letztes Jahr offiziell ihr Vorhaben bekräftigt hat, ein 'Europa des Asyls' zu schaffen."
www.amnesty.de


Hilfsorganisation baut Flüchtlingslager nach - Ausstellung vom 20.6. bis 12.7.09

FRANKFURT A.M. Anlässlich des Weltflüchtlingstages am 20. Juni hat die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" in Frankfurt unter freiem Himmel ein Flüchtlingslager nachgebaut. Die Ausstellung "Überleben auf der Flucht" soll zeigen, unter welchen Bedingungen Flüchtlinge und Vertriebene weltweit leben und wie die Organisation arbeitet. Nach Angaben der Vereinten Nationen waren im Jahr 2007 mehr als 31 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Ärzte ohne Grenzen hat im Jahr 2008 in 37 Ländern Flüchtlinge und Vertriebene betreut, u. a. in Sri Lanka, Malta, Pakistan, Kolumbien, im Sudan, dem angrenzenden Tschad und in der Demokratische Republik Kongo. Insgesamt macht die medizinische Hilfe der Flüchtlinge und Vertriebene 70 Prozent der Arbeit von Ärzte ohne Grenzen aus. Besucher sehen in der Ausstellung, wie typische Unterkünfte für Flüchtlinge aussehen und die Wasserversorgung funktioniert, wie mangelernährte Kinder in einem Ernährungszentrum versorgt und Cholera-Patienten behandelt werden. Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen bieten Führungen an und berichten von ihren Erfahrungen. Fotos, Videos und Informationsstände geben zusätzlich Einblick in die Arbeit der Organisation. Das Flüchtlingslager ist bis zum 12. Juli auf der Bockenheimer Warte, täglich von 10 bis 20 Uhr zu sehen. Der Eintritt zur Ausstellung ist frei. Nach Voranmeldung werden für Gruppen eigene Führungen organisiert. Schulklassen sind sehr willkommen.
www.aerzte-ohne-grenzen.de


Große Beteiligung am Plakataufruf "Total verwählt?"

PIRNA. "Total verwählt?" - war der Aufruf des Projekts "Jugend wählt - 2009" für eine landkreisweite Plakataktion in der Region Sächsische Schweiz - Osterzgebirge, im Zuge des Superwahljahres 2009. Junge Menschen sollten sich einen "kreativen, lustigen, provokanten Spruch/Slogan für ein fetziges Wahlplakat" überlegen. Die Resonanz war enorm - aus über 58 Einsendungen (darunter auch 3 aus Bulgarien) wählte der Trägerkreis der Aktion seine Favoriten aus. Ab Mitte August werden die Plakate sechs Wochen lang im Landkreis aushängen und zum "geh wählen" aufrufen. Diese Aktion stellt jedoch keine Werbekampagne für Parteien oder einzelne PolitikerInnen dar, sondern wirbt für politisches Engagement bei jungen Menschen. Denn vom Meckern alleine hat sich noch nie etwas verändert! Alle Plakate werden auch zur "Wahlparty" (Präsentation der Wahlergebnisse der U18 Wahl) am 19.9.09 im Jugendhaus Hanno in Pirna ausgestellt. Derzeit können sie angesehen werden auf der Homepage.
www.aktion-zivilcourage.de


Mehr Demokratie: "Europa muss bürgernäher werden"

BERLIN. Angesichts der niedrigen Beteiligung an der Europawahl fordert der Verein Mehr Demokratie eine grundsätzliche Demokratie-Reform in der EU. "Die Menschen interessieren sich nur dann für Europa, wenn sie das Gefühl haben, tatsächlich etwas bewegen zu können", sagt Claudine Nierth, Vorstandssprecherin von Mehr Demokratie.

Die Lösungsvorschläge, die nach der erneut niedrigen Wahlbeteiligung von 43,3 Prozent von den Parteien kommen, sind nach Ansicht von Mehr Demokratie zu stark auf die Wahlen fixiert.

So fordert der SPD-Bundestagsabgeordnete Jörn Thießen die Wahlpflicht, während SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz über eine Wahl per Internet nachdenkt. Von Seiten der CDU werden Stimmen für die Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten oder der nationalen EU-Kommissare laut. "Das sind rein kosmetische Lösungsvorschläge", so Nierth. "Die Bürger haben mit ihrer niedrigen Wahlbeteiligung quittiert, dass das Europäische Parlament das schwächste Parlament der demokratischen Welt ist und dass sie selbst nur geringe Einflussmöglichkeiten haben." Um das Interesse an europäischen Fragen zu wecken, müsse ein Europa der Bürger entstehen, das sie selbst mitgestalten können. Mehr Demokratie fordert deshalb als Ergänzung zu den Wahlen Volksabstimmungen zu europapolitischen Fragen. "Volksabstimmungen sind große Bildungsveranstaltungen", so Nierth. "Wer zu einem Thema gefragt wird, fühlt sich ernst genommen und beschäftigt sich damit." So hätten etwa die Franzosen vor dem Referendum über die EU-Verfassung in Frankreich 2005 Bücher in Millionenauflage zum Thema EU gekauft. Die Angst vor der EU-Skepsis der Bürger sein weitgehend unbegründet, meint Nierth. Seit 1972 gab es in Europa 50 Volksabstimmungen über europapolitische Fragen. In 80 Prozent davon sprachen sich die Abstimmenden für eine stärkere Zusammenarbeit in Europa aus. Auch EU-kritische Ergebnisse könnten helfen, die Union weiter zu entwickeln und bürgernäher zu gestalten.
www.mehr-demokratie.de


Denkmal für die Opfer von Nazi-Verbrechen nach vier Tagen entfernt

MITTENWALD. Am Pfingstsamstag stellte der Arbeitskreis "Angreifbare Traditionspflege" auf dem Bahnhofsvorplatz in Mittenwald ein Denkmal für die Opfer von Nazi-Verbrechen auf. An der Feierlichkeit nahmen über 200 Menschen aus verschieden Ländern teil. Das Denkmal wurde in einem bewegenden Akt von Maurice Cling, Max Tzwangue, Marcella und Enzo de Negri enthüllt. Maurice Cling ist Auschwitzüberlebender, der nach dem Todesmarsch von Dachau von Alliierten in Mittenwald befreit wurde. Max Tzwangue war französischer Widerstandskämpfer. Marcella und Enzo de Negri sind die Kinder des auf der griechischen Insel Kephallonia von Gebirgsjägern ermordeten Hauptmann Cap. Francesco de Negri. Das Denkmal stellt die Trauer über die unzähligen Toten des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges in den Mittelpunkt. In der Glasvitrine auf der massiven Metallstele befinden sich Steine und Überbleibsel aus den Ruinen des von Gebirgsjägern am 27. Juni 1944 zerstörten italienischen Ortes Falzano di Cortona, die von der dortigen Gemeinde gestiftet wurden. Seit September vergangenen Jahres muss sich der ehemalige Offizier der Gebirgsjäger, Josef Scheungraber, für dieses Verbrechen vor dem Landgericht München verantworten.

Die Vitrine trägt die Inschriften: "In Trauer um die Opfer der Kriegsverbrechen, die im 2. Weltkrieg von Gebirgsjägern der deutschen Wehrmacht in ganz Europa begangen wurden. In Gedenken an die unter Beteilung der Gebirgstruppe deportierten und ermordeten Jüdinnen und Juden. In Erinnerung an den Todesmarsch aus dem KZ Dachau, der am 1. Mai 1945 in Mittenwald befreit wurde. Der Gemeinde Mittenwald gestiftet am 30. Mai 2009 vom AK 'Angreifbare Traditionspflege'. Die verwendeten Steine stammen aus dem Ort Falzano di Cortona. Der Ort wurde am 27. Juni 1944 von deutschen Gebirgsjägern zerstört. Nie wieder Krieg - Nie wieder Faschismus."

Nach der Denkmalsenthüllung fand eine Demonstration statt, bei der auf die Verbrechen der Gebirgsjäger aufmerksam gemacht wurde. Die Demonstranten forderten die Verurteilung der Täter und die Entschädigung der Opfer. Sprecher des AK Angreifbare Traditionspflege erhoben die Forderung nach Auflösung des Kameradenkreises der Gebirgstruppe. Das Denkmal ist eine Schenkung des AK Angreifbare Traditionspflege, der seit sieben Jahren gegen die Traditionsfeier der Gebirgstruppe protestiert. Es bildete einen würdigen Abschluss der Proteste. Und Maurice Cling, den kein Vertreter der Gemeinde offiziell begrüße, hatte bei der Enthüllung gesagt, dass er das Denkmal stellvertretend für die enthüllen würde, die auf dem Todesmarsch ermordet wurden. Erst mit diesem würdigen Gedenken sei für ihn der Todesmarsch beendet. Doch es stand nur vier Tage am Ort. Der AK protestiert gegen die Entfernung des Denkmals und kündigt an, dass er somit die internationale Kampagne und Diskussion fortsetzen muss.
www.keine-ruhe.org


Aktiv gegen Kinderarbeit

218 Millionen Kinder unter 15 Jahren arbeiten, davon 126 Millionen unter ausbeuterischen Bedingungen. 73 Millionen sind jünger als 10 Jahre. Diese Zahlen veröffentlichte die ILO (Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen) im Jahr 2006. Die Kampagne "Aktiv gegen Kinderarbeit" informiert die Menschen in Deutschland und insbesondere die in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft verantwortlich Handelnden über ihren möglichen Beitrag zur Überwindung der menschenverachtenden ausbeuterischen Kinderarbeit. Über 130 deutsche Städte, Gemeinden, Landkreise und 6 Bundesländer stehen bereits auf der Liste der Kampagne, die die Beschaffung von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit ablehnen. Bundesweit wird die Kampagne wesentlich mitgetragen von Eine-Welt- und Menschenrechts-Gruppen, Weltläden, lokalen Agenda21-Büros und kirchlichen Gruppen.
www.aktiv-gegen-kinderarbeit.de/

Raute

Kommunalwahlen in Baden-Württemberg

Linke Listen und die Partei Die Linke konnten sich festigen

Der Überblick (siehe Tabelle) zeigt, dass die Partei die Linke und linke Listen, an denen die Partei beteiligt ist, gegenüber 2004 zulegen konnten. In den 35 Gemeinden, in denen die Linke kandidierte, reichte es in 26 zu mindestens einem Sitz im Gemeinderat oder Kreistag. Vor allem in Gemeinden mit kleinen Gemeinderäten reichten Stimmergebnisse um die zwei bis drei Prozent nicht, und nach wie vor gibt es auch größere Orte (40-80 Tsd. Einwohner), in denen keine Linken kandidieren.

Dort, wo schon länger linke Politik im Gemeinderat gemacht wird, gab es Stimmen- und damit Mandatszuwächse - mit der Ausnahme von Tübingen, wo ein leichter Rückgang des Stimmergebnisses mit einer Verkleinerung des Gemeinderats zusammengenommen zum Verlust eines Sitzes führte. Waren bisher zwölf Gemeinde- und zwei Kreisräte für die Linke bzw. linke Listen in den Kommunalvertretungen, werden es künftig 39 Gemeinderäte, drei im Parlament für die Region Stuttgart und 24 Kreisräte sein. Allerdings ist die Linke erst in 17 von 35 Kreisen vertreten - diese Ausgangsbasis lässt ein Erreichen der fünf Prozent bei der Landtagswahl in zwei Jahren als ziemlich schwierig erscheinen.

Das Europawahlergebnis war für die Linkspartei eher enttäuschend. Zwar hat sich auch hier das Ergebnis von 2004 mit 1,9 Prozent auf 3,0 Prozent im Landesschnitt verbessert. Es liegt damit aber unter dem Ergebnis der Bundestagswahl von 2005, als PDS und WASG mit ihrer gemeinsamen Liste als Linkspartei mit großem Schwung auf 3,8 Prozent kamen. Kein Trost ist das Argument, die Linke habe schwächer abgeschnitten, weil sich ganz besonders ihre Klientel nicht für Europa interessiert. Denn Interesselosigkeit kann bei jeder Wahl treffen; ebenso, dass die Wahl einer anderen Partei mehr verspricht.

Es war wohl eher eine Mischung aus Gründen. Viele sahen bei der Linkspartei keine europäische Antwort auf brennende Probleme. Es gab in der öffentlichen Wahrnehmung keine Antwort auf die Frage, welche Maßnahmen auf europäischer Ebene gegen die Wirtschaftskrise real was ausrichten können. Es gab darauf eine wirtschaftsliberale Antwort und eine grüne Antwort, beide Parteien konnten daher ihre Anhänger mobilisieren.

Interessant ist auch, dass linke Listen, dort, wo sie nicht als Liste der Partei Die Linke auftraten, eher besser abschneiden. In Stuttgart hat neben der Linkspartei die Liste "Stuttgart-Ökologisch-Sozial" mit 4,6 % sogar drei Mandate erhalten - Stoff also für das Thema Bewegungen, Parteien und ihr Verhältnis zu Opposition und Mitwirken im Staat.

Das Europawahlergebnis deutet auf noch was hin: Ohne einen soliden politischen Unterbau in der Politik der Gemeinden, wird auf der Ebene des Landes nicht viel gehen. In allen Flächenländern des Westens mit Ausnahme des Saarlands blieb die Linkspartei unter fünf Prozent.

Die Wahlergebnisse ernüchtern, sind aber zugleich Ansporn, mit der gestärkten kommunalen Basis etwas anzufangen. Denn eine Opposition von links wird gebraucht; sie muss aber den Nutzen für ihre Wähler nachweisen.


Wahlergebnisse der Linken in Baden-Württemberg
Wahl

2009
Prozent
2004
Prozent
2009
Mandate
2004
Mandate
EP-Wahl 2009
BT-Wahl 2005 Zst
Europaparlament Baden-Württemberg gesamt
Parlament Region Stuttgart
3,0
4,9
1,1
1,7
0
3
1
0
3,0

3,8

Gemeinderäte (kandidiert in 35 von 1101 Gemeinden)
Aalen
Albstadt
Balingen
Esslingen
Freiburg * Linke Liste solid. Stadt
Geislingen Steige ** Junges Geislingen/Die Linke
Giengen a.d. Brenz
Göppingen
Heidelberg ** Bunte Linke/Die Linke
Heidenheim a.d. Brenz
Heilbronn
Karlsruhe
Kehl
Konstanz * Linke Liste.Konstanz
Kornwestheim
Lahr
Leimen
Ludwigsburg
Mannheim (2004 als Linke Liste Mannheim)
Neulußheim
Nußloch
Ostfildern
Pforzheim
Plochingen
Reutlingen * Linke Liste
Rottenburg
Schriesheim
Schwäbisch Gmünd
Schwetzingen
Sindelfingen
Singen * Linke Liste.Singen
Stuttgart
Tauberbischofsheim
Tübingen ** TüL/Die Linke
Ulm
Weinheim
Zwischensumme Gemeinderäte
4,2
1,2
0,7
2,7
7,8
7,2
2,1
2,7
5,6
5,7
2,9
4,2
4,0
4,6
4,8
3,7
4,8
3,7
4,9
2,9
3,3
3,0
2,7
3,2
4,5
3,1
2,0
3,8
2,4
2,9
2,3
4,5
2,8
7,9
3,2
3,4

-
-
-
-
6,3
-
-
-
-
-
-
2,6
-
3,5
-
-
-
-
2,1
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
1,9
-
8,6
-
-

2
-
-
1
4
1
-
1
2
2
1
2
1
2
1
1
1
1
2
-
-
-
1
-
1
1
-
2
-
1
1
2
-
3
1
1
39
-
-
-
-
3
-
-
-
1
-
-
1
-
1
-
-
-
-
1
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
1
-
4
-
-
12
3,7
2,9
2,4
3,2
5,7
5,0
4,1
3,7
4,5
5,0
3,3
4,0
4,2
3,8
3,9
4,2
4,2
4,0
5,1
3,8
3,3
3,2
3,8
3,8
4,0
4,0
2,8
3,0
3,3
3,6
3,3
4,5
2,8
6,5
3,6
3,5

4,0
3,5
3,5
3,5
5,5
6,0
4,6
4,5
4,8
5,1
4,3
5,0
5,3
4,1
4,4
4,6
4,6
4,0
6,6
4,8
3,9
3,1
4,7
3,6
4,3
3,7
3,2
3,5
3,5
3,6
4,3
4,4
3,5
5,5
4,1
4,0

Kreistage (kandidiert in 21 von 35 Landkreisen)
Wahl

2009
Prozent
2004
Prozent
2009
Mandate
2004
Mandate
EP-Wahl 2009
BT-Wahl 2005
Alb Donau Kreis
Biberach
Bodenseekreis
Böblingen
Breisgau Hochschwarzwald
Esslingen
Freudenstadt
Heidenheim
Heilbronn (Landkreis)
Konstanz
Lörrach
Ludwigsburg
Main Tauber Kreis
Ortenaukreis
Ostalbkreis
Ravensburg
Rems Murr Kreis
Reutlingen
Rhein Neckar Kreis
Tübingen ** TüL/Die Linke
Zollernalbkreis
Zwischensumme Kreisräte
Mandate kommunal und regional gesamt
Mandatsträger (weniger als Mandate aufgrund
Doppelmandate)
Frauenanteil:
0,6
1,9
2,4
1,9
0,5
2,0
0,9
3,8
2,5
2,8
0,5
2,9
2,5
2,5
2,9
1,8
1,5
2,8
3,0
6,2
1,9





-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-





0
1
1
1
0
1
0
1
1
1
0
2
1
1
2
1
1
2
3
3
1
24
66
56
12
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
2
-
2
14
13
6
2,2
2,3
2,6
2,6
2,4
2,6
2,2
3,7
2,7
2,9
2,9
3,0
2,8
2,8
2,9
2,5
2,6
3,2
3,2
4,8
2,8





2,8
2,6
3,3
3,0
3,5
3,0
3,1
4,4
3,5
3,8
4,0
3,5
3,3
4,2
3,6
3,1
3,3
3,5
4,2
4,3
3,5





* Wählervereinigung unterstützt von der Partei Die Linke
** Gemeinsamer Wahlvorschlag von Wählervereinigung mit der Partei Die Linke
Quellen: Stat. Landesamt, Internetseiten der Gemeinden und Landkreise


Stuttgart hat gewählt - und nun?

Die CDU verliert und ist mit 15 Mandaten gegenüber vorher 21 nur noch zweitstärkste Fraktion. Die SPD verliert auch und ist nur noch mit zehn, statt bisher 14 im Gemeinderat. Die Grünen werden stärkste Fraktion mit 16 Mandaten (11); sie kriegen Stimmen für ihre Parole "Stuttgart 21 abwählen". Mit derselben Losung, nur vielleicht etwas radikaler, trat die Liste SÖS ("Parteifreies Bündnis Stuttgart-Ökologisch-Sozial") an, sie erhielt dafür drei Mandate, statt bisher einem Sitz. Die Linke, bisher eine Gemeinderätin, verfehlte knapp den dritten Sitz. Sie wurde in der Öffentlichkeit vor allem als dritte Partei gegen Stuttgart 21 wahrgenommen; die Ortspartei hatte auch entsprechend plakatiert. Eine Rolle spielte allerdings auch die beharrliche Oppositionsarbeit der Einzelstadträtin der Linken vor allem bei sozialen Fragen: Ulrike Küstler wurde auf Platz 1 der Liste bestätigt. Der zweite Gemeinderat, Thomas Adler, kommt aus dem gewerkschaftsoppositionellen Milieu; er ist seit Jahren Betriebsrat bei Daimler für die Liste "Alternative". Bei den Bürgerlichen verschiebt sich einiges zur FDP (7 statt 4) und kaum was zu den Freien Wählern (6 wie bisher). Die REP verlieren einen Sitz und sind nur noch mit ihrem Bundesvorsitzenden Schlierer im Rat.

Hin ist damit die bisherige "bürgerliche Mehrheit" aus CDU, Freien Wählern und FDP, die über 31 Stimmen verfügten und zusammen mit der Stimme des OB kalt soziale Interessen und Bürgerbeteiligung abblitzen lassen konnten. Es gibt jetzt rein rechnerisch eine hauchdünne Mehrheit von Rot-rot-Grün-grün: SPD, Grüne, SÖS und die Linke verfügen zusammen über 31 Sitze im Gemeinderat. Aber wird sich diese rechnerische Mehrheit in politischen Projekten realisieren lassen und auch dann noch, wenn die Bundestagswahlen um sind und das Schwarzbrot der Haushaltsberatungen für 2010/2011 im Gemeinderat ansteht?

Da wird es sicher nicht um Stuttgart 21 gehen, womit die Grünen einen Gutteil ihrer Wählerschaft gefangen haben. Es wird darum gehen, wie die Stadtgesellschaft und ihre politischen Vertreter im Gemeinderat die schwere Wirtschaftskrise überwinden wollen. Werden Konzepte der brutalen Abwälzung von Krisenfolgen auf die unteren Schichten der Gesellschaft Erfolg haben? Die Grünen haben oft mitgemacht; sozial gehören sie den Besserverdienenden an, und wer schon erlebt hat, wie da über Hartz-IV-Empfänger im verächtlichsten Ton gesprochen wird, der erwartet nicht unbedingt Beschlüsse, die die Interessen der Armen berücksichtigen. Entsprechende Abstimmungen bei Sozialleistungen in den Haushaltsberatungen vergangener Jahre zusammen mit CDU, FDP und Freie Wähler sind nicht vergessen.

Bei ihnen heißt mehr Bildung: mehr Bildung für die Kinder derjenigen, die gebildet sind und diesen Status sichern wollen. Dann geht es um Förderung diverser grüner Industrien, was dem dort tätigen Klientel vielleicht was bringt, aber kein Konzept ist für den nötigen Umbau der Industriegesellschaft, insbesondere in der "Autostadt" Stuttgart.

Auch die anderen Teile einer rechnerischen linken Mehrheit finden vielleicht nicht einfach zueinander. Die SPD hat (im übrigen ebenso die Partei die Linke) Probleme der Neuorientierung: Umbau der Industriegesellschaft; Verhältnis Individuum-Staat sind nur ganz grobe Stichworte der programmtischen Diskussion, die aber auch in die Kommunalpolitik hinein wirken.

Ziemlich unberechenbar ist SÖS. Außer der Ablehnung von Stuttgart 21 ist kaum ein realisierbares Programm erkennbar. Bisher hatte der Stadtrat von SÖS Hannes Rockenbauch fast immer mit der Gemeinderätin der Linken gestimmt. Auf der Grundlage, dass die jeweiligen Wahlprogramme ausreichend Schnittmengen bieten, haben sich jetzt die gewählten Stadträte von SÖS und Linke geeinigt, eine Fraktionsgemeinschaft zu bilden. Bei SÖS ist das bereits durch eine Mitgliederversammlung und eine sogenannte Bürgerinitiativenversammlung mit deutlichen Mehrheiten gebilligt worden. Der Kreisverband der Linken wird bei Erscheinen dieser Zeitung sein Votum abgegeben haben; es wird mit Zustimmung gerechnet. Die Vorteile einer Fraktionsgemeinschaft - mehr Sitze in den Ausschüssen und eventuell auch Aufsichtsgremien städtischer Gesellschaften, bessere finanzielle Ausstattung - haben den Ausschlag gegeben, diesen bestimmt nicht einfachen Schritt zu gehen. Dazu kommt, dass bei der Bestimmung der Bezirksbeiräte bei einer gemeinsamen Fraktion 22 statt elf benannt werden können - eine wichtige Ausgangsbasis für die nächsten Kommunalwahlen, bei denen es dann vielleicht auch eine Direktwahl der Bezirksbeiräte geben wird.

Spannend wird jetzt sein, ob die Grünen dafür sorgen, dass in allen Ausschüssen eine bürgerliche Mehrheit verhindert wird - ohne Absprachen von Grüne, SPD, SÖS und Linke können CDU, FDP und Freie Wähler in allen beschließenden Ausschüssen eine Pattsituation herbeiführen, bei der dann die Stimme des OB (CDU) entscheidet.

Auf jeden Fall ist das Wahlergebnis für alle "großen" Parteien ein Menetekel. Erstens ist keine von ihnen mehr wirklich "groß". Auch wenn die Grünen angeberisch davon sprechen, sie seien die neue bürgerliche Volkspartei: mehr als ein Viertel der (wählenden) Stadtbevölkerung haben sie nicht erreicht.

Die CDU und zum Teil auch die SPD sind dafür abgestraft worden, dass sie immer davon schwätzen, diese Politik oder jenes Vorhaben sei "alternativlos". Politik hat immer Alternativen, über diese muss gestritten werden, und zwar nicht in Expertengremien oder nichtöffentlichen Ausschüssen. Alle Einwohner in der Stadt müssen die Möglichkeit haben, abzuwägen und auch zu entscheiden. Bürgerentscheide über wichtige Vorhaben müssen die Regel werden, und zwar bevor die Projekte in die eigentliche Planungs- und Umsetzungsphase gehen. Das sollten sich auch die jetzt größer gewordenen Grünen hinter die Ohren schreiben; schließlich haben sie in den 90er Jahre, als das Projekt Stuttgart 21 gestartet wurde, auch nicht dafür gesorgt, dass die Bevölkerung darüber direkt entscheiden konnte, sondern erst jetzt, unmittelbar vor Baubeginn, Empörung und Unzufriedenheit für sich in die Wahlurne umgelenkt.

Alfred Küstler


*


Besonderheit des baden-württembergischen Kommunalwahlrechts

Jeder Wähler hat so viele Stimmen, wie Gemeinderäte (bzw. Kreisräte im Wahlbezirk) zu wählen sind, in Stuttgart z.B., wo 60 Gemeinderäte zu bestimmen sind, hat jeder 60 Stimmen. Diese Stimmen können entweder einer Liste gegeben werden, dann erhält jeder Kandidat auf der Liste eine Stimme; Pech für Einzelbewerber oder Gruppen, die keine "volle Liste" aufstellen können. Es kann aber auch einzelne Personen mit bis zu drei Stimmen gewählt werden (kumulieren). Ebenfalls ist es möglich, Bewerber quer zu den Listen zu bestimmen (panaschieren). Das schafft ein starkes Moment der Persönlichkeitswahl, da die Wähler unter Umständen die Reihenfolge, die die Parteien und Gruppen bei der Listenaufstellung bestimmt haben, durcheinanderbringen. Es kommt vor, dass ein Bewerber auf dem letzten Listenplatz soweit nach vorne gewählt wird, dass er ein Mandat erhält. Von diesen Möglichkeiten des Kumulieren und Panaschieren wird kräftig Gebrauch gemacht, normalerweise je kleiner die Gemeinde, um so eher. Aber auch in den Großstädten gibt es mehr veränderte als unveränderte Stimmzettel: In Stuttgart haben bei dieser Wahl 62,8 Prozent der Wählerinnen und Wähler von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht (am wenigsten bei FDP und Grünen mit 56 bzw. 58%; bei allen anderen um die 65 bis 66%). 2004 lag der Anteil der veränderten Stimmzettel bei 57,5 Prozent. Interessant ist die Auswertung welche Listen "gemischt" wurden, also wo z.B. ein Kandidat von der Linken dazu panaschiert wurde. Das dauert aber normalerweise mehrere Wochen, bis das Statistische Amt hierüber Auskunft erteilen kann.

Raute

Freiburg: Linke Liste unterwegs zur Fraktionsgemeinschaft

Eine spannende Entwicklung ist in Freiburg sichtbar. Die Stadt gilt schon lange als Hochburg der Grünen; sie stellen dort die Mehrheit des Gemeinderats, den Oberbürgermeister (wird in Baden-Württemberg alle acht Jahre direkt gewählt). Dagegen hat sich schon seit Jahren eine linke Opposition entwickelt: zunächst mit einer Gemeinderätin auf einer Friedensliste, dann mit drei Gemeinderäten einer linken Liste und seit einigen Jahren in einer Fraktionsgemeinschaft mit den Unabhängigen Frauen, die sich einst von den Grünen abgespalten hatten; und einer Liste Kultur, die sich durch den grünen Anspruch ebenfalls nicht repräsentiert sieht. Im vergangenen Jahr kam es dann zu einer weiteren Abspaltung von den Grünen (Konflikte: Sozialticket u.a.), die jetzt durch den Wähler bestätigt wurde. Damit wächst die linke Opposition auf voraussichtlich 9 von 48 Gemeinderäten; ebensoviele Mandate hat die SPD. Im folgenden eine Pressemitteilung der Linken Liste - Solidarische Stadt zur weiteren Arbeit.


Auf ihrer Mitgliederversammlung am 11.6. diskutierte die Linke Liste - Solidarische Stadt das Wahlergebnis der Kommunalwahlen und die daraus folgenden Perspektiven.

In großer Einmütigkeit wurde über die sich ergebenden Perspektiven nach der Wahl beraten. Nochmals wurde hervorgehoben, dass sich die Zusammenarbeit der Fraktionsgemeinschaft der Unabhängigen Listen sehr bewährt habe. Einstimmig wurde beschlossen, dass die Linke Liste mit den bisherigen Partnern in der UL, den Unabhängigen Frauen und der Kulturliste, sowie auch mit der Grün-Alternative Gespräche mit dem Ziel der Bildung einer gemeinsamen neunköpfigen Fraktionsgemeinschaft UL4 geführt werden sollten. Grundlage der Verhandlungsgespräche über die Bildung einer Faktionsgemeinschaft sollen dabei die vor fünf Jahren geschlossene Fraktionsvereinbarung sowie die im letzten November unterzeichnete Vereinbarung zwischen der UL und der GAF über die Bildung einer Zählgemeinschaft sein.

Weiter wurde beschlossen, auch mit Junges Freiburg (bisher Fraktionsgemeinschaft mit den Grünen, d. Red.) Gespräche zu führen, um über die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zu bestimmten Themen und einer allgemeinen atmosphärischen Entspannung zwischen beiden Gruppierungen zu sprechen, ebenso soll mit der SPD gesprochen werden mit dem Ziel, deutlich zu machen, dass die Linke Liste Interesse an der Fortführung inhaltlicher Zusammenarbeit mit der SPD in vielen Bereiche hat, und ein Gegeneinander-Ausspielen von SPD und UL zu vermeiden.

Die Linke Liste wählte ebenfalls einstimmig eine achtköpfige Verhandlungskommission, die aus den vier gewählten StadträtInnen, sowie vier weiteren VertreterInnen der LiSSt besteht.

Raute

KOMMUNALE POLITIK

Linke fordern Transparenz bei Videoüberwachung. FREIBURG. Die Linke Liste will im Gemeinderat eine Initiative gegen Videoüberwachung starten. "Ziel ist es, mehr Transparenz zu schaffen", sagt Stadtrat und Anwalt Michael Moos. Derzeit könne in Freiburg jeder, der wolle, eine Kamera aufhängen. Dies geschehe oft in einer rechtlichen Grauzone zwischen privatem und öffentlichem Raum, etwa, wenn Geschäfte ihre Eingänge überwachten. Moos: "Da muss eine Bestandsaufnahme her." Indes sieht man im Rathaus keinen Handlungsbedarf. Derzeit ist die Datenschutzbehörde des Landes dabei, die Überwachungskameras der Freiburger Verkehrs AG (VAG) auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Die VAG unterhält nach eigener Aussage rund 40 sogenannte Streckenkameras, die den Verkehrsfluss der Straßenbahnen und Busse überwachen sollen. Diese Bilder werden derzeit aber nicht gespeichert, einen entsprechenden Probelauf stellte die VAG im vergangenen Jahr nach zwei Wochen wieder ein. Von den jeweils für 48 Stunden gespeicherten Aufnahmen profitiere vor allem die Polizei: 25-mal habe die im vergangenen Jahr Bildmaterial angefordert, nachdem es zu Straftaten gekommen war. Dabei ist die VAG in Freiburg nicht die einzige Betreiberin von Kameras im öffentlichen Raum. Dies zeigte sich jüngst bei einem Stadtrundgang, den die Linke Liste zu dem Thema anbot. Heike Rosteck, Datenschutzbeauftragte der Stadt Freiburg, bestätigt, dass die Verwaltung keinen Überblick über die Zahl und Position der Kameras habe. Eine Meldepflicht gebe es nicht. Allerdings habe Oberbürgermeister Dieter Salomon festgelegt, dass die Stadt selbst auf Videoüberwachung verzichtet. Ausgenommen seien zehn Videokameras in städtischen Einrichtungen, die vor Diebstahl oder Vandalismus schützen sollen. Darauf werde mit Schildern hingewiesen. Eine Bestandsaufnahme für den gesamten öffentlichen Raum sei unmöglich, sagt Rathaus-Sprecherin Edith Lamersdorf.
www.linke-liste-freiburg.de


30 Juli Marienplatz: Gelöbnis/GelöbniX. MÜNCHEN. Nachdem im April öffentlich bekannt geworden war, dass sich OB Ude für die Durchführung eines feierlichen Gelöbnisses der Bundeswehr auf dem Marienplatz einsetzt, bemühte sich Die Linke, diesen Schritt zur Militarisierung des öffentlichen Raums zu verhindern. Ihr Antrag zum geplanten Gelöbnis der Bundeswehr lautete damals: "Der Stadtrat möge beschließen: Mit dem Wunsch des Wehrbereichs IV nach einer öffentliche Vereidigung auf dem Marienplatz konfrontiert, appelliert der Stadtrat an den Kommandeur, General Wessel, eine auf Öffentlichkeitswirkung zielende Abwicklung von soldatengesetzlich erforderlichen Gelöbnissen zu unterlassen. Sollte die Bundeswehr auf einer militaristisch geprägten Nutzung des Marienplatzes bestehen, weist der Stadtrat vorsorglich darauf hin, dass eine Beteiligung aus seinen Reihen nicht möglich ist, da Truppenbetreuung nicht zum Aufgabenkreis der kommunalen Selbstverwaltung gehört. Der Kreisverwaltungsreferent wird beauftragt sicherzustellen, dass kritische Stimmen zur Notwendigkeit der Bundeswehr und ihrer aktuellen weltweiten Einsätze angemessen zum Ausdruck kommen können. Großfläche Absperrungen haben zu unterbleiben." In den folgenden Wochen bildete sich ein Bündnis, das anlässlich dieses Gelöbnisses Kritik an der Militarisierung der deutschen Außenpolitik und Innenpolitik deutlich machen will.
www.dielinke-muenchen-stadtrat.de



Brandstiftungen - Neue Methoden der Grundstücks- und Häuserspekulation? HAMBURG. Auch in St. Georg schreitet die Gentrifikation in einem rasanten Tempo voran. Im Bahnhofsviertel wird mit besonders brutalen Mitteln vorgegangen, um Platz für die nachdrängende Schickeria und Hotelbauten zu schaffen: Mindestens vier Brände wurden auf Grundstücken gelegt, für die renditeträchtigere Pläne in der Schublade lagen: in der Langen Reihe, Gurlittstraße, Zimmerpforte und jüngst in der Knorrestraße. 43 Brände wurden alleine in den letzten fünf Jahren in St. Georg gelegt. Das geht aus der Antwort des Senats auf eine Schriftliche Kleine Anfrage des Bürgerschaftsabgeordneten Dr. Joachim Bischoff (Drs. 19/3236) hervor. Wie viele davon in Zusammenhang mit Grundstücks- und Häuserspekulation stehen, bedarf noch der detaillierten Prüfung. Die Aufklärungsrate ist sehr gering. Doch klar ist: Die Stadt ist aus brennend aktuellem Anlass gefordert, endlich etwas zum Schutz der Menschen, insbesondere der MieterInnen mit geringem Einkommen in den innerstädtischen Quartieren, zu unternehmen. Dr. Joachim Bischoff erklärt dazu: "Dass Brandstiftung offenbar zum Alltagsinstrumentarium gehört, um missliebige, eben nur Miete zahlende BewohnerInnen zu vertreiben, empört mich zutiefst. Es wird Leib und Leben der Menschen gefährdet und erschwinglicher Wohnraum zur Miete geht verloren. Der Senat muss endlich für ganz St. Georg und für die anderen innerstädtischen Quartiere eine flächendeckende soziale Erhaltenssatzung erlassen, MieterInnenschutz für Kleingewerbetreibende verstärken, sei es durch eine Initiative auf Bundesebene und die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen im citynahen Bereich stoppen. Das wäre eine soziale Stadtentwicklungspolitik, wie ich sie mir im Interesse der Menschen wünschen würde."
http://www.die-linke-hh.de/


Keine Preiserhöhung für Busse und Bahnen. FRANKFURT A.M. Die vom Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) alljährlich wiederkehrende Preiserhöhung für den Öffentlichen Personennahverkehr darf die Stadt Frankfurt nicht hinnehmen. "Wir fordern Oberbürgermeisterin Petra Roth auf, sich im Aufsichtsrat des RMV dafür einzusetzen, dass die Preise nicht erhöht werden", sagt der verkehrspolitische Sprecher der Linken im Römer, Udo Mack. "Die Fahrpreise sind bereits jetzt viel zu hoch, weil die Einkommensentwicklung vieler Frankfurter mit den ständigen Preissteigerungen nicht mithält." Deshalb fordert Die Linke seit Jahren eine Preisreduktion der ÖPNV-Tickets um 50 Prozent. Wenn die Preise halbiert würden, würde dies neben einer finanziellen Erleichterung für viele Menschen auch einen großen Beitrag für die Umwelt leisten."
www.dielinke-im-roemer.de


Hass-Sänger absagen! STUTTGART. Sich als "Ort der Vielfalt" auszeichnen lassen und einem extrem nationalistischen Sänger aus Kroatien die städtische Schleyer-Halle vermieten - das passt nicht zusammen. Thompson-Perkovic macht in seinen Liedern gegen Nichtkroaten verächtliche und antisemitische Anspielungen. Er verherrlicht das Ustascha-Regime. Das katholische Kroatien wird gegen die orthodoxen und muslimischen Nachbarn aufgehetzt. Die Kirche ist auf Distanz: Im Vorjahr trat die kroatische katholische Gemeinde als Veranstalter seines Konzerts zurück. Die katholische Bischofskonferenz Kroatiens sieht "eine Sprache des Hasses". In Stuttgart leben viele Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, für die der Auftritt Perkovics traumatische Erinnerungen weckt, wenn er die Ustascha-Grußformel "Za dom spremni" (bereit fürs Vaterland) verwendet, die dem deutschen "Sieg Heil" entspricht. Die Stadt muss die Veranstaltung unterbinden, so wie es Bochum vor kurzem gemacht hat.
www.domino1.stuttgart.de/grat/pds.nsf


Einrichtung einer neuen Gesamtschule. KÖLN. Die Linke Köln hat einen Prüfantrag zur Errichtung einer neuen Gesamtschule im Rat gestellt. Das Anmeldeverhalten von Eltern von Viertklässlern in Köln legt diese Forderung nahe. Der Antrag der Linken fordert die Verwaltung auf, die dafür notwendigen Schritte zu prüfen und dazu vorher eine Elternbefragung und ein Symposium durchzuführen. Im heutigen Schulausschuss haben SPD und Grüne ebenfalls beantragt, eine Elternbefragung zum Wechsel auf eine weiterführende Schule sowie eine Fachtagung zum Thema "Längeres Gemeinsames Lernen durchzuführen". Dieser Antrag geht der Linken allerdings nicht weit genug. Dazu erklärt Özlem Demirel, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und schulpolitische Sprecherin: "Die Fraktion Die Linke Köln setzt sich in Köln seit Jahren für die Gründung mindestens einer weiteren Gesamtschule ein. Dazu haben wir zahlreiche Anfragen gestellt. Seit Jahren wird in Köln der erklärte Eltern- und Schülerwille missachtet. Das zeigen die Ablehnungen von mehreren Hundert Schülern im Jahr, aktuell ca. 800. Durch das Urteil des Verwaltungsgerichts Bonn gegen die Notwendigkeit von einem Drittel Gymnasialempfehlungen sind die Hürden für eine Gesamtschulgründung gefallen."
www.linksfraktion-koeln.de/


Kommunale Krankenhäuser gegen "Schnäppchenjagd" privater Investoren. Der Interessenverband Kommunaler Krankenhäuser (IVKK) hat ein Ende der "Schnäppchenjagd" gefordert, zu der private Klinikbetreiber die Wirtschaftskrise missbrauchten. Nötig seien grundlegende Reformen bei der Krankenhausfinanzierung, sagte Verbandschef Hansjörg Hermes der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Kommunen würden "kaltschnäuzig" zum Verkauf von Krankenhäusern gedrängt. Private Investoren vor allem aus dem Ausland wollten sich damit die Vorteile des deutschen Gesundheitsmarktes sichern. Dieser gelte weltweit als beispielhaft, weil er durch das Umlagesystem der gesetzlichen Krankenversicherung selbst in Rezessionszeiten stabile Umsätze garantiere. Hermes nannte es "unanständig", dieses auf Solidarität der Versicherten aufgebaute Wirtschaftssystem für die Interessen vordringlich auf Rendite ausgerichteter privater Betreiber zu missbrauchen. Hermes forderte eine Strukturreform mit dem Ziel, die Gewinnentnahme aus dem Betrieb von privaten und öffentlichen Krankenhäusern generell so lange zu unterbinden, bis das deutsche Krankenhauswesen den nötigen Investitionsbedarf in Milliardenhöhe ausgeglichen habe.
http://www.ngo-online.de

(Zusammenstellung: ulj)

Raute

Der Opel-Deal: Regulierte Verteilung von Leid

Wolfgang Schaumberg war 30 Jahre Lagerarbeiter bei Opel Bochum und 25 Jahre Mitglied des Opel-Betriebsrats. Heute ist er in Rente und engagiert sich u.a. weiterhin in der 1972 gegründeten gewerkschaftsoppositionellen Betriebsgruppe "Gegenwehr ohne Grenzen", GoG.


Interview: Gaston Kirsche

Frage: Hat der Verkauf an Magna und Sberbank schon Auswirkungen für die Beschäftigten?

Wolfgang Schaumberg: Nein. Der Großteil der Belegschaft ist nach wie vor in Kurzarbeit. Bestimmte Bereiche sind jetzt aus der Kurzarbeit raus genommen worden, die für andere Werke und Modelle mitproduzieren. Aber die Debatte ist jetzt angeheizt durch neue Verzichtsforderungen.

Frage: Welche?

Wolfgang Schaumberg: Aktuell geht es um einen seltsamen 10%-Aktienfonds. Die Belegschaften sollen einen Anteil von 10% an Opel aufbringen, insgesamt mit einem Aufwand von einer Milliarde Euro, aufgebracht etwa durch den Verzicht auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld und die tariflich vereinbarte 4%ige Lohnerhöhung, sowie weiteren Belegschaftsabbau. Von Betriebsrat und IG Metall soll dieser Aktienfonds verwaltet werden. Um dieses Geld zusammen zu bekommen, wird in Bochum der Belegschaft von der Betriebsratsmehrheit beigebracht, an den anderen Standorten hätten die Leute schon ihre Zustimmung signalisiert. Es gibt die Drohung, wenn man dass nicht mitmacht, dann würde Bochum erneut von Schließung bedroht sein - der Gesamtbetriebsrat hätte dieser Regelung ja einstimmig zugestimmt.

Frage: Sollen der BR und die Gewerkschaft dann auf Dauer einen 10%-prozentigen Aktienanteil verwalten?

Wolfgang Schaumberg: Ja, aber es noch nicht wirklich klar, ob das bisherige Modell mit dem Aufkauf durch Magna wirklich zum Tragen kommt, in dem dieser 10%-ige Aktienfonds vorgesehen ist. Klar ist, die Regie wird da die Gewerkschaftsbürokratie haben. Dann wäre für Verzichtsleistungen nicht mehr so wie jetzt jedes Mal die konfliktreiche Aufklärung nötig. Diese Aktienbeteiligung wäre ein weiterer Schritt, um die Menschen in die Konkurrenz, in die Wettbewerbszwänge reinzuholen. Und dass sie sich womöglich noch selber gegenseitig treten, um vielleicht mal irgendwann etwas über diesen Aktienfonds zurückgezahlt zu bekommen.

Frage: Was ist bei Opel Bochum anders?

Wolfgang Schaumberg: In Bochum gibt es in der Belegschaft seit langem Opposition zum offiziellen Gewerkschaftsvorgehen - durch Aktionen wie die sogenannten wilden Streiks 2000 über sechs Schichten und im Oktober 2004 über elf Schichten. Die IG-Metall-Führungsleute, wie der Bezirksleiter Oliver Burghardt, die wurden bei uns in Bochum ausgepfiffen. Es gibt eine Stimmung zwischen Wut und Verzweiflung: Man organisiert sich ja nicht in der Gewerkschaft, damit die dann den Verzicht durchzieht. Der Betriebsrat bei Opel Rüsselsheim hat dort anscheinend die Mehrheit der Belegschaft hinter dem Verzichtskurs, aber bei uns ist der sehr umstritten. Verzichtsverträge bekamen wir seit 1993 einen nach dem anderen aufgedrückt. Wir waren damals noch 19.200 Beschäftigte in Bochum, jetzt sind wir nur noch 5.200. Mit jedem Verzicht gingen ein paar tausend Arbeitsplätze flöten, gingen Errungenschaften flöten. Da ist wenig Vertrauen, dass man mit Verzicht seine Zukunft retten könnte. Typisch für die oppositionelle Stimmung in Bochum ist aktuell auch die Tatsache, dass nur hier die IG Metall die Beschäftigten persönlich über Verzichtsleistungen abstimmen lässt. Das sollte eigentlich überall so sein. Denn viele Kolleginnen und Kollegen sind einerseits sehr resigniert, was ihre eigenen Kampfmöglichkeiten betrifft, andererseits - was auch ein Ergebnis der traditionellen Stellvertretungspolitik ist - verstecken sie sich aber aus alter Gewohnheit an die eingeübten Vertretungsstrukturen auch gerne hinter dem Geschimpfe auf "die Gewerkschaft" oder "den Betriebsrat", um nicht selbst aktiv werden zu müssen. Die sollen selber abstimmen, ob sie den Arsch für weitere Zugeständnisse hinhalten wollen oder nicht. Bei der ersten Abstimmung über die Lohnerhöhung im April haben 40 % gegen einen Verzicht gestimmt. Von 4.200 Gewerkschaftsmitgliedern haben sich nur 2.100 an der Abstimmung beteiligt, allerdings hatten viele den Brief mit dem Stimmzettel leider nicht erhalten.

Immerhin 900 Mitglieder haben glatt nein gesagt. Das sind diejenigen, die auf diesen Verzichtskurs wirklich keine Hoffnung mehr setzen.

Frage: Gibt es eine Solidarität zwischen den verschiedenen Opel-Standorten oder ein Jeder-kämpft-für-sich?

Wolfgang Schaumberg: Letzteres. Es war für uns 2004 sehr schwierig, dass die Bochumer Opel-Belegschaft alleine blieb mit ihrer Streikaktion. Es gab zwar eine unglaublich breite Solidarität hier in Bochum und Umgebung aus der Bevölkerung, aber es gab keine Unterstützung durch die anderen Belegschaften. Wir haben in den Betriebsräten der Großbetriebe mehrheitlich Leute, die sich aggressiv zum Co-Management bekennen - also einer Strategie der Betriebsräte, die Konkurrenzfähigkeit und Profitabilität "ihres" Unternehmens stärken will. Deren Losung ist: Wir sind hier gewählt worden, müssen hier die Belegschaft vertreten. Jeder übergreifende gewerkschaftliche Standpunkt wird da mit einer Handbewegung weggewischt. Dass ist auch kennzeichnend für das Selbstverständnis der Mehrheit des Betriebsrates in Bochum genauso wie an den anderen Standorten. Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Klaus Franz hat das so ausgedrückt: 'Ich bin an erster Stelle Opel-Betriebsrat und erst an zweiter Stelle Gewerkschafter'. Und im Rahmen dieser internalisierten Konkurrenzideologie, da müsse man erstmal gucken, dass der 'eigene' Laden da durchkommt. Und zwischen dem Betriebsratchef von Opel Antwerpen und Klaus Franz in Rüsselsheim und Rainer Einenkel in Bochum, da herrscht eine üble Anmache und Konkurrenz.

Frage: Von 55.000 Opel-Beschäftigten arbeitet ja fast die Hälfte in Werken in Spanien, England, Schweden, Polen, Belgien, Österreich und Frankreich. Die sitzen dann wohl am Katzentisch?

Wolfgang Schaumberg: Klaus Franz ist nicht nur Vorsitzender des Gesamtbetriebsrates in Deutschland, sondern auch des Euro-Betriebsrates. Er wird öffentlich dargestellt als vorbildlicher Organisator von europäischer Solidarität. Es wird immer gesagt, kein Werk in Deutschland wird geschlossen, und das gilt auch für ganz Europa. Die IG Metall hat hier vor ein paar Tagen ein Flugblatt verteilt, da stand: "Faire Lastenverteilung!" Klaus Franz vertritt das Ziel: Wir wollen erreichen, dass da nicht eine Belegschaft besonders blutet und die anderen erleichtert sind, sondern: 'Geteiltes Leid ist halbes Leid!' Diese regulierte Leid-Verteilung ist offizielle IG-Metall-Linie, um Solidarität zu organisieren. Im Endeffekt ist es Solidarität im Interesse der Aktionäre, der Besitzer des Unternehmens, die so einen Betriebsrat auf ihrer Seite haben. Der akzeptiert, das Leben ist eben so, um Kostensenkungsprogramme kommt man nicht drumherum. Und fertig. Dann wird das Leid verteilt.

Frage: Habt ihr mit Eurem Slogan "Gegenwehr ohne Grenzen" dagegen überhaupt eine Chance? Habt Ihr Kontakte in die Werke in anderen Ländern?

Wolfgang Schaumberg: Zur Zeit haben wir keine funktionierenden Kontakte zu den anderen Standorten. Das war mal anders. Der jetzige Vorsitzende des Antwerpener Betriebsrates zum Beispiel, der war mit uns noch zusammen bei Vauxhall in Ellesmere Port, im Liverpooler Werk, um dort die Verbindung zu englischen Kollegen herzustellen. Der ist auch umgeschwenkt zu diesem aggressiven Co-Management. Wir waren sehr enttäuscht, dass die Leute, mit denen wir in den anderen Werken Kontakt hatten, mit unserer Richtung von gewerkschaftlicher und politischer Arbeit nicht mehr zu tun haben wollten.

Frage: Und Eure Richtung - das wäre die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen statt Co-Management?

Wolfgang Schaumberg: Wir haben nicht Interessenvertretung als Leitlinie, sondern die Ermächtigung von Belegschaften, sich selbst ihrer Haut zu wehren. Wir haben auch bei den Betriebsratswahlen gesagt, ihr könnt uns nicht ankreuzen, wenn ihr glaubt, wir könnten dann für euch die Kohlen aus dem Feuer holen. Dafür bekommt man weniger Stimmen, aber das ist die Wahrheit. Es ist sicher ganz gut, wenn es ein paar Betriebsräte gibt, die aufklären und mobilisieren wollen. Aber das Entscheidende ist doch, ob man als Belegschaft, zusammen in Erscheinung tritt. Das ist unbequem für die Leute, das kennzeichnet auch unsere augenblickliche Schwäche.

Frage: Ihr benutzt den Slogan 'Wir zahlen nicht für Eure Krise' - was bedeutet das konkret?

Wolfgang Schaumberg: Das Motto heißt erstmal: Verzicht verweigern. Durch Verzicht kann keine zukünftige Beschäftigung gesichert werden, das ist hoffnungslos. Je weniger wir uns auf die Parole 'Opel muss bleiben' reduzieren lassen, je mehr wir Forderungen vertreten und Aktionen machen, die über den Betriebsrahmen hinausgehen, desto größer ist die Chance, dass sich Andere anschließen. Mit der Vorstellung, die jetzt von den einzelnen Belegschaften hoch gehalten wird 'Wir wollen weiter so arbeiten wie bisher' kommt man bei der Tragweite dieser Krise nicht weit. Man kann nicht einfach weiterhin bei Opel in Bochum jeden Tag 1.200 Autos raus hauen wollen. Bei der Tiefe der Krise wird immer deutlicher, dass es keine Lösung ist, sich daran zu klammern. An dem Punkt sehen wir uns ziemlich alleine.

Frage: Ihr habt mit Eurer Parole der standortübergreifenden Solidarität woanders keinen Rückhalt?

Wolfgang Schaumberg: Weltweit setzen die Führungen der großen Industriegewerkschaften zuerst auf die nationale Rettung ihrer nationalen Wirtschaft und ihrer eigenen jeweiligen Mitglieder. Der Finanzblase auf den Märkten entspricht über den Köpfen der Gewerkschaftsführungen eine riesige Solidaritätsblase. Das können wir kritisieren. Aber die Leute spüren, dass wir zwar ganz gute Gedanken haben, aber dass dahinter noch keine Macht steht. - Und was die Unterstützung und Aktionsvorschläge aus den Reihen der Linken angeht: meist ohne jede Überlegung, dass die Leute auch in 6 Monaten ihre Miete bezahlen müssen und kurzfristige 'Lösungen' suchen; meist kommen abstrakte Vorschläge zur langfristigen Produktkonversion oder knallharte Aktionsaufrufe ohne die Frage, wer da jetzt wo mit welchen Forderungen wohin marschieren soll. Oft dann noch so Leerformeln 'von ganz anderer Gesellschaft', was in dieser naiven Form die Leute eher resigniert über die Linken abwinken lässt.

Frage: Was plant ihr?

Wolfgang Schaumberg: Die Debatte läuft bei uns: Mit welchen Forderungen lässt sich ein 'wir' ausmalen, anknüpfend an die Parole, die Linke jetzt auf die Straße tragen 'wir wollen für eure Krise nicht bezahlen!' Leute sollen sich wiederfinden können und auch eine gewisse Hoffnung haben können, dass unsere Gegenwehr zu Angst und Zugeständnissen bei den Herrschenden führt. In dem Sinne haben wir geschrieben: Wir müssen bleiben, wir halten kein Schild hoch, Opel muss bleiben, Nokia muss bleiben, Karstadt muss bleiben, irgend so eine dumme Rüstungsfabrik soll auch bleiben. Nein, Wir müssen uns davon lösen. Zufällig sind wir in unserem Leben in einer Autofabrik gelandet, oder als Verkäuferin bei Karstadt, weil man sich verkaufen muss, um Leben zu können, seine Arbeitskraft irgendwo verkaufen muss, um Leben zu können. Im Labournet sind unsere GoG-Infos dokumentiert, lassen sich unsere Debatte und Aufklärungs- und Mobilisierungsversuche verfolgen.

Im Internet: http://www.labournet.de/branchen/auto/gm-opel/bochum/gog.html

Raute

Trotz satter Gewinne will EDS 852 Kollegen entlassen

HANNOVER. Am 22. Juni zogen ca. 80 Beschäftigte von EDS mit einer Demonstration durch die Innenstadt von Hannover, um gegen Entlassungen zu protestieren.

Sie verteilten eine Streikinformation, die gemeinsamen von IG Metall und Verdi herausgegeben wurde:

"Wir streiken, weil trotz satter Gewinne bei EDS 852 Kollegen entlassen werden sollen.

EDS Operations Services GmbH ist ein weltweit führendes Unternehmen für Technologie-Dienstleistungen mit rund 4.200 Beschäftigten in Deutschland. EDS gehört seit letztem August zu Hewlett-Packard (HP). HP erwirtschaftete im ersten Quartal 2009 trotz Wirtschaftskrise eine fette Umsatzrendite von 10,8 Prozent. Obwohl sich das Management bereits mit knapp 200 Mio. Dollar bedient hat und ca. 130 Mio. Dollar als Abfindungen an das Topmanagement von EDS ausgeschüttet wurden, ist ein satter Gewinn von 3,1 Milliarden Dollar erzielt worden! Gegenüber dem vorherigen Quartal wurde der Profit noch gesteigert. ESD ist heute schon der profitabelste Bereich im ganzen ZHP-Konzern.

In dieser Situation ist es nicht akzeptabel, dass jeder vierte EDS-Arbeitsplatz vernichtet werden soll.

Unsere Ziele: Seit dem 4. Juni sind die Kollegen bei EDS im Streik, um eine tarifliche Arbeitsplatzsicherung, tarifliche Regelung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen und eine seit über einem Jahr überfällige Entgelterhöhung durchzusetzen.

Trotz mehrer Warnstreiks lehnt die Geschäftsführung Tarifverhandlungen zu tariflichen Regelungen und zur Sicherung der Arbeitsplätze mit uns ab. Statt dessen erhöht das Management weiter den Druck auf die Beschäftigten. Mit einem Votum von fast 92 Prozent für Streik hat die Belegschaft ihre ungebrochene Solidarität deutlich gemacht.

Für uns ist der Streik jetzt das letzte Mittel, die EDS-Geschätsführung an den Verhandlungstisch zu zwingen."

Auch in anderen Städten (Bochum, Bremen, Eisenach, Essen, Frankfurt/Darmstadt, Köln, Leuna, Ludwigsburg, München, Rüsselsheim, Schweinfurt und Wuppertal) wurde gestreikt.

In Schweinfurt macht sich die Geschäftsleitung weiter Sorgen um ihre Lieferfähigkeit. Wie von Mitarbeitern aus dem Betrieb berichtet wurde, versucht sie jetzt mit besonderen Prämien Mitarbeiter anzuwerben, die EDS bereits vor Kurzem verlassen haben. Dafür scheint kein Preis zu hoch zu sein. Ein Kollege aus dem Team hat vor einiger Zeit die Firma verlassen. Jetzt ruft ihn sein ehemaliger Manager am Wochenende zu Hause an und bietet ihm einen Consultant-Vertrag an. Ziel des für ca. zwei Wochen angebotenen Abkommens sind Streikbrecherarbeiten und anlernen von "Fremden".

Der angebotene Judaslohn beträgt 1500 €? pro Tag! Spesen extra und der Preis sei noch verhandelbar. Das wären so überschlägig ein Salär von 30.000 € pro Monat. Es geht übrigens um einen Bereich, in dem die Geschäftsleitung einen besonders hohen Personalabbau plant. Die Beschäftigten fordern alle Kollegen auf, sich an Streikbrecherarbeiten nicht zu beteiligen und sich solidarisch zu verhalten. Nur so kann die Bewegung erfolgreich sein.

Sit-in vor dem EDS-Bürogebäude in Wuppertal

Auch an der Bergischen Universität Wuppertal wurde wie auch an zahlreichen anderen Hochschulen in ganz Deutschland vom 15. bis zum 19. Juni 2009 gestreikt. Bei einem Demonstrationsmarsch vom Elberfelder Willy-Brandt-Platz bis zum Johannes-Rau-Platz vor dem Rathaus in Barmen verdeutlichten die Studenten ihre Forderungen nach besseren Bedingungen im Bildungssystem noch einmal.

Auf ihrem Weg kamen die Stundenten auch am Wuppertaler EDS-Gebäude vorbei. Aufmerksam geworden durch ein Plakat "Hier vernichtet HP 150 Arbeitsplätze" solidarisierten sich die Studenten spontan mit den EDS-Beschäftigten. Sie veranstalteten ein "sitin" auf der B7 Richtung Hagen. Der Verkehr blieb für einige Minuten still.

Flashmob in Bremen

Die Beschäftigten von EDS in Bremen, Hannover und Hamburg trafen sich zu ihrer ersten öffentlichkeitswirksamen Aktion. Auf diversen prominenten Plätzen in Bremen tauchten die ca. 100 Teilnehmer auf ein aktustisches Zeichen aus dem Nichts auf und stellten sich mit gelben Hemden und dem Schild "Ein Opfer der HP-Profitgier" den Passanten in den Weg. Mitgebrachte Flugblätter informierten über den Grund der Aktion.

Es gab viele Gespräche mit den Bürgerinnen und Bürgern in Bremen, die meisten verstehen unseren Ärger und wünschen uns viel Glück. Auch Hennig Scherf, ehemaliger Bürgermeister und Senatspräsident von Bremen gibt sich die Ehre. Er ermuntert uns, im Kampf um unsere Arbeitsplätze nicht nachzugeben.

(bee)Quelle: www.igmetall.de

Raute

Quelle: Massekredit, aber weiter am Abgrund

Mit einem 50-Millionen-Massekredit hat die Bundesregierung nach langem Hin und Her das insolvente Versandhaus Quelle vorläufig vor dem Zusammenbruch gerettet. Gemeinsam mit den Bundesländern Bayern und Sachsen bewilligte sie den Kredit. Der Bund stellt 25 Mio. Euro zur Verfügung. Das Land Bayern, in dem das Unternehmen seinen Sitz hat und allein in Fürth 8.000 Beschäftigte, stellt weitere 21 Millionen Euro zur Verfügung. Vom Land Sachsen - dort liegt das Vertriebszentrum von Quelle, nahe beim Flughafen Leipzig - kommen weitere 4 Millionen Euro.

Ein Massekredit ist ein in Insolvenzfällen eher häufiges Verfahren. Er soll Unternehmen trotz der im Insolvenzfall gegebenen Zahlungsunfähigkeit die Fortführung ihrer Geschäfte ermöglichen. Die Forderungen der Massekredit-Geber sind vorrangig vor allen anderen Forderungen zu bedienen, d.h. sie werden noch vor den Lohn- und Gehaltsforderungen der Beschäftigten, den Forderungen von Lieferanten, Vermietern und allen anderen Gläubigern aus der noch im Unternehmen vorhandenen Vermögensmasse bedient. Sollte das nicht ausreichen, kann sogar der Insolvenzverwalter persönlich von den Massekredit-Gebern für eventuelle Zahlungsausfälle haftbar gemacht werden. Insofern ist es eher verwunderlich, welches lange Hickhack sich die Politik in Sachen Quelle geleistet hat. Das Unternehmen ist seit mehreren Wochen in der Insolvenz. Unmittelbar vor Eintreten des Insolvenzfalls hatte der frühere Besitzer, der Arcandor-Konzern, noch sämtliche Geldmittel von den Konten von Quelle abgezogen - ein als "Cashpooling" in großen Konzernen durchaus häufig vorkommendes Verfahren, in diesem Fall aber beinahe tödlich für Quelle.

Das Unternehmen kann seitdem seine Geschäfte nur deshalb weiterführen, weil die Beschäftigten von der Agentur für Arbeit seit Anmeldung der Insolvenz drei Monate lang ihr Gehalt als "Insolvenzgeld" erhalten. Und weil Lieferanten und andere Gläubiger derzeit trotz Zahlungsstopp ihre Lieferungen und Leistungen nicht eingestellt haben, sondern im Vertrauen auf eine spätere Bezahlung weiter liefern.

Insolvenzgründe

Warum das Unternehmen in Schieflage geraten ist, lässt sich von außen trotz der Vielzahl der Presseberichte derzeit nur vermuten. Das Vertriebskonzept "Kaufhaus und Versandhaus für alle und alles" ist zwar aus vielerlei Gründen schon seit mehreren Jahren in einer Krise. Im margenstärkeren Spezialhandel mit Elektro- und Elektronikgeräten etwa dominieren Konzerne wie Metro bzw. Saturn den Markt. Bei Büchern, CDs, Handys etc. sind Amazon und andere Internet-Händler auf dem Vormarsch. Und selbst bei Bekleidung haben Quelle, Karstadt & Co. ein eher altbackenes Image - höchstens für die "Generation 50plus" geeignet oder so ähnlich. Hinzu kommen mit der in den letzten Jahren erfolgten "Aufwertung der Innenstädte" steigende Mieten in den Zentren der Städte, die die Kosten für Kaufhäuser zusätzlich nach oben treiben und die Rendite nach unten.

Insofern reiht sich die Insolvenz von Quelle ein in andere Fälle wie den Zusammenbruch der Woolworth-Kette, die Insolvenz von Arcandor/Karstadt und anderer Konzerne.

Auf der anderen Seite hat Quelle eher frühzeitig in neue Vertriebsformen investiert. Seit 1995 ist Quelle im Online-Versandgeschäft unterwegs. Massiv umgesteuert auf die neue Vertriebsformen hat das Management aber eher spät - nach eigenen Angaben erst 2006. Der Prozess ist nicht abgeschlossen. Immerhin macht das Online-Geschäft am Versandhandel bereits 50 Prozent aus. Die anderen 50 Prozent werden per Telefon, direkt in den etwa 100 Quelle-Filialen oder in 1.500 Quelle-Shops geordert. Im E-Commerce-Geschäft liegt Quelle heute hinter Amazon und Ebay auf Platz 3.

Vermutlich war es die heraufziehende Insolvenz des Mutterkonzerns Arcandor/Karstadt, der Quelle in der Konsolidierungsphase "erwischt" und in den Abgrund gerissen hat. Die mit dem Eintreiben solcher Rechnungen und der Abwicklung des Zahlungsverkehrs von Quelle beauftragte Valovis-Bank hat Quelle zudem unmittelbar nach Eintritt des Insolvenzfalls den Vertrag gekündigt. Jetzt teilen sich Valovis-Bank, BayernLB und Commerzbank das Geschäft. Hinzu kommt: Auch in der Kundschaft von "Quelle" nehmen offenbar die Zahlungsprobleme zu. Quelle-Kunden schicken 30% der Waren zurück und zahlen den größten Teil ihrer Rechnungen in Raten.

"Marktbereinigung"

Das lange Hick-Hack zwischen Bund und Ländern bzw. zwischen CSU-Ministerpräsident Seehofer auf der einen, CSU-Wirtschaftsminister von und zu Guttenberg und SPD-Finanzminister Steinbrück auf der anderen Seite dürfte dagegen Kräften im Hintergrund geschuldet sein. So wie im Hintergrund der Arcandor-Pleite die sehr viel größere und deshalb auch finanzstärkere Metro-Gruppe hofft, einen wichtigen Konkurrenten endlich vom Markt zu drücken und zum alleinigen Anbieter aufzusteigen, so drängen im Hintergrund der Quelle-Krise die Konkurrenten Otto-Versand, Neckermann & Co. Neckermann-Chef Henning Koopmann etwa soll sich noch wenige Tage vor der Entscheidung der Politik gegen jede wirtschaftliche Hilfe für Quelle ausgesprochen haben. Neckermann und Quelle waren bis 2007 noch Schwesterunternehmen im Arcandor-Konzern, bevor der amerikanische Finanzinvestor Sun Capital 51% des Neckermann-Kapitals übernahm und damit die geschäftliche Führung. Jetzt hofft diese Konkurrenz, durch einen Zusammenbruch der Quelle-Gruppe den Markt bereinigen und sich selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können.

Ende nach der Bundestagswahl?

Die Beschäftigten der Quelle dagegen haben von dem Massekredit nur wenig. Sie erhalten ihr Gehalt ohnehin bereits von der Agentur für Arbeit, und ob das Unternehmen in drei Monaten, also nach der Bundestagswahl, noch bestehen wird, darf bezweifelt werden. Für sie bedeutet die vom Baron von und zu Guttenberg erfundene Formel von der angeblich "geordneten" Insolvenz nur eins: Drastisch verkürzte Kündigungsfristen. Denn das Insolvenzrecht schreibt fest: Jede gesetzliche, tarifliche oder einzelvertraglich vereinbarte längere Kündigungsfrist, beispielsweise für ältere, langjährig Beschäftigte, für Schwerbehinderte usw., verkürzt sich nach Eintritt des Insolvenzfalls automatisch auf drei Monate zum Monatsende.

Wird also unmittelbar nach der Bundestagswahl das Ende von "Quelle" verkündet, so hieße das für alle Beschäftigten: Kündigung bis 31.12.2009, Eintritt in die Arbeitslosigkeit und - vermutlich für viele - ein Jahr später der Absturz in Hartz IV.

rül

Quellen: Berliner Zeitung, 30.6.09; Financial Times, 29.6.09; TechnoBase.Fm, 29.6.09

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Solidarität mit den Beschäftigten der Textilfabrik Edirne Giyim in der Türkei

Edirne Giyim ist eine Textilfabrik in der westtürkischen Stadt Edirne. Die Arbeitsbedingungen sind geprägt von Einschränkungen und Schikanen, die unter der Menschenwürde liegen und an mittelalterliche Praktiken erinnern. Edirne Giyim produziert nicht nur für den inländischen Markt, sondern auch für deutsche Firmen. Sie beliefert unter anderem Firmen wie Hugo Boss und Carl Gross. Seit Anfang April streiken die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen von Edirne Giyim. Der Arbeitgeber verletzt elementarste Rechte der ArbeitnehmerInnen. So wird beispielsweise Arbeiterinnen untersagt, die ersten drei Jahre der Beschäftigung schwanger zu werden. Schwangere verlieren ihre Arbeitsplätze.

Gewerkschaftliche Betätigungen werden unterbunden und gewerkschaftlich organisierte ArbeitnehmerInnen werden gezwungen, aus der Gewerkschaft auszutreten. Den ArbeitnehmerInnen, die sich widersetzen, wird mit Kündigungen gedroht. Allein aufgrund ihrer Mitgliedschaft bei der Gewerkschaft TEKSIF wurden bereits 450 ArbeitnehmerInnen gezwungen, selbst zu kündigen. Um tariflichen Regeln zu entgehen, wird der gewerkschaftlich organisierten Stammbelegschaft gekündigt. Stattdessen werden Leiharbeiter eingestellt, die sich gewerkschaftlich nicht organisieren und damit nicht unter den entsprechenden Tarifvertrag fallen. Sie sind aus Sicht des Arbeitgebers nicht nur kostengünstig, sondern auch unorganisiert und damit weniger widerstandsfähig. Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich an den 1. Mai Kundgebungen beteiligt haben, wurde der Einlass in die Fabrik verwehrt. Sie wurden aufgefordert, ihre Arbeit niederzulegen.

Obwohl die Gewerkschaft TEKSIF bereits im März auf die Missstände in dem türkischen Zulieferbetrieb aufmerksam gemacht hat, ist bis dato keinerlei Reaktion von der Geschäftsleitung der Firmen Hugo Boss und Carl Groß erfolgt.

Wir unterstützen den Arbeitskampf der Beschäftigten von Edirne Giyim und solidarisieren uns mit allen Arbeitern und Arbeiterinnen in ihrem Kampf für menschenwürdige Arbeitsbedingungen und Koalitionsfreiheit.

Die deutschen Firmen fordern wir auf, in ihren ausländischen Zulieferbetrieben Mindeststandards und Kernarbeiterrechte zu achten und hierfür Sorge zu tragen.

Wir erklären hiermit unsere Unterstützung und Solidarität mit der Gewerkschaft TEKSIF und den streikenden Kolleginnen und Kollegen bei Edirne Giyim.

Wir Frauen stehen mit Euch zusammen im Kampf für menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen.

Euer Kampf macht vielen Frauen, aber auch Männern Mut, sich für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen einzusetzen. In diesem Sinne: Euer Streik ist auch in unserem Interesse.

Quelle: Bundesverband der Migrantinnen in Deutschland e.V.

Raute

"Koordinierungsrat säkularer Organisationen"

Die Konfession der Konfessionslosen?

Die Evangelischen haben es, die Katholiken sowieso; die Juden und die Moslems in der BRD auch: einen Dachverband, der für sie spricht, wenn sie sich in der gesellschaftlichen Diskussion zu Wort melden oder Forderungen an den Staat stellen wollen. Warum haben eigentlich Konfessionslose, Atheisten oder Freidenker nicht eine vergleichbare Einrichtung? Im November 2008 wurde tatsächlich ein "Koordinierungsrat säkularer Organisationen" (Korso) gegründet.


Gründungsmitglieder sind elf Verbände, Stiftungen und Akademien, die sich unter dem Dach des Koordinierungsrats versammelt und sich eine politische Interessenvertretung gegeben haben. Derzeit gehören dazu: Deutscher Freidenkerverband (DFV), Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften (DFW), Humanistischer Verband Deutschlands (HVD), Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA), Jugendweihe Deutschland (JwD), Giordano Bruno Stiftung (gbs), Humanistische Akademie Deutschland (HAD), Stiftung Geistesfreiheit Hamburg, Stiftung Unitates, Humanismus Stiftung Berlin und Roter Baum Dresden.

Diese Organisationen sind alles andere als einheitlich in ihren Traditionen und weltanschaulichen Grundlagen. Dennoch: Der Dachverband versteht sich als "Interessenvertretung der Konfessionslosen". "Wir wollen die Gleichstellung von religiösen und nichtreligiösen Menschen erreichen", sagt der stellvertretende Vorsitzende Carsten Frerk. Der Koordinierungsrat kritisiert den Einfluss der Kirchen auf die Politik und sieht darin einen "eklatanten Verstoß gegen das Verfassungsgebot des weltanschaulich neutralen Staates". "Konfessionslose werden dagegen von der Bundesregierung einfach ignoriert", klagt Michael-Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. Mit der Neugründung wollen die Verbände ihr politisches Gewicht erhöhen. "Wir möchten ein Gesprächspartner für die Politik in säkularen Fragen werden", erklärt Otto Frieder Wolf, Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin und Vorsitzender von Korso. Im Gegensatz zu den Kirchen werde ihre Meinung in der Politik aber nicht gesondert berücksichtigt. Und das, obwohl mehr als ein Drittel der Deutschen konfessionsfrei sei. Diese Menschen haben in Deutschland keine angemessene Interessenvertretung. Der "Koordinierungsrat säkularer Organisationen" will hier eine Wende herbeiführen.

In seiner Grundsatzerklärung fordert Korso, dass analog zur Islamkonferenz noch 2009 auch eine "Konfessionsfreien-Konferenz" von der Bundesregierung einberufen werden solle, auf der über die Forderungen des Rates diskutiert werden müsse. Sein Katalog ist lang: Eigene Vertretungen in Ethikund Rundfunkräten, ein integratives Pflichtfach zur Wertevermittlung nach dem Modell des Ethikunterrichts in Berlin, Gleichbehandlung in den öffentlich-rechtlichen Medien, besonders bei Sendezeiten, volle rechtliche Gültigkeit für Patientenverfügungen und die Einführung nichtreligiöser Feiertage.

Die Argumente mögen einleuchtend sein. Aber der so offensiv auftretende Korso hat ein großes Problem mit seiner Legitimation. Verglichen mit der Deutschen Bischofskonferenz oder der Evangelischen Kirche in Deutschland: Wen vertritt er eigentlich? Auf Nachfrage wird eine Zahl von insgesamt ca. 20.000 Menschen angegeben, die in den jetzt zusammengeschlossenen Organisationen Mitglieder sind. Hat man da nicht etwas zu weit den Mund aufgerissen?

Die Konfessionslosen eine dritte Konfession?

Korso argumentiert, es komme bei dieser Frage darauf an, wie die neuesten Befunde über die "Glaubensverhältnisse" in Deutschland zu interpretieren sind und errechnet sogleich für Deutschland 26 Mio. (31,8 %) konfessionsfreie Menschen für das Jahr 2003 gegenüber je 31,3 % römisch-katholischen bzw. evangelischen Kirchenmitgliedern. Es habe sich gegenüber den Kirchen eine "säkulare Szene" als dritte Gruppe herausgebildet und deshalb sei zu fragen, ob hier nicht eine "dritte Konfession" feststellbar sei.


Konfessionen in Deutschland
Hochrechnung 2008
Katholiken
Evangelische
Konfessionsfreie
30,0 %
29,9 %
34,1 %

Das Argument für die Größe der zu vertretende Klientel führt zu weiteren gedanklichen Freiübungen: Der Dachverband solle "sich offensiv als Repräsentationsorgan aller Menschen verstehen, die hierzulande keiner Konfession angehören wollen. Unsere Bezugsgruppe besteht also aus mindestens 25 Millionen Menschen. Dass die Mitgliedsverbände nur einen kleinen, nämlich den organisatorisch erfassten Teil des Spektrums widerspiegeln, steht diesem Anspruch nicht im Wege. Man mag die volle Legitimität dieses Vertretungsanspruchs zwar in Frage stellen, allerdings treffen die entsprechenden Argumente in der einen oder anderen Form auch auf die bereits bestehenden religiösen Konkurrenzunternehmungen zu. Anders formuliert: Falls die Katholische Bischofskonferenz oder die EKD irgendwann einmal den Anspruch aufgeben sollten, im Namen von Millionen zu sprechen, und sich stattdessen auf die wenigen Zehntausend Christen beschränken würden, die tatsächlich noch in vollem Umfang mit den zentralen Dogmen des verfassten Christentums übereinstimmen, könnten auch wir den universellen Vertretungsanspruch fallen lassen. ... Solange aber die religiösen Organisationen weiterhin mit "unredlichen Mitteln" arbeiten, wäre es naiv, würden wir auf adäquate Gegenstrategien verzichten."

Nachdem die Frage nach der Legitimation für Korso so "geklärt" zu sein scheint, tritt ein weiteres, argumentativ aber nicht harmonisierbares internes Problem in der eigentlichen Zielsetzung im Korso auf: das Thema "Trennung von Kirche und Staat". Für die Tradition der Gruppe der Freidenker ist es ein grundsätzliches Anliegen, Kirche und Staat zu entkoppeln. Nun haben aber die evangelische und katholische Kirche durch Staatskirchenverträge (Konkordate) viele ihrer Privilegien in der BRD neu sichern können: Religionsunterricht, Militär- und Gefängnisseelsorge und das Recht, Kirchensteuern zu erheben, um nur einige Beispiele zu nennen. Sollte Korso jetzt selber Ansprüche auf diese Privilegien stellen?

Gleichbehandlung oder Trennung?

Horst Groschopp, Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD), beklagt: "Wir erleben immer wieder, z.B. bei der Beantragung unseres Schulfachs "Humanistische Lebenskunde", dass Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung, der in unser Grundgesetz per Art. 140 übernommen wurde, ignoriert wird, dass nämlich den Religionsgesellschaften diejenigen Vereinigungen gleichgestellt sind, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen. Dazu gehört der HVD. Das wird der Korso durchsetzen helfen." Und weiter: "Auch der HVD will, dass die noch immer erfolgenden staatlichen Ausgleichszahlungen für die Säkularisierung der Kirchengüter von 1803 endlich eingestellt werden. Doch im Unterschied zu anderen Verbänden meint der HVD, dies sei politisch illusorisch. Deshalb favorisiert er den Weg der Gleichbehandlung." Für die praktische Politik des Verbandes folgt daraus, dass die im Korso zusammengeschlossenen Organisationen gleichziehen sollen mit den großen Religionsgemeinschaften. Sie wollen wie sie in den Status des privilegierten Verhältnisses von Staat und Kirche eintreten, etwa so, wie das die jeweiligen Konkordate für die Kirchen regeln.

Dies ruft heftige Reaktionen in einigen Gruppierungen, vor allem bei den Freidenkern, hervor. Einige von ihnen forderten bereits den Austritt der Freidenker aus dem Korso. Diese Stimmen sind der Auffassung, die Satzung des Korso lasse den Schluss zu, der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts im Sinne der "Gleichbehandlung" der Religionsgemeinschaften und anderen Weltanschauungsgemeinschaften werde angestrebt. Das widerspreche total der Tradition der Freidenker, die als Kernpunkt die Trennung von Kirche und Staat fordert.

"Kuschel-Atheismus"

Bemerkenswert ist, mit welcher Zurückhaltung von Korso der Atheismusbegriff verwandt wird. Das Selbstverständnis wird mit den vieldeutigen Begriffen wie "humanistisch", "säkular", "weltanschaulich ungebunden", "aufgeklärt", "autonom", "konfessionsfrei" zum Ausdruck gebracht. In der säkularen Szene wird das bereits als "Kuschel-Atheismus" bezeichnet.

Horst Groschopp vom HVD erklärt dazu in einem Interview mit der Zeitschrift "diesseits": "Was nicht geht, ist nur, dass 'kraft Amtes', 'von Staats wegen', eine bestimmte Religiosität vorgeschrieben wird, wie dies in der klerikal geprägten Bundesrepublik allzu oft vorkam. Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist ein verfassungsmäßiger Grundwert. Menschen haben Bedarf an Religionen und Weltanschauungen. Der 'freie Markt der Bekenntnisse' wird aber behindert durch historisch gewordene staatliche 'Privilegienbündel' für Kirchen. Wir wollen den Staat zur Gleichbehandlung humanistisch gesinnter Menschen zwingen - und lassen andere nach ihrer Fasson glücklich werden. ... Die Scheidelinie ... ist nicht 'hie Religiöse, da Säkulare'. Auch auf anderen Feldern stellen sich die Fragen nicht so einfach. Und Religiöse - Christen, Juden, Muslime, Buddhisten ..., die ... für mehr Selbstbestimmung eintreten, zu gemeinsamen ethischen Lösungen sich bereit finden, sich für Barmherzigkeit engagieren und für Toleranz, sind mir allemal lieber als Neokonservative, so atheistisch sie sein mögen, oder Islamophobe, die aus jeder Moschee hierzulande den Ajatollah winken sehen." Hier wird grundsätzlich die Forderung aufgestellt, daß in der heutigen säkularen Welt Kirchen und Religionen keinen Alleinvertretungsanspruch auf Weltanschauung und Welterklärung mehr beanspruchen können.

Und wie ist es mit der politischen Option des neuen weltanschaulichen Verbandes? Auch danach fragt die Zeitschrift "diesseits" in diesem Interview. Die Antwort lautet: "Wir sind Humanisten. Das ist eine Weichenstellung in Richtung Toleranz. Als Atheist kann man auch Nazi sein. Leider ist das so. Deshalb hat der HVD sich klar für Humanismus entschieden und sich von den mehrdeutigen Kennungen 'Freidenker', 'Freigeister', 'Atheisten' verabschiedet. Wir haben mit allen im Korso eine gemeinsame Gegenwart und Geschichte. Wir verstehen uns als Freunde. Freundschaft heißt nicht 'alles verstehen und alles verzeihen', heißt nicht Kumpanei. Wir wollen es politisch miteinander versuchen, der Konfessionsfreien wegen."

Vielleicht hat Korso doch eine Zukunft.

Karl-Helmut Lechner

Quellen:
Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland; http://fowid.de/
Carsten Frerk, "Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland", Aschaffenburg: Alibri Verlag, 2002. 435 Seiten, kartoniert, Euro 24,50, ISBN 3-932710-39-8; www.alibri.de.
Konfessionslose aller Bundesländer vereinigt euch? Überlegungen zu einem "Zentralrat der Konfessionsfreien in Deutschland" (ZdKiD); http://www.giordano-bruno-stiftung.de/
diesseits", 1. Quartal, Nr. 86/2009 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes, "Korso auf Bergfahrt"

Raute

Parteitag Die Linke: Große Widersprüche, aber auch Chancen

Die Linke führte am 20. und 21. Juni in Berlin ihren Bundestagswahlparteitag durch. Klaus Lederer, Vorsitzender des Landesverbandes Berlin, begrüßte die Delegierten und machte am Beispiel Berlin deutlich, dass es auch unter schwierigsten Bedingungen möglich sei, linke Reformpolitik zu gestalten. Wichtig sei es zu zeigen, dass Die Linke über ihren Widerstand gegen und Kritik an den Verhältnissen hinaus auch konkret in diese Verhältnisse eingreifen kann. Lederer forderte die Delegierten auf, nicht zu viel Zeit damit zu verbringen, sich selbst und anderen die Welt zu erklären.

Der Parteivorsitzende Oskar Lafontaine versuchte dann genau dieses in seiner sehr langen Rede, äußerte sich dafür zu den innerparteilichen Widersprüchen gar nicht. Er griff in seiner Rede die Profiteure des Finanzkapitalismus an und geißelte sie als "Asoziale". Er forderte ein Zukunftsprogramm für zwei Millionen Arbeitsplätze mit Investitionen von 100 Milliarden Euro pro Jahr in Bildung, Gesundheitsschutz, Klimaschutz, Infrastruktur und Verkehr. 100 Milliarden Euro sollen in den sozialökologischen Umbau der Industriegesellschaft gehen und eine Million neue Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst geschaffen werden. Ein gesetzlicher Mindestlohn von zehn Euro soll eingeführt werden und die Hartz-IV-Regelsätze auf 500 Euro angehoben werden. Finanziert werden soll das durch eine Änderung des Steuerrechts, insbesondere durch eine Erhöhung der Steuern für Wohlhabende.

Lafontaine nahm Stellung gegen die Grenzen der parlamentarischen Demokratie und forderte mehr Wirtschaftsdemokratie durch Unternehmensbeteiligungen der Belegschaften. Flankiert werden soll das durch die Abschaffung des Antistreikparagraphen und die Zulassung von politischen Streiks. Desweiteren nahm Lafontaine deutlich Stellung gegen jede Form von Kriegseinsätzen der Bundeswehr und forderte ein Ende von Rüstungsexporten. Gegen die imperiale Durchsetzung von Kapitalinteressen forderte er eine klare Ausrichtung der Linkspartei als Antikriegspartei. Lafontaine ließ es sich nicht nehmen, heftige Medienschelte gegen vermeintliche und tatsächliche unfaire Berichterstattung zu betreiben und forderte eine Ausweitung der Pressefreiheit. Er ist ja schon länger kein Ministerpräsident mehr.

Insbesondere zu den Forderungen zu Hartz IV und dem Mindestlohn hatte es im Vorfeld Auseinandersetzungen und Kritik aus dem Reformlager gegeben, die u.a. befürchten sich mit zu großen Maximalforderungen von möglichen Bündnispartnern zu entfernen (s. Kasten).


John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß - Ein Neuentwurf:

Zur Idee der Kooperation gehört auch die Vorstellung vom rationalen Vorteil oder Wohl jedes Beteiligten ... Hier werde ich mich durchweg an eine Unterscheidung halten zwischen dem, was ich als das Vernünftige nenne, und dem, was ich als das Rationale bezeichne. Dies sind grundlegende und einander ergänzende Vorstellungen, die in die Grundidee der Gesellschaft als faires System der sozialen Kooperation hineinspielen. Auf den einfachsten Fall angewandt ... heißt das, dass vernünftige Personen bereit sind, diejenigen Prinzipien vorzuschlagen oder ... von anderen ... anzuerkennen, die nötig sind, um Bedingungen festzulegen, die von allen als faire Modalitäten der Kooperation erkannt werden können. Vernünftige Personen verstehen auch, dass sie diese Prinzipien einhalten müssen, selbst wenn es ... auf Kosten ihrer eigenen Interessen geschieht, vorausgesetzt, von den anderen darf ebenfalls erwartet werden, dass sie sich nach diesen Prinzipien richten... Noch schlimmer als unvernünftig ist es, wenn man bloß den Anschein erweckt oder so tut, als unterbreite oder achte man sie, während man bereit ist, um des eigenen Vorteils willens dagegen zu verstoßen, wenn die Gelegenheit es erlaubt.

Es ist zwar unvernünftig, entbehrt aber nicht generell der Rationalität. Es kann nämlich sein, dass manche mehr politische Macht haben als andere oder sich in einer glücklicheren Position befinden... es kann für die besser Plazierten rational sein, ihre Situation auszunutzen. Im Alltag machen wir implizit Gebrauch von dieser Feststellung, etwa wenn wir von bestimmten Personen sagen, ihr Angebot sei angesichts ihrer überlegenen Verhandlungsposition durchaus rational, aber dennoch unvernünftig. Der Common Sense betrachtet zwar das Vernünftige, aber im Allgemeinen nicht das Rationale als eine sittliche Idee, die moralisches Feingefühl beinhaltet.


Die Rolle des Ausputzers im innerparteillichen Streit übernahm dann Gregor Gysi. Er wandte sich gegen die Ideologieschlachten der diversen Strömungen, die nur Verlierer hinterlasse, und verteidigte vehement den Pluralismus der Partei. Die Anhänger der verschiedensten Meinungen sollen bei Konflikten miteinander statt übereinander reden. Gysi zählte noch mal die Alleinstellungsmerkmale der Linkspartei auf: Nein zu Angriffskriegen, mehr Wirtschaftsdemokratie, Ausbau des öffentlichen Eigentums, Umverteilung von oben nach unten, soziale Gerechtigkeit.

Bei der Programmdiskussion wurde deutlich, dass das fehlende Parteiprogramm die Debatte über das Bundestagsprogramm überlagerte. Gysi und andere appellierten zwar an die Delegierten darauf zu achten, dass ein Programm für eine Bundestagsfraktion in den nächsten vier Jahren keine Grundsatzdebatte ersetzen könne. Trotzdem kam es zu einer Vielzahl von Anträgen aus dem Westen, die sehr grundsätzliche Anliegen zum Inhalt hatten.

Deutlich wurde der Konflikt aber auch u.a. zu den Ausführungen von Lafontaine und Gysi zur Wirtschaftsdemokratie. Deren Ausweitung ist zweifellos wichtig, aber ob sich mit Belegschaftsanteilen an den Betrieben Werkschließungen wie bei Nokia tatsächlich verhindern lassen, wie es beide behauptet haben, dürfte fraglich sein. Der Linken fehlt ein wirtschaftspolitisches Konzept, mit dem solche Fragen behandelt werden können. Ähnlich verhält sich zu weiteren Themen, so z.B. zu einer alternativen Außenpolitik. Immerhin ist die Positionierung als Antikriegspartei mit der Ablehnung jeglicher Kriegseinsätze sehr deutlich. Wie kann aber die NATO abgeschafft werden und durch ein kollektives Sicherheitssystem samt Rußland ersetzt werden, ohne dass sich die alten strukturierten Machtverhältnisse ähnlich wie jetzt wieder reproduzieren? Immerhin wäre Russland mit im Boot, aber reicht das? Zu befürchten ist jedenfalls, dass diese und andere Fragen, die schon längst hätten geklärt werden müssen, nach der Bundestagswahl mit großer Heftigkeit auf die Partei zurückfallen.

Der Kommentar der "Welt am Sonntag" gibt ganz gut den überwiegenden Tenor in den bürgerlichen Medien zum Bundeswahlprogrammparteitag Die Linke wieder: "Der Richtungskampf lässt sich zugespitzt als Streit zwischen dem Ost- und dem Westflügel der Partei beschreiben. Die reformistische Strömung aus der alten PDS hat jahrelang darauf hingearbeitet, die Linke als programmatische Kraft für ein rot-grünes Bündnis fit zu machen. Das hat Parteichef Oskar Lafontaine durchkreuzt, indem er der verbitterten Gewerkschaftslinken aus der WASG und diversen linksradikalen Sektierergruppen Raum für ihre sozialistische Heilspropaganda gab. So sehr das Ost-Reformern gegen den Strich geht, ist ih nen jedoch zugleich klar, dass sie ohne Lafontaine und seine Hilfstruppen nie über den Status einer ostdeutschen Regionalpartei hinausgekommen wären" (Welt am Sonntag, 21.6.09.)

Tatsächlich erscheinen die Widersprüche in der Partei vorwiegend als Ost/West-Konflikt. Diese Beschreibung ist richtig und falsch zugleich. So haben sich auf dem Parteitag die ostdeutschen Landesverbände gegen einen allzu pseudoradikalen Kurs der Maximalforderungen aus den Westverbänden zur Wehr gesetzt. Sie waren verärgert über diesen Kurs, der u.a. neben der nicht eindeutigen proeuropäischen Positionierung bei der Europawahl für ein schlechteres Ergebnis, als allgemein erwartet, gesorgt hat. Beiträge mit klarer inhaltlicher Zielsetzung und konkreten politischen Lösungsmöglichkeiten kamen dann auch vorwiegend von den Ostdelegierten, eher deklamatorische Beiträge aus dem Westen. Gregor Gysi hat in seiner Rede zu Recht darauf hingewiesen, dass es ohne die gute Vorarbeit der PDS mit dem bisherigen Erfolgen der Linkspartei auch nicht weit her wäre.

Diese Zuschreibung ist auch richtig, weil die Ostler aus ihren Erfahrungen mit dem Realsozialismus gegen belehrende Heilslehren weitgehend immun sind, und es auch gar nicht nötig haben, sich ständig mit pseudoradikalen Bekräftigungen selbst vergewissern zu müssen. Sie zeigen, dass linke und radikale Realpolitik machbar ist, der die Menschen ohne Bevormundung ernst nimmt.

Die Ost/West-Zuschreibung ist aber deshalb falsch, weil sich verschiedene Politikstrategien unabhängig von verschiedenen politischen Kulturen auch aus der Höhe der Wahlergebnisse ergeben, bzw. aus Verantwortlichkeiten, die auch durch niedrigere Wahlergebnisse entstehen. Die Linke im Westen könnte mit Ost-Wahlergebnissen auch nicht anders als pragmatisch handeln, andernfalls würde sie nicht wiedergewählt. Sie muss es dort auch tun, wo sie im einstelligen Prozentbereich abschneidet. Allerdings ist im Westen der damit befasste Teil der Mitglieder zu gering, als dass sich das durchschlagen kann auf die jeweiligen Landesparteien. So finden sich die sog. Ost/West-Widersprüche auch innerhalb der Westverbände wieder, in Nordrhein-Westfalen z.B. vor allem zwischen Anhängern der Antikapitalistischen Linken (AKL) und refomorientierten Kommunalpolitikern, vor allem aus der alten PDS.

Das Problem ist, dass sich diese strategischen Differenzen nicht durch Parteitagsdiskussionen oder Beschlüsse lösen lassen, sondern nur durch die politische Praxis. Es ist eine strategische Differenz zwischen konstruktiver Reformpolitik und einer Politik der maximalen Delegitimierung. Die Delegitimierung des Handelns von politischen Gegnern, Staatsorganen oder Wirtschaftsvertretern, etc. ist eine Taktik, die in der Politik, gerade auch in der linken, weit verbreitet und auch oft genug notwendig ist. Sie ist vor allem dort berechtigt, wo sie auf himmelschreiende Ungerechtigkeiten (Hartz IV) aufmerksam machen muss. Den Betroffenen blieb wenig anderes übrig, als so auf die radikale Entwertung ihres Arbeitslebens zu reagieren. In dieser Situation trafen diese Entgrenzten in der WASG auf politische Strömungen, deren Lehrmeinungen sich traditionell in dieser Richtung verfestigt haben, und die gemeinhin als "linksradikal", dogmatisch, etc. bezeichnet werden. Obendrauf sitzt Oskar Lafontaine, der für den entsprechenden populistischen Lärm sorgt. Lafontaine ist zwar alles andere als ein Dogmatiker. Seine politische Biographie zeigt, dass er Realpolitik kann, und zwar auch rechte. Aber es stört ihn nicht, mit wem er sich verbündet, da er sich für die subjektive bzw. die soziale Seite der Partei nur so weit interessiert, wie es ihm Mehrheiten verschafft. Sein Kalkül, so die Partei stark zu machen, ist jedenfalls nicht aufgegangen. Denn Negativkritik verbraucht sich schnell, das zeigt auch die misslungene SPD-Europawahlkampagne. Trotzdem würde es ohne ihn derzeit wahrscheinlich auch nicht gehen.

Das Prinzip der Delegitimation ist vor allem da, wo es sich zur Globaltheorie verselbständigt hat, zwar rational aber nicht vernüftig. Denn sie lebt zusätzlich zur berechtigten Kritik davon, größtmögliche Einwände gegenüber dem politischen Gegner zu sammeln. Sie lebt von Stimmungen, Vermutungen und Verdächtigungen. Irgendwann ist nur noch die eigene Strömung legitim, selbst gegenüber den eigenen Parteigenossen. Das führt zur Überhöhung und zur undemokratischen Ausnutzung von Machtpositionen. So werden im Landesvorstand NRW Entscheidungen getroffen, die im Vorfeld fraktionell auf AKL-Sitzung beschlossen werden.

Diese Politik steht der Entwicklung und Entfaltung von Kommunalpolitik entgegen, weil sie nicht durch strategische Zielvorstellungen geerdet ist. Verständigung mit dem politischen Gegner ist so nicht möglich, weil das Feindbilddenken eventuelle Gemeinsamkeiten nicht erklärbar macht. Die Hoffnung, dass über eine Empörungspolitik viele Menschen an Mandate kommen, sich dann an dem Stoff abarbeiten und solide Politik machen, ist riskant. Denn so eine Entwicklung braucht viel Zeit. Ehrenamtliche Arbeit im Kommunalparlament ist immer beschränkte Zeit, da sie neben den anderen Anforderungen des Lebens durchgeführt werden muss. Sie braucht auch das unterstützende Umfeld und den subjektiven Willen dazu. Wenn dann die klaren Vorstellungen fehlen, was im Parlament gemacht werden soll, wird es schwierig. Das lässt für die NRW-Landtagswahlen im nächsten Jahr nichts Gutes ahnen. Trotzdem gilt gerade auch für NRW mit seinen beiden großen Strömungen AKL und SL: Der Parteitag hat seine Fähigkeit zum Kompromiß unter Beweis gestellt. Das war gerade nach dem Europaparteitag so nicht absehbar und bietet die Chance auf die weitere Integrationsfähigkeit der unterschiedlichen Flügel. Gregor Gysi hat dann auch völlig richtig darauf hingewiesen, dass jeder Flügel für sich ohne die Gesamtpartei gesellschaftspolitisch völlig bedeutungslos wäre.

Thorsten Jannoff, Arbeitsgemeinschaft "Konkrete Demokratie - Soziale Befreiung", Parteitagsdelegierter mit beratender Stimme.

Raute

IN & BEI DER LINKEN

Angestaute Widersprüche, Formelkompromisse, Disziplin und ein bisschen Hoffnung -
Die Parteitagsdebatte um das Bundestagswahlprogramm 2009

Eigentlich waren die Anforderungen an den Bundesparteitag zur Verabschiedung des Bundestagswahlprogramms so hoch, dass sich nicht so recht das Gefühl einstellen mag, die Partei hätte sie voll und ganz bewältigt. Das hat sie nämlich auch nicht. Allerdings wird man sagen können, dass der Bundesparteitag in einer Weise agiert und entschieden hat, die den Umständen angemessen war. Kurzum: Die Linke. hat wahrscheinlich das Beste aus der Situation gemacht.

Drei zentrale Konflikte

Aus der Presse und der Kommunikation des Parteitages lässt sich relativ leicht ablesen, dass drei zentrale programmatische Konflikte im Raum standen: Zum einen die Frage nach der Einstiegshöhe eines gesetzlichen Mindestlohns, der Regelsatzhöhe des ALG II und zum dritten der Streitpunkt, welche Formulierung in der NATO-Frage zu wählen sei. Erstere beiden sind dabei von besonderer Bedeutung, der dritte Streitpunkt barg wohl den wenigsten Sprengstoff.

Streitfrage "Mindestlohn": Acht Euro oder zehn Euro pro Stunde?

Zum einen ging es darum, sich auf ein Programm zu einigen, dass den stark unterschiedlichen Erwartungen in disparaten Partei- und WählerInnestrukturen in West und Ost gleichermaßen gerecht werden konnte. Hierbei galt es für die östlichen Landesverbände, insbesondere Thüringen, Brandenburg und Sachsen, Widersprüche zwischen dem Bundestagswahlprogramm und den jeweiligen Landtagswahlprogrammen zu vermeiden. Beispielsweise zieht die brandenburgische Linke mit einer Forderung nach einem Öffentlich Geförderten Beschäftigungssektor (ÖBS) für Brandenburg in den Wahlkampf, der sich besonders an Langzeitarbeitslose richtet und mit Mindestlöhnen von 8 € realisierbar ist - für ein Land mit einer Arbeitslosenquote von 13,8 % ein durchaus beachtliches Projekt. Die vom Parteivorstand vorgeschlagenen 10 €, die mit Blick auf die Forderungen der Arbeitsloseninitiativen entwickelt wurden, erschienen vor diesem Hintergrund vielen Brandenburger GenossInnen als zu wenig glaubwürdig.

Streitfrage "Arbeitslosengeld II": 435 Euro oder 500 Euro pro Monat?

Während der Parteivorstand ebenfalls mit Blick auf die Forderungen der Arbeitsloseninitiativen einen ALG-II Regelsatz von 500 Euro im Entwurf verankert sehen wollte, eine Forderung, die aus logischen Gründen eng mit der Mindestlohnforderung verbunden ist, stellte sich das reale bündnispolitische Problem, dass Gewerkschaften und Sozialverbände ihre Forderungen von 435 € bisher beibehalten haben. Hierbei galt es - wie beim Mindestlohn auch - verschiedene bündnispolitische Zielsetzungen auszugleichen. Aber auch die stark in Hartz-IV-Betroffenen Aktionsgruppen sozialisierten Teile der Westbasis übten auf den Bundesparteitag in diesen Fragen merklichen Druck aus.

Der große Kompromiss

Der Parteitag entschloss sich in diesen beiden Streitfragen einen Kompromiss zu verabschieden, der besonders unter Regie brandenburgischer GenossInnen und Führungsfiguren von Antikapitalistischer Linke (AKL) und Sozialistischer Linke (SL) verabredet werden konnte. Zwar wurde die vom Parteivorstand vorgeschlagenen Zahlen (10 € und 500 €) beibehalten. Allerdings wurde diesen die Floskel "in der nächsten Legislaturperiode" zur Seite gestellt, die einen Prozesscharakter suggerieren sollte. Darauf hatten insbesondere die wahlkämpfenden Ost-Verbände gedrängt. Dieser ganz klassische Formelkompromiss, könnte man nun entgegen halten, vermag weder logisch noch strategisch wirklich zu überzeugen. Allerdings wird man ihm zugute halten müssen, dass er ein geschlossenes Auftreten der Partei bei diesem Parteitag ermöglicht hat, das vor einer so wichtigen Wahl wie der kommenden Bundestagswahl unumgänglich erscheint. Dass dieser Kompromiss, dem letztlich auch unterschiedliche strategische, bündnispolitische und programmatische Einschätzungen zugrunde liegen, über den 27. September 2009 hinaus trägt, ist hingegen kaum zu erwarten.

Streitfrage "NATO": Austreten, auflösen, ersetzen oder reformieren?

Dritter Streitpunkt war die Formulierung zur Zukunft der NATO. Die nun gefundene Formulierung "die NATO auflösen und ersetzen durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands" erscheint mit Blick auf das Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners durchaus überzeugender als die Formulierungen in der Frage der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik; scheint er doch die wesentlichen Eckpfeiler einer europäischen Sicherheitspolitik zu umreißen. Ob die Partei aber momentan in der Lage ist, in außenpolitischen Fragen interne Debatten - die Grundlage für eine Profilbildung nach außen - überzeugend zu organisieren, bleibt fraglich: Ist doch die Frage, wie Sicherheitspolitik in Europa konkret zu realisieren ist, insbesondere mit Blick auf die Mechanismen derselben und auf die Rolle Deutschlands hierbei, weitgehend ungeklärt.

Faule Kompromisse oder der Beginn einer notwendigen Verständigung?

Als roter Faden dieser Wahlprogrammdebatte zeigt sich: Eine wirkliche Verständigung um Inhalte musste zugunsten eines Kampfes um geglättete Worte unterbleiben. Auch viele andere Programmfragen hätten durchaus auch in der Wahlprogrammdebatte eine Rolle spielen können, vielleicht sogar sollen. Darauf hat die Partei zugunsten im Wesentlichen dreier exemplarischer Auseinandersetzungen verzichtet. Es ging darum, einen zustimmungsfähigen Text ohne viel Aufsehen zu verabschieden - ein Anliegen, das strategisch nachvollziehbar und sicher in Wahlkampfzeiten auch geboten ist. In Bezug auf diese notwendige Parteidisziplin hat Die Linke. sich bewährt. Doch die größten Aufgaben in Bezug auf die Verständigung untereinander liegen noch vor ihr. Zu viele Gretchenfragen sind weiterhin offen, als dass eine Partei damit auf Dauer stabil bleiben könnte. Wenn es der Linken gelingt, die neu gewonnene Disziplin in eine intensive, faire und offene Programmdebatte zu lenken, hat sie eine echte Chance, sich auf Dauer zu stabilisieren.

Jonas Benz, Koordinator NRW forum demokratischer sozialismus (fds)

Raute

TERMINE

Neuerscheinung bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung

In der Reihe RLS-Papers ist ganz neu erschienen:

Die Linken und die Krisen

Einführung
Das Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat sich mit ihrem Kontroverspapier "Die Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus - Herausforderung für die Linke" in die öffentliche Diskussion eingebracht. Ausgehend davon haben wir Aktivistinnen und Aktivisten aus Gewerkschaftlichen, sozialen Bewegungen und Parteien sowie linker Akademikerinnen und Akademiker gebeten, in sehr knapper Form ihre Positionen zu folgenden vier Fragen aufzuschreiben:

1. Wie werden die gegenwärtigen Krisen sowohl individuell als auch kollektiv wahrgenommen? Welche Unterschiede gibt es zu den bisherigen Krisen und was bedeuten diese Unterschiede für Strategien zur Krisenbewältigung?

2. Wie verändert die Krise nach Sicht des Autors für den jeweiligen Akteur Spielraum und Varianten kollektiven wie auch individuellen Handelns? Wie werden diese veränderten Handlungsmöglichkeiten durch den jeweiligen Akteur reflektiert?

3. Mit welchen Strategien reagieren linke Akteure auf die Krise (national und international)? Gibt es wesentliche Veränderungen bezogen auf strategische Bündnisse und politische Konzepte, aktuelle Kämpfe, Kampfformen, zentrale Forderungen etc.?

4. Ermöglicht die Krise die Entwicklung und Einstiege in alternative Projekte oder Wege - welche sind das?

Im Ergebnis ist diese Sammlung entstanden, eine Art des Nachdenkens und Fragens im suchenden Vorwärtsgehen. Sie ist unvollständig, viele Positionen wären zu ergänzen, sehr Vieles muss zwangsläufig offen bleiben. Trotz allem aber zeigt sich: Krisen sind Herausforderungen für ein Neues Denken, sind Chancen, sich zu öffnen und zu experimentieren.

Eines machen alle Beiträge deutlich, die jetzige Krise ist nicht nur eine Krise des Kapitalismus, sondern auch eine Krise, die die verschiedenen Kräfte der pluralen Linken selbst verändern wird. Alle sind sie durch tiefe Widersprüche geprägt und keine in ihrer jetzigen Form und ohne eine neue Weise des Zusammenwirkens mit den anderen zu radikaler Realpolitik und einem gesellschaftsverändernden Wirken als Kraft einer über den Kapitalismus hinausweisenden Transformation fähig. Wer will, dass die Linke bleibt und stärker wird, muss wollen, dass sie sich verändert.

In der jetzigen Krise verstärken sich konservative und retardierende Tendenzen in den verschiedenen Gruppierungen der Linken wie auch jene, die durch Selbstveränderung und neue Strategien der Kooperation zu einer neuen, gesellschaftlich eingreifenden Kraft der Linken beitragen wollen. Nur zusammen und auf der Basis einer respektvollen Kritik und dem Erkunden der neuen Möglichkeiten können die Chancen dafür erschlossen werden.

Wenn dies im Geiste der Solidarität geschieht, wie in den hier vorliegenden Beiträgen, wenn aufgezeigt wird, wo neue Potentiale liegen, wenn nach Bedingungen einer engeren und wirkungsvolleren Kooperation gefragt wird, ist dies ein sehr ermutigendes Zeichen. Wir hoffen, dass dadurch zum Aufbruch der Linken in der Bundesrepublik beigetragen werden kann.

Conny Hildebrandt und Michael Brie, 7. Juni 2009


Mit den Aufsätzen: Franziska Wiethold: Die Linke und die Krise - Aktionsfeld Beschäftigungssicherung • Matthias Hinze: Begrenzte Autonomie - Die DGB-Gewerkschaften im Wahljahr • Jörg Nowak: Gewerkschaften und betrieblicher Widerstand in der Krise • Horst Kahrs: Die Linken und die Krise • Christina Kaindl: Die Radikale Linke und die Krise • Conny Hildebrandt: Die aktuelle Krise auf dem Kirchentag - relevant für die Linken? • Frank Kleemann, Uwe Krähnke, Ingo Matuschek: Wer und was ist heute "links"? Konturen linksaffiner Milieus in Deutschland • Joachim Bischoff, Richard Detje, Christoph Lieber, Bernhard Müller, Bernhard Sander, Gerd Siebecke und Guido Speckmann (Redaktion Sozialismus): Eine neue Qualität des »Stellungskrieges« • Birgit Daiber: Versuch: Die Linke und die Krisen • Uli Brand: Akteurskonstellationen, deren Internationalisierung und die Frage alternativer Praxen • Mario Candeias: Die letzte Konjunktur. Organische Krise und 'postneoliberale' Tendenzen • Frieder Otto Wolf: Rethinking radical politics: Crises, agencies, crisis and revolutionary practice. Theses on the way in a process of collective reflection • Peter Wahl: Politische Stabilität trotz Krise • Thomas Seibert: Strategisches Szenario, gewonnen im Rückblick auf italienische Ereignisse • Walter Baier: Krise ohne Linksentwicklung • Lutz Brangsch: Die Linken und die Krise im Spiegel der Diskussionen im Netzwerk transform! • Mona Bricke: Die Linken und die Klimakrise: Eine Frage der Gerechtigkeit • Holger Politt: Die Krise aus polnischer Sicht • Michael Brie: Die Krise als Chance


Der Text ist als PDF-Datei kostenlos erhältlich über: www.rosalux.de in der Rubrik Texte/Publikationen, rls papers.


*


Vorschau auf Wahlen
Jahr
Monat
Wo?
Was?
Termin
Wahlperiode
2009





August
August
August
August
Sept.
Sept.
NRW
Saarland
Thüringen
Sachsen
Brandenburg
Bundesrepublik
Kommunal
Landtag
Landtag
Landtag
Landtag
Bundestag
30.8.
30.8.
30.8.
30.8.
27.9.
27.9.
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
2010

Frühj.
Frühj.
Schlesw.-Holstein
NRW
Landtag
Landtag
9.5.
9.5.
5 Jahre
5 Jahre
2011







Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Herbst
Herbst
Herbst
Baden-Württemb.
Rheinland-Pfalz
Sachsen-Anhalt
Hessen
Bremen
Niedersachsen
Berlin
Mecklenb.-Vorp.
Landtag
Landtag
Landtag
Kommunal
Landtag/K
Kommunal
Landtag/K
Landtag








5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
2012
Frühj.
Hamburg
Landtag/K

4 Jahre

Quelle: www.wahlrecht.de/termine.htm

Raute

IMPRESSUM

Politische Berichte

ZEITUNG FÜR LINKE POLITIK - ERSCHEINT ZWÖLFMAL IM JAHR

Herausgegeben vom: Verein politische
Bildung, linke Kritik und Kommunikation,
Venloer Str. 440, 50825 Köln
Herausgeber: Barbara Burkhardt, Christoph Cornides,
Ulrike Detjen, Emil Hruska, Claus-Udo Monica,
Brigitte Wolf.

Verantwortliche Redakteure und Redaktionsanschriften:

Aktuelles aus Politik und Wirtschaft;
Auslandsberichterstattung:
Christiane Schneider, (verantwortlich),
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Regionales / Gewerkschaftliches: Martin Fochler,
GNN Verlag, Stubaier Straße 2, 70327 Stuttgart,
Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32,
E-mail: pb@gnn-verlage.de

Diskussion / Dokumentation: Rüdiger Lötzer,
Postfach 210112, 10501 Berlin,
E-mail: gnn-berlin@onlinehome.de

In & bei der Linken: Jörg Detjen,
GNN Verlagsgesellschaft Politische Berichte mbH,
50825 Köln, Venloer Str. 440, Tel. 0221/21 16 58,
Fax: 0221/21 53 73. E-mail: gnn-koeln@netcologne.de

Termine: Alfred Küstler, Anschrift s. Aktuelles.

Die Mitteilungen der "Bundesarbeitsgemeinschaft
der Partei die Linke Konkrete Demokratie - Soziale
Befreiung" werden in den Politischen Berichten
veröffentlicht. Adresse GNN Hamburg

Verlag: GNN-Verlagsgesellschaft Politische
Berichte mbH, 50825 Köln, Venloer Str. 440
und GNN Verlag Süd GmbH, Stubaier Str. 2,
70327 Stuttgart, Tel. 0711/62 47 01, Fax: 0711/62 15 32
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Halbjahresabonnement kostet 29,90 Euro (Förderabo
42,90 Euro), ein Jahresabonnement kostet 59,80 Euro
(Förderabo 85,80 Euro). Ein Jahresabo für Bezieher
aus den neuen Bundesländern: 54,60 Euro,
Sozialabo: 46,80 Euro. Ausland: + 6,50 Euro
Porto. Buchläden und andere Weiterverkäufer erhalten
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Druck: GNN Verlag Süd GmbH Stuttgart

Gegründet 1980 als Zeitschrift des Bundes Westdeutscher Kommunisten unter der Widmung
"Proletarier aller Länder vereinigt Euch!
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch".
Fortgeführt vom Verein für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation.


*


Quelle:
Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik
Ausgabe Nr. 7, 2. Juli 2009
Herausgegeben vom: Verein politische Bildung, linke Kritik und
Kommunikation
Venloer Str. 440, 50825 Köln
E-Mail: gnn-koeln@netcologne.de
Internet: www.gnn-verlage.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2009