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POLITISCHE BERICHTE/124: Zeitschrift für linke Politik 5/09


Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik

Nr. 5 am 7. Mai 2009


INHALT

Aktuell aus Politik und Wirtschaft
Politische Berichte im Internet
Wirtschaftskrise: Regierung prognostiziert 6 Prozent Minus
Hundert Tage Barack Obama: Zwiespältige Aussagen zur Straflosigkeit von Folter
Auslandsnachrichten

Regionales und Gewerkschaftliches
Aktionen ... Initiativen
Hamburg: Barrierefreier Zugang zum öffentlichen Nahverkehr!
Volksentscheid "Pro Reli" gescheitert
Kommunale Politik
Conti: Internationaler Protest gegen Werksschließungen in Hannover und Clairoix
Gewerkschaft bei Nestlé Brasilien vereitelt Angriff gegen medizinische Versorgung neuer Rentner
Nestlé Indien: Protestaktionen für Lohnverhandlungen
Wirtschaftspresse

Diskussion und Dokumentation
Die Ostsee - Geschichte, Wirtschaft, Verkehr
Ausstellung: Hörst Du Plato Die Signale
In & bei der Linken

Termine

Raute

AKTUELL AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT

Politische Berichte im Internet: www.gnn-verlage.com


Sommer: Koalition muss sofort den Finanzsektor gesetzlich regulieren

www.dgb.de. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer hat die Bundesregierung aufgefordert, "sofort mit der Regulierung des Banken- und Investmentsektors Ernst zu machen" und noch bis zur Wahl entsprechende Gesetze zu verabschieden. Dazu habe sie sich auf dem Londoner Gipfel verpflichtet, betonte er am Freitag auf der zentralen 1. Mai-Kundgebung des DGB in Bremen unter dem Motto "Arbeit für alle bei fairem Lohn". Bisher sei aber "gar nichts passiert".

Es gehe darum, Spekulation einzudämmen und zu kontrollieren, Unternehmen nicht mehr an kurzfristigen Renditezielen auszurichten und den Finanzsektor z.B. über eine Börsenumsatzsteuer an den Kosten der Krise zu beteiligen, betonte Sommer. Es müssten Regeln durchgesetzt werden, die verhinderten, dass so etwas wie die aktuelle Krise jemals wieder passiere. Dazu gehöre auch wesentlich mehr Mitbestimmung in Unternehmen und Betrieben. Bislang haben Politik und Gewerkschaften nach Ansicht des DGB-Chefs einen "ganz guten Job" gemacht, um die Menschen vor den negativen Folgen der Krise, vor allem vor Entlassungen zu schützen. Doch reichten die bisherigen Maßnahmen angesichts der Tiefe der Krise bei Weitem nicht aus. Sie müssten ergänzt werden durch eine Aufstockung der Hartz-IV-Regelsätze, Konsumgutscheine für kleine und mittlere Einkommen sowie durch ein Zukunftsinvestitionsprogramm zu Gunsten der Verkehrsinfrastruktur, der Energienetze, der Krankenhäuser, der Telekommunikation und vor allem der Bildung.

Zur Finanzierung der Krisenlasten forderte Sommer, dass die Verursacher zahlen müssten - auch mit ihrem Privatvermögen. Im Einzelnen verlangte er eine Anhebung des Spitzensteuersatzes, eine deutliche Erhöhung der Erbschaftssteuer für wirklich Reiche und die volle Versteuerung von Kapitalerträgen anstelle der niedrigen Abgeltungssteuer. Unter Hinweis darauf, dass Hartz-IV-Empfänger erst ihr Vermögen einsetzen müssen, forderte er dieses Prinzip auch für die Reichen und Superreichen. Sie müssten mit einer verzinsbaren Zwangsanleihe einen Lastenausgleichsfonds finanzieren, der in Schwierigkeiten geratene Unternehmen mit Bürgschaften und Beteiligungen über die Krise bringe. Wer dreistellige Milliardenbeträge für den Giftmüll der Banken aufbringe, müsse auch die Kraft haben, solche Summen für die Zukunft unseres Landes zu beschließen, appellierte Sommer an die Politik.

Der DGB-Chef erinnerte daran, dass bereits der Aufschwung an Millionen Menschen spurlos vorbei gegangen sei und dass Millionen "arm in die Krise gegangen" seien: "Jetzt sollen wir alle es ausbaden mit Einkommenseinbußen, Existenzangst und Entlassungen. Und natürlich sollen wir den ganzen Mist auch noch bezahlen... Aber wir lassen uns die Hirne nicht vernebeln. Das ist die Neuaufführung der alten Schmierenkomödie von der Sozialisierung der Verluste und der Privatisierung der Gewinne." Wenn es keinen gerechten, von den Menschen akzeptierten Ausweg aus der Krise gebe, "dann ist die soziale Marktwirtschaft, ja, dann ist auch unsere Demokratie bedroht," warnte Sommer.

Die Gewerkschaften wollten aber "eine soziale Demokratie mit einer fairen und sozialen Marktwirtschaft", versicherte der DGB-Chef. Dazu gehörten u.a. eine umfassende wirtschaftliche Mitbestimmung der Beschäftigten, die Tarifautonomie und ein gesetzlicher Mindestlohn. "Unser grundlegendes Ziel heißt Arbeit für alle bei fairen Löhnen. Wir wollen gute Arbeit und ein Leben ohne soziale Not und Angst um Existenz. Dafür demonstrieren wir heute."


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1. Mai 2009

maf. Behörden haben ein Langzeitgedächtnis. Die Staatsinstanzen werden die Ereignisse rund um diesen 1. Mai ausdeuten und Verfahren zur Einschränkung der Demonstrationsfreiheit entwickeln. Der Trend, aus dem öffentlichen Raum etwas durchgehend staatlich Reguliertes zu machen, wird genährt. Löst man sich für einen Augenblick vom dem Bild der Konfrontation von Demonstrationen mit Polizeikräften, so wird in der Ereignissen ein doppeltes Unvermögen sichtbar: Die Institutionen der Gesellschaft und mit ihnen die große Zahl der kleinen Leute, die es irgendwie geschafft haben, können sich nicht auseinandersetzen mit dem Unmut, der in der jungen Generation wächst. Achselzucken ist Trumpf. Gleichzeitig, und vielleicht auch deswegen, gelingt dieser der Übergang vom gefühlten Unmut zur überlegten Kritik nicht so recht, stattdessen: Gesten. So drastisch, dass eine Reaktion der Umwelt erzwungen wird, ist eine Geste erst, wenn sie Regeln verletzt, die öffentliche Ordnung stört oder Gesetze bricht.

Ein Rückblick auf die alte Bundesrepublik liefert dazu Anschauungsmaterial. Der politisch-kritischen Jugendbewegung der sechziger Jahre ging eine lange Phase voraus, in der sich "Ausschreitungen" häuften, im Zusammenhang mit Ereignissen der Massenkultur und auch des Sports gingen ganze Stadien und Hallen zu Bruch, Faschingszüge entgleisten in brutale Massenschlägereien usw. Warum? Sozialgeschichtlich sicher ist, dass in diesen Jahren ein wachsender Teil der jungen Generation in die veraltenden Traditionen und Lebenspraktiken der Älteren nicht eintreten wollte, wohl auch nicht konnte, es dauerte lange, lange Jahre bis aus der neuen Situation neue, lebenspraktisch relevante, politische Vorstellungen und Normen entstanden.

In diesem einen Punkte ähnelt die heutige Situation der damaligen Zeit: Die junge Generation wird nicht in die Lebensweise der älteren einrücken, und sie wird nicht die Umstände vorfinden, sich wie jene zu etablieren. Folglich ist die Kommunikation gestört. Fast tragisch ist, dass linke, kritische politische Kräfte, die für die Erörterung der neuen Problemstellungen offen wären, die Kommunikationsstörung nicht durch eine Anstrengung guten Willen aufheben können. Solche Probleme müssen innerhalb der betroffenen Generation besprochen und ausgedeutet werden, hier kann glaubhaft nur mitreden, wer unter den Bedingungen steht, die bestehen. Erst wenn und soweit jene Diskurse Ergebnisse mit politischen Anspruch präsentieren, wird eine allgemeine Diskussion möglich werden.

An diesem 1. Mai waren ja keineswegs nur Grenzüberschreitungen von Festen & Aktionen mit linkem Kontext zu verbuchen, an vielen Orten kam es zu großen und kleinen Übergriffen von Nazibanden. In einer solchen Situation lohnt sich Nachdenken über Probleme und Grenzen symbolischer Gesten und Proteste.

In diese Form der Auseinandersetzung steckt immer eine Verneigung vor der gesellschaftlichen Autorität, sie wird provoziert, sie ist gefragt, von ihr will man etwas wissen. So ist dieser Typus vorpolitischer Proteste auch für die neuen Nazis gut zugänglich.

Anders als in den fünfziger und frühen sechziger Jahren sehen wir heute nicht eine Auseinandersetzung zwischen einer junge, kritischen, antiautoritären Generation und alten Autoritäten oder sogar Nazis. Heute hat die Rechte den antiautoritären Gestus adaptiert, und so mündet die politische Ausdeutung des Unmuts zu einem strategischen Wettlauf zwischen links und rechts. Die linken Jugendbewegungen stehen in dieser Auseinandersetzung so schlecht nicht da, sie haben eine Reihe von Argumenten im Köcher, die auf die Ermöglichung von solidarischem Zusammenleben abzielen, dazu gehört auch das politische Geschick, Feste und Proteste im öffentlichen Raum zu organisieren, ohne in Schlägereien zu geraten.


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Weiter keine Freizügigkeit

rül. Die Bundesregierung hat der Europäischen Kommission Ende April offiziell die Mitteilung geschickt, dass sie auch in den kommenden beiden Jahren, bis 30.4.2011, für abhängig Beschäftigte aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten in Osteuropa keine Freizügigkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt zulassen will. Schon beim EU-Beitritt dieser Staaten 2004 hatte die Bundesregierung gemeinsam mit der österreichischen Regierung und anderen durchgesetzt, dass Arbeitnehmer aus diesen Staaten bis zu sieben Jahre nach EU-Beitritt noch gehindert werden können, sich Jobs in den "alten" EU-Ländern zu suchen. Viele EU-Länder haben diese Regelungen inzwischen aufgehoben, so dass z.B. polnische Arbeitnehmer in skandinavischen Ländern, in Großbritannien und anderswo Arbeit fanden.

Nur die Bundesrepublik und eventuell Österreich wollen diese Sperre nun die volle Sieben-Jahres-Frist aufrecht erhalten. Die tschechische Regierung, die derzeit die Ratspräsidentschaft in der EU hat, hat das Schreiben der Bundesregierung bereits kritisiert. Die deutschen Arbeitgeberverbände, der Zentralverband des Deutschen Handwerks und leider auch der DGB tragen laut Mitteilung der Bundesregierung an die EU die Position der Regierung Merkel mit, der DGB vermutlich, weil noch immer kein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt ist und damit die Gefahr des Lohndumpings fortbesteht. Im Bau- und Baunebengewerbe, bei der Gebäudereinigung und in der Innendekration ist zusäztlich auch die Niederlassungsfreiheit für Selbständige aus den neuen EU-Staaten bis 30.4.2011 weiterhin begrenzt.


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Baltische Staaten und Polen stärken Verbindungen zu den nordischen Ländern

www.cismo.at, alk. In der Klemme zwischen dem Großanbieter Russland und dem Großabnehmer Deutschland bauen die baltischen Staaten und Polen ihre Verbindung zu den Energienetzen Schwedens, Finnland und Norwegen und untereinander aus. Die Regierungschefs der baltischen Staaten (Lettland und Litauen) haben in Vilnius ihren jahrelangen Streit über ein Ostseekabel beigelegt, das künftig das baltische Stromnetz mit jenem Schwedens verbinden soll. Ein Kabel nach Finnland von 300 MW Kapazität besteht bereits länger.

Neben den staatlichen Netzbetreibern Schwedens und Litauens wird auch Lettland zu einem Drittel an dem neuen Kabel beteiligt. Damit wurde der jahrelange Streit zwischen Lettland und Litauen beendet, an die Küste welches der beiden Länder das Kabel führen sollte. Das Kabel soll eine Kapazität von 700 bis 1000 Megawatt haben und bis 2016 in Betrieb gehen. Die EU-Kommission genehmigte bereits Ende März 175 Mio. Euro Unterstützung für das von Litauen mit 2 Mrd. Litas (579 Mio. Euro) veranschlagte, als "Swedlink" bezeichnete Projekt. Ferner wurde vereinbart, eine "Energiebrücke" nach Polen hin auszubauen. Bereits seit 1998 besteht zwischen Polen und Schweden der sog. Swe-Pol-Link, eine Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung mit einer Kapazität von bis zu 1000 Megawatt. Die Verbindung ist so stark ausgelastet, dass eine Inanspruchnahme durch Dritte nicht in Frage kommt. Eine technische Besonderheit an diesem Übertragungsweg ist die ins Kabel eingebettete Rückstromleitung, bisher ließ man den bei Gleichstromübertragungen unumgänglich anfallenden Rückstrom durch Erdleitungen in den Meeresboden fließen, was zu Umweltbelastungen z.B. durch elektrolytische Prozesse führt.


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Die nächste Ausgabe der Politischen Berichte erscheint am 4. Juni 2009. Redaktionsschluss: Donnerstag, 29. Mai. Artikelvorschläge und Absprachen über pb@gnn-verlage.de. Tel: 0711/3040595, freitags von 7-12 h.

Die übrigen Erscheinungstermine für 2009, jeweils donnerstags: 2. Juli, 30. Juli, 10. September, 8. Oktober, 5. November, 3. Dezember und 13. Januar 2010.

Raute

Wirtschaftskrise: Regierung prognostiziert 6 Prozent Minus

Am 29. April legte Bundeswirtschaftsminister zu Guttenberg im Auftrag der Bundesregierung seine neue Wirtschaftsprognose vor. Danach geht die Regierung nunmehr von einem Rückgang des realen Bruttoinlandprodukts (BIP) in diesem Jahr um 6 Prozent aus.

Das wäre der schwerste wirtschaftliche Einbruch in Deutschland seit der Weltwirtschaftskrise. Damals ging das BIP im Deutschen Reich vier Jahre lang zurück: 1929 um 0,4 %, 1930 um 1,4 %, 1931 um 7,7 % und 1932 um 7,5 % (Zahlen nach Wirtschaft und Statistik, hrsg. vom Statistischen Bundesamt, Ausgabe 3/2009).

In der Nachkriegszeit hat es bisher keine vergleichbare Wirtschaftskrise gegeben. Das Statistische Bundesamt listet seit 1950 nur fünf Jahre auf, in denen das reale BIP sank: 1967 um 0,3 %, 1975, nach der ersten großen Ölkrise, um 0,9 %, 1982, im letzten Jahr der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt, um 0,4 %, 1993 wegen des Zusammenbruchs der Industrie in Ostdeutschland um 0,8 % und 2003, nach den Anschlägen des 11. Septembers und dem Platzen der Internet-Blase, um 0,2 %. (a.a.O.)

Einbruch im Export ...

Entscheidender Faktor für den Rückgang der wirtschaftlichen Leistung ist nach den Prognosen der Bundesregierung wie der Wirtschaftsinstitute der enorme Einbruch im Export. Jetzt rächt sich die jahrelange Vernachlässigung der Binnenkonjunktur und der Binnenkaufkraft. Aus der jahrelang verfolgten Strategie, "Exportweltmeister aller Klassen" zu werden, ist jetzt ein Nachteil geworden. Weil die deutsche Exportquote höher ist als in allen anderen großen Industriestaaten, sind auch die Auswirkungen des weltweiten Nachfrageeinbruchs auf die deutsche Wirtschaft jetzt besonders tief. "Made in Germany ist in der Krise out", hatte schon im März das "Handelsblatt" getitelt und geschrieben: "Die Exporte sind vom Aushängeschild zum Sorgenkind der deutschen Volkswirtschaft geworden." In der IG Metall wird offen diskutiert, dass man sich dem Ende des deutschen "Exportwunders" nicht ernsthaft entgegenstellen könne. Schließlich habe die Exportoffensive deutscher Konzerne in der Vergangenheit in Nachbarländern zahlreiche Fabrikschließungen und Jobverluste zur Folge gehabt.

Der private Konsum wird nach der Prognose der Bundesregierung Jahr 2009 demgegenüber nur um 0,1 % fallen, die Bautätigkeit (öffentlicher und privater Bau) um 2,2 %. Die Staatsausgaben steigen um 2,4 %, vor allem infolge des zweiten Konjunkturprogramms. In Summe sinkt die gesamte "Inlandsnachfrage" 2009 vermutlich nur um 1,5 %.

Die Exporte dagegen fallen zweistellig. Bereits im Januar waren sie um 17,5 %, im Februar um 25,7 % und im März um 17,1 % niedriger ausgefallen als im gleichen Monat des Vorjahres. (Berliner Zeitung, 17.4.09) Für das gesamte Jahr 2009 erwartet die Regierung nun, dass das Negativ-Szenario anhält. Sie rechnet mit einem Exportrückgang um 18,8 %. Verglichen damit soll der Rückgang der Importe (minus 10,6 %) deutlich niedriger ausfallen. Das Gesamtergebnis: Das Bruttoinlandprodukt, das wirtschaftliche Ergebnis aus Inlandsnachfrage plus Außenbeitrag, sinkt um die schon genannten 6 %.

Dabei zeichnet sich auch keine regionale Ausweichmöglichkeit im Export ab. Der Rückgang der Nachfrage nach deutschen Industriegütern ist global. Bereits im 4. Quartal 2008 sanken die deutschen Exporte in die anderen EU-Staaten um 9,1 %, in die USA um 8,5 %, nach Kanada um 9,9 %, in die Türkei um 21,7 %, nach Südafrika um 16,9 %, nach Indien um 9,4 %, nach Japan um 6,1 % und nach Südkorea um 15,9 %. Lediglich China, Brasilien und Russland nahmen damals noch mehr deutsche Exporte ab als im Vergleichsquartal des Vorjahres. (Handelsblatt, 25.3.09) Inzwischen dürfte auch der Export nach Russland eingebrochen sein. Für 2009 wird aktuell nur noch in China, Brasilien und evtl. Indien wirtschaftliches Wachstum erwartet. Für die übrige Welt erwarten die Wirtschaftsinstitute dagegen einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um mehr als 3,3 %. Das wäre der stärkste Einbruch seit Ende des zweiten Weltkriegs.

Entsprechend groß ist die Ratlosigkeit, die auch in der Pressemitteilung des Wirtschaftsministers zu seiner jüngsten Prognose durchschimmert. "Der wirtschaftliche Rückschlag, den wir in diesem Jahr erwarten, ist weit überwiegend die Folge des ... massiven Rückgangs unserer Exporte", teilt der Minister mit, und wettert gegen Forderungen nach einem dritten Konjunkturprogramm, wie sie von den Gewerkschaften erhoben werden. Wer so etwas fordere, so zu Guttenberg, verunsichere Investoren und Konsumenten. "Attentismus und Missmut sind das letzte, was wir jetzt brauchen." Zwar erhofft der Minister für 2010 wieder mit einem leichten Wachstum. Aber das ist "Pfeifen im Walde", keine Prognose.

Krisenschwerpunkt Industrie

Das Desaster im Bankenbereich, das Hedgefonds, Investmentbanken und andere Akteure aus der Finanzbranche 2007 und 2008 angerichtet haben, hat seit Ende 2008 weltweit auch das produzierende Gewerbe erreicht. Weltweit gingen spätestens nach der Pleite der US-Bank Lehman Brothers im vergangenen Oktober in zahlreichen Konzernen alle Signale auf "Rot". Investitionen und alle irgendwie aufschiebbaren Ausgaben wurden überprüft, verschoben, gestoppt oder so weit herunter gefahren wie irgend vertretbar. Für die Bundesrepublik erwartet die Bundesregierung nun für 2009 einen Rückgang der Ausrüstungsinvestitionen um 17,0 %.

Was für jedes einzelne Unternehmen betriebswirtschaftlich und zur Vermeidung von Finanzierungsengpässen infolge der Bankenkrise sinnvoll sein mochte, entwickelte sich zu einer regelrechten Lawine von Auftragsstornierungen, insbesondere im Bereich Maschinenbau, die inzwischen zusätzlich zu den aus dem Finanzbereich herübergeschwappten Verlusten und den Einbrüchen im Immobilienbau allen produzierenden Unternehmen enorm zu schaffen macht.

Zahlreiche Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe, vor allem im Maschinenbau, haben ihre Planzahlen für 2009 seit Herbst letzten Jahres Monat für Monat immer weiter nach unten revidiert. Nicht wenige Unternehmen sind inzwischen bei der Hälfte der Produktionsmengen angekommen, die sie noch im August/September 2008 für 2009 hatten realisieren wollen. Hinzu kommt im Bereich der Automobilindustrie eine schwere strukturelle, technologische (weg vom Diesel- und Benzinmotor) und Überproduktionskrise. Mitte April veröffentlichte die IG Metall die neueste Übersicht über ihre Branche. Danach gingen bereits im vierten Quartal 2008 die Bestellungen in der Metall- und Elektroindustrie um ein Viertel zurück. In den ersten zwei Monaten 2009 brachen die Aufträge - verglichen mit dem jeweiligen Vorjahresmonat - sogar um 40 Prozent ein. Dabei schrumpften die Inlandsaufträge um 33 %, aus dem Ausland um 45 %.

Das Ergebnis nach Branchen sieht für Februar 2009 so aus:
Aufträge Stahl- und Metallerzeugung:
Aufträge Luft-, Wasser- und Schienenfahrzeuge:
Aufträge Maschinenbau:
gesamte M+E-Industrie:
Automobilindustrie:
-52,1 %
-48,6 %
-48,5 %
-39,5 %
-38,2 %

Zeitversetzt sank auch die industrielle Produktion. Bereits im vierten Quartal 2008 war die Fertigung in der Metallund Elektroindustrie um 7 % gefallen. Im Januar 2009 lag sie um 23 %, im Februar um 26 % niedriger als im Vorjahr. Knapp die Hälfte aller Betriebe in der Branche rechnet damit, dass diese Produktionseinbrüche mindestens bis Sommer anhalten. (IG Metall, Wirtschaft aktuell 7/2009, 16. April 2009)

Erste Folgen auf dem Arbeitsmarkt

Sichtbar ist die schwere Krise inzwischen auch an den Zahlen auf dem Arbeitsmarkt. Am 30. April 2009 waren nach Angaben der Agentur für Arbeit 3,585 Millionen Menschen offiziell arbeitslos. Das waren 171.000 mehr als im gleichen Monat des Vorjahres. Noch dramatischer ist die Entwicklung im Bereich Kurzarbeit. 24.000 Betriebe hatten im März Kurzarbeit angemeldet. Die Zahl der von Kurzarbeit betroffenen Beschäftigten lag bei 670.000. Gegenüber Oktober 2008 hatte sich die Zahl der Kurzarbeiter damit in fünf Monaten auf das Zwölffache erhöht. Die Zahlen für April werden Anfang Mai vorgelegt.

Auch der Bereich der absoluten Armut - Hartz IV - wächst wieder. Zeitgleich mit der Agentur für Arbeit veröffentlichte der Deutsche Landkreistag am 30. April seine Zahlen für Langzeitarbeitslose und ihre Familien. Danach lebten bundesweit 6,8 Millionen Menschen von Hartz IV, 1,5 % mehr als noch Ende März.

Regional konzentriert sich diese Armut wie bisher in den großen Städten und den neuen Bundesländern. Der Anteil der Hartz-IV-Empfänger an der Gesamtbevölkerung lag in Berlin bei 16,9 %, gefolgt von Bremen mit 13,8 %, Sachsen-Anhalt 13,6 %, Mecklenburg-Vorpommern 13,5 %, Brandenburg 11,7 %, Sachsen 11,4 %, Hamburg 10,9 %. Kein Wunder, dass sowohl der Städtetag wie der Landkreistag sich darüber empören, dass die Bundesregierung bis heute keine Lösung für die JobCenter beschlossen hat. Die Zukunft der JobCenter soll deshalb ein Schwerpunkt auf der Hauptversammlung des Städtetags Mitte Mai werden.

Steuereinnahmen brechen weg

Ebenfalls Mitte Mai wird die neue Steuerschätzung für 2009 vorgelegt. Bundesregierung und Schätzerkreis gehen davon aus, dass das Defizit der öffentlichen Haushalte auf weit über 100 Milliarden Euro steigen wird. Nicht nur die Gewerbesteuereinnahmen der Kommunen, auch das Aufkommen aus der Lohn- und Einkommenssteuer dürfte deutlich niedriger ausfallen als erwartet. Allein die Kurzarbeit bedeutet für die Betroffenen erhebliche Lohnverluste - und damit für die öffentliche Hand Verluste an Lohn- und Einkommenssteuer.

Ähnlich ergeht es den Sozialversicherungen: Krankenkassen, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung müssen sich auf deutlich niedrigere Einnahmen einstellen. Die Agentur für Arbeit, die zum Ende letzten Jahres noch Rücklagen von 16,7 Milliarden Euro hatte, fürchtet für Herbst bereits Zahlungsschwierigkeiten. Wer immer die kommenden Bundestagswahlen gewinnt, wird vermutlich schon im Oktober einen Kredit für die Agentur beschließen müssen.

Gewerkschaftliche Forderungen

Die Gewerkschaften mobilisieren europaweit zu großen Demonstrationen am 16. Mai. Sie wollen im Jahr der EU- und Bundestagswahlen ihre Kraft dokumentieren und versuchen, Korrekturen der derzeitigen Politik durchzusetzen. Stärkung der Binnenkaufkraft heißt in ihren Augen: Gesetzlicher Mindestlohn und damit ein Ende des Lohndumpings durch Arbeitgeber und angeblich "christliche Gewerkschaften" vor allem im Bereich Zeitarbeit; heißt Anhebung von Hartz IV auf mindestens 420 Euro, heißt Schluss mit Rentensenkungen. Kampf gegen die Krise heißt auch: Es soll Schluss damit sein, dass die Verursacher der Krise in den oberen Einkommensetagen weiter von der jahrelangen Senkung der Spitzensteuersätze profitieren, während die öffentlichen Hände mit kreditfinanzierten Krisenprogrammen gegensteuern, die am Ende wieder die kleinen Leute über ihre Steuern bezahlen. Korrektur auf diesem Feld heißt also: Rückbau der Progression im Steuersystem, Anhebung der Erbschaftssteuer, Wiedereinführung der unter Helmut Kohl abgeschafften Vermögenssteuer und Wiedereinführung der Steuer auf Börsengeschäfte.

Hoffnungen machen sich die Gewerkschaften auch beim Thema Altersteilzeit. Die Bundesregierung hat bekanntlich beschlossen, dass am 31.12.2009 die öffentliche Förderung von Altersteilzeitregelungen aufhört. Unter dem Eindruck der alarmierenden Zahlen vom Arbeitsmarkt kratzt man sich jetzt im Kabinett offenbar hinter den Ohren, ob das noch vertretbar ist, wenn die Unternehmen aus betriebswirtschaftlichen Gründen über Massenentlassungen nachdenken und deshalb womöglich unmittelbar vor der Bundestagswahl die Arbeitslosenzahlen nach oben schnellen. Also verlangen die Gewerkschaften, den gleitenden Übergang in die Rente erneut auf die Tagesordnung zu setzen und öffentlich zu fördern.

Antikrisenpolitik aus gewerkschaftlicher Sicht heißt auch: Regulierung der Finanzbranche, um eine Wiederholung des Banken-Desasters zu vermeiden, Umbau der Unternehmensverfassung, um exorbitante Managergehälter, Millionenboni, kurzfristige Orientierung auf Quartalszahlen und das Trimmen der Konzerne allein auf Steigerung des Shareholder-Values abzustellen. Wieso bis heute kein TÜV für Finanzprodukte besteht, obwohl der PKW-TÜV der Autobranche noch nie geschadet hat, ist eine der vielen Fragen, mit denen die Politik konfrontiert ist.

Finanzklemme droht

Spannend wird es in den nächsten Wochen auch beim Thema Unternehmensfinanzierung. Nicht nur bei Opel, wo weder die Unionsparteien noch die FDP erklären können, warum Opel schaden soll, was bei VW jahrzehntelang gut war. Schwierig wird es vor allem für industrielle Mittelständler. Durch jahrelange "Shareholder-Value-Politik", d.h. durch hohe Ausschüttung erzielter Gewinne, die durch Änderungen im Steuerrecht noch zusätzlich angestachelt wurde, ist ihre Eigenkapitalquote in den letzten Jahren meist ohnehin gesunken. Jetzt zehrt der enorme Einbruch der Nachfrage weiter an ihren Finanzen. Viele Unternehmen machen trotz Kurzarbeit Monat für Monat weitere Verluste. Damit ist der Zeitpunkt absehbar, wo ihnen, wenn nicht von irgendwoher Geld kommt, bald das Wasser bis zum Hals steht. Zumal in einer Situation, wo fast alle Banken ihre Kreditrahmen für die Unternehmen nicht halten oder ausweiten, sondern im Gegenteil oft von heute auf morgen und ohne Begründung zurück fahren und zugleich massiv verteuern.

Damit droht eine Zielkollision großen Ausmaßes zwischen dem Finanzgewerbe, das sich durch verbilligtes Zentralbankgeld und den Versuch der Verteuerung seiner Kredite an Wirtschaft, öffentliche und private Haushalte zu sanieren versucht, und der Industrie, die dringend Geld braucht, um die enormen Nachfrage- und Produktionsausfälle zu überbrücken. Wenn selbst ein Konzern wie Daimler inzwischen öffentlich einräumt, dass seine liquiden Mittel knapp werden, wie sieht es dann bei mittelständischen Unternehmen aus, die mit Verweis auf die unsichere wirtschaftliche Situation von den großen Banken oft gar keinen Kredit mehr kriegen, und die seit sechs, sieben oder mehr Monaten nur mit halber Kapazität fertigen, weil ihnen die Aufträge weggebrochen sind?

Die IG Metall ist stolz, mit der Abwrackprämie wenigstens teilweise den Nachfrageausfall im Automobilbereich abgefangen und so Beschäftigung vorübergehend gesichert zu haben. Sie ist ebenso stolz auf die vielen Erleichterungen, die SPD-Arbeitsminister Scholz und das Kabinett auf gewerkschaftlichen Druck hin im Bereich Kurzarbeit bereits beschlossen und umgesetzt haben. Aber inzwischen nimmt die Sorge zu, dass die Finanzierungsklemme im produzierenden Gewerbe bald alle anderen Themen überlagert und, wenn keine vernünftigen Lösungen durch öffentliche Kredite, Beteiligungen usw. gefunden werden, zu vielen Insolvenzen, Werksschließungen und Massenentlassungen führt.

Es bleibt also spannend, auch in der Politik. Schwarz-gelb hat die Bundestagswahl noch lange nicht gewonnen.

rül

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Volumenindex des Auftragseingangs im verarbeitenden Gewerbe, 2005 = 100 (Statistisches Bundesamt)
- Produktionsindex im verarbeitenden Gewerbe, 2005 = 100 (Statistisches Bundesamt)

Raute

Hundert Tage Barack Obama: Zwiespältige Aussagen zur Straflosigkeit von Folter und Misshandlung

Amnesty International zieht eine gemischte Bilanz der bisherigen Amtszeit des neuen US-Präsidenten

LONDON/BERLIN, 29.4.2009 - Kurz nach Amtsantritt hat Präsident Barack Obama eine Reihe von Versprechungen gemacht, jedoch wenig davon umgesetzt. Zu diesem Schluss kommt ein heute veröffentlichter Bericht von Amnesty International. Seit Obamas Ankündigung, das Lager Guantánamo zu schließen, kam erst ein einziger Gefangener frei. Auch die humanitäre Aufnahme von Gefangenen in Europa lässt weiter auf sich warten. Die Menschenrechtsorganisation fordert den US-Präsidenten auf, eine unabhängige Untersuchungskommission einzurichten und die Verantwortlichen für Folter und Misshandlungen zur Rechenschaft zu ziehen. Amnesty fordert die Bundesregierung auf, den Besuch des US-Justizministers Eric Holder am heutigen Mittwoch in Berlin zu nutzen, um gemeinsam auf eine schnelles Ende der illegalen Haft für Guantánamo-Häftlinge hinzuwirken. Dazu gehört es, die USA an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen zu erinnern, aber auch praktisch die Aufnahme einiger Inhaftierter anzubieten, die nicht in ihre Heimatländer entlassen werden können, weil ihnen dort Folter und Verfolgung droht.

Präsident Obama hat vier Memoranden der Vorgängerregierung zur Veröffentlichung frei gegeben, welche die CIA ermächtigten, Gefangene in geheimer Haft mit Folter und anderen Misshandlungen zu verhören. Obama hat die Folterpraxis verurteilt, aber gleichzeitig erklärt, dass niemand für Handlungen verurteilt werde, die seinerzeit den Richtlinien des Justizministeriums entsprochen hätten.

Obama hat eine Verfügung zur Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo unterzeichnet, sich aber nicht darauf festgelegt, die Gefangenen entweder vor zivilen Gerichten anzuklagen oder sie frei zu lassen. Der Präsident hat versprochen, dass die Fälle der rund 240 Häftlinge "nacheinander und so schnell wie möglich" überprüft würden, um festzustellen, ob sie verlegt oder entlassen werden könnten. Bis heute erlangte nur ein Gefangener die Freiheit und keiner wurde angeklagt. Und dies, obwohl bereits US-amerikanische Bundesrichter die sofortige Entlassung von einzelnen Gefangenen angeordnet haben.

Präsident Obama hat angeordnet, dass die CIA alle geheimen Haftanstalten schließt und keine solchen Einrichtungen mehr nutzt. Er hat jedoch die Möglichkeit offen gelassen, auch in Zukunft Personen zu entführen und im Ausland "für kurze Zeit und vorübergehend" zu inhaftieren.

Mit einer präsidialen Verfügung hat Obama die Anwendung von Folter und anderen Formen von Misshandlungen bei Verhören untersagt. Gleichzeitig hat er ohne Einschränkung die Vernehmungsmethoden aus dem Armeehandbuch (Army Field Manual) zugelassen. Darin werden Schlafentzug, Isolationshaft sowie auch die Ausnutzung von Phobien von Gefangenen nicht ausgeschlossen, was dem internationalen Verbot von Folter und Misshandlungen widerspricht.

"Amnesty International begrüßt das Verbot der Folter und die von Präsident Obama angekündigte Schließung von Guantánamo", erklärte Ferdinand Muggenthaler, USA-Experte von Amnesty International. "Aber solange die USA die illegalen Inhaftierungen nicht beenden und die Verantwortlichen der Bush-Regierung für Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen nicht zur Rechenschaft ziehen, ist das Kapitel nicht abgeschlossen."

Quelle: AMNESTY INTERNATIONAL / Pressemitteilung 29.4.2009

Raute

AUSLANDSNACHRICHTEN

1. Mai in Istanbul: Die Gewerkschaften kehren zurück auf den Taksim-Platz

Erstmals seit 28 Jahren war der 1. Mai auch in der Türkei wieder ein Feiertag. Unter der Militärdiktatur war der Feiertag abgeschafft und waren acht Jahre lang jegliche Maikundgebungen verboten worden. Nach einer Kampagne der türkischen Gewerkschaften, die von der internationalen Gewerkschaftsbewegung unterstützt wurde, hatte das Parlament am 22 . April ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Erstmals seit 32 Jahren konnten die Gewerkschaften eine 1.-Mai-Veranstaltung auf dem Taksim-Platz in Istanbul durchführen. Auf diesem zentralen Platz hatte die Konterguerilla am 1. Mai 1977 ein Massaker angerichtet , Unbekannte schossen aus den umliegenden Häusern auf die 500.000 dort Versammelten, töteten 36 Menschen, Hunderte wurden verletzt. Seither war der Platz für 1.-Mai-Kundgebungen gesperrt. Bis zu diesem Jahr behauptete die Regierung, der Platz sei wegen des Verkehrs für Kundgebungen nicht geeignet, dabei finden hier regelmäßig Kundgebungen zu nationalen Feiertagen statt. Obwohl das generelle Verbot für gewerkschaftliche Mai-Veranstaltungen nun fiel, ließen die Behörden lediglich 5000 Gewerkschaftsmitglieder auf den Platz, der rund 230.000 Menschen fasst. Viele andere versuchten, auf den Platz zu gelangen, und lieferten sich heftige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Der Vorsitzende des linken Gewerkschaftsdachverbandes DISK kritisierte die Begrenzung, sagte aber auch, es sei von großer Bedeutung, dass die Gewerkschaften überhaupt am 1. Mai auf den Taksim-Platz sein könnten.

Seit 1977 fordern die Gewerkschaften die Aufklärung des Massakers. Jahr für Jahr legen sie bis heute der Staatsanwaltschaft Filmmaterial vor und verlangen, dass endlich Ermittlungen aufgenommen werden, doch nichts geschieht. An diesem 1. Mai konnten die Gewerkschaften auf dem Platz selbst der Toten gedenken und ihre Forderung nach Aufklärung erheben. (Quellen: Wiener Zeitung, ND)


Türkei: Gewerkschaften kritisieren Streikrecht-Gesetzentwurf

In einem Interview mit dem Neuen Deutschland sprach der Generalsekretär der Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften DISK über Forderungen der Gewerkschaften. Wegen der Angleichung an EU-Recht sei die Regierung im Moment dabei, das Gesetz für die Gewerkschaften und das Streikrecht zu reformieren. Doch entspreche der nun vorgelegte Entwurf nicht den Normen der ILO. So habe nach wie vor nicht jeder Mensch das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Vor allem aber sei auch in dem neuen Gesetzentwurf das Streikrecht eingeschränkt: "In bestimmten Sektoren, z.B. Banken, Gesundheitswesen und Transport, darf gar nicht gestreikt werden. Außerdem kann das Kabinett einen Streik einfach verbieten. (...) Um Tarifverhandlungen zu führen, müssen 50 Prozent plus ein Arbeiter in der betreffenden Gewerkschaft organisiert sein. Es können sich nicht zwei Gewerkschaften zusammenschließen und gemeinsam verhandeln."

Ein großes Problem ist gegenwärtig die Arbeitslosenrate von offiziell 15,5 %, tatsächlich jedoch von ca. 26 %. Nur 5 % der Arbeitslosen profitieren von der Arbeitslosenversicherung: "Viele sind illegal beschäftigt. Das ist zwar gegen das Gesetz, wird aber geduldet . Wer legal beschäftigt ist, muss drei Jahre lang Prämien gezahlt haben, um ein Anrecht auf Arbeitslosenversicherung zu haben. Vor allem muss er aber in den letzten Monaten nicht nur pünktlich Prämien gezahlt haben, sondern er muss auch jeden Arbeitstag gearbeitet haben. Wer einen Tag krank war, Urlaub genommen hat oder gestreikt hat, bekommt keine Unterstützung, auch wenn er die Prämien immer gezahlt hat." Deshalb lebten viele Arbeitslose an der Hungergrenze. (Aus: ND)


1. Mai in Frankreich

Rund 300 Demonstrationen und Kundgebungen fanden am 1. Mai in Frankreich statt, jeweils weit über Zehntausend demonstrierten in Straßburg, Bordeaux oder Montpellier. In Paris beteiligten sich viele Zehntausend. Hier hatten erstmals seit Jahrzehnten alle acht großen Gewerkschaften zu einer gemeinsamen Demonstration aufgerufen. Die Mobilisierung schlug einen Bogen zu den landesweiten Aktionstagen am 29. Januar und 19. März, an denen sich jeweils zwei bis drei Millionen Menschen beteiligt hatten. Einer Umfrage der "L'Humanité" zufolge nimmt die Zustimmung zu Aktionen gegen die Abwälzung der Krisenfolgen auf die Lohnabhängigen und gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Rechtsregierung zu. Heute unterstützen 72% der Bürger solche Aktionen, im März waren es 62%. (Quelle: ND)


Island hat gewählt

Aus den Parlamentswahlen ist die Linke gestärkt hervorgegangen, wenngleich sie weniger stark ist als nach den heftigen Protesten der letzten Monate erhofft. Die seit 18 Jahren ohne Unterbrechung regierende konservative Unabhängigkeitspartei verlor 13 % und wurde mit 23,7% nur noch zweitstärkste Partei. Stärkste Partei wurden die Sozialdemokraten mit 29,8%; sie bilden eine Koalition mit den Links-Grünen, die 5,7 Prozentpunkte hinzugewannen und mit 21,7% drittstärkste Kraft wurden. Die Ziele der neuen Koalition sind klar: U.a. will sie schnellstmöglich Beitrittsverhandlungen mit der EU beginnen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Auf der 1. Mai-Demonstration in der senegalesischen Hauptstadt Dakar stand das Verbot von Kinderarbeit mit im Zentrum.

Raute

REGIONALES UND GEWERKSCHAFTLICHES

AKTIONEN ... INITIATIVEN


Gesetzentwürfe zur direkten Demokratie abgelehnt

BERLIN. Der Bundestag hat am 23.4.2009 die Gesetzentwürfe der Grünen, der Linken und der FDP zur Einführung bundesweiter Volksentscheide mehrheitlich abgelehnt. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD stimmten gegen alle drei Entwürfe. "Das ist eine bittere Entscheidung und ein Schlag ins Gesicht der Bürger, die sich dringend mehr Mitsprache gerade auf Bundesebene wünschen", kommentiert Gerald Häfner, Vorstandssprecher des Vereins Mehr Demokratie. 60 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes bleibe dessen Versprechen, wonach die Staatsgewalt "vom Volke in Wahlen und Abstimmungen" ausgeübt werde, noch immer uneingelöst. Dabei ist die Mehrheit für direkte Demokratie auch im Bundestag viel größer, als das Abstimmungsergebnis zum Ausdruck bringt. So hat bei der SPD, die bundesweite Volksentscheide erst kürzlich in den Entwurf ihres neuen Wahlprogramms aufgenommen hatte, offenbar die Koalitionsräson über die Überzeugung gesiegt. "Wenn man bedenkt, dass selbst die CSU neuerdings für Volksentscheide in Europafragen ist, ist das Scheitern aller Entwürfe höchst bedauerlich", sagt Häfner. "Es wäre sehr viel mehr drin gewesen, wenn sich die Befürworter bundesweiter Volksentscheide jenseits aller Parteitaktik zusammengetan hätten." Mehr Demokratie startet am 5. Mai 2009 die Kampagne "Volksentscheid ins Grundgesetz", bei der es darum geht, Skeptiker zu überzeugen und eine Verankerung des Themas bei den Kandidatinnen und -kandidaten sowie im nächsten Koalitionsvertrag zu erreichen. Mit weiteren Aktionen soll erreicht werden, dass der bundesweite Volksentscheid vor der Bundestagswahl in der Bevölkerung zum Thema wird.
http://demokratie.mine.nu


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McPlanet.com-Kongress fordert sozial-ökologischen Neustart

BERLIN. Rund 1.700 Menschen aus globalisierungskritischer Bewegung, Umweltverbänden, Politik und Kirche waren der Einladung zum dreitägigen Kongress vom 24.-26. April 2009 gefolgt, der von Attac, BUND, EED, Greenpeace und der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit dem Wuppertal Institut ausgerichtet worden ist. In über 130 Plenen, Workshops und weiteren Veranstaltungen sammelten sie Expertisen, Ideen und Motivation, um sich aktiv ins politische Geschehen einzumischen. Schon jetzt ist einiges geplant: So kündigten die Veranstalter für die nächsten Monate unter anderem eine Demo am 5. September in Berlin gegen Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken sowie Aktionen am 12. Dezember beim Weltklimagipfel in Kopenhagen an. In der Abschlusserklärung der Veranstalter heißt es: "Die Folgen der gegenwärtigen Krisen treffen diejenigen am härtesten, die nichts zur Verursachung beigetragen haben. Immer mehr Menschen sind Klimachaos, Wirtschaftskrise und Naturzerstörung ausgeliefert, aber ihre Rechte haben auf der internationalen Bühne kein Gewicht." Notwendig ist ein breiter gesellschaftlicher Aufbruch, der für Veränderungen die richtigen Weichen stellt. Es ist höchste Zeit, dass soziale Rechte global durchgesetzt werden, um den Grundstein für eine faire Weltwirtschaft zu legen. Der Kongress hat sich erneut als wichtiger Baustein erwiesen, um sich innerhalb der Bewegungen über gemeinsame Positionen und Aktionen zu verständigen.
www.attac.de


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Auftaktaktion der Kampagne "ich wähle atomwaffenfrei"

BERLIN. Eine Berliner Putztruppe fegt die Atombomben in Deutschland symbolisch in die Tonne. Von der Uni bis zum Brandenburger Tor kehrten am 30.4.2009 in weiße Overalls gekleidete Atomwaffen-Gegner mit Besen eine selbst gebastelte Atombombe über die Straße "Unter den Linden". Sie halten immer wieder an und machen für einige Minuten ein "Standbild", eingefroren wie Statuen, während andere AktivistInnen Materialien verteilen. Unter dem Motto "Vor der eigenen Türe kehren" wollen die Vertreter mehrerer Berliner Friedensorganisationen zeigen, dass in Deutschland eigenes Handeln auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt gefragt ist. "Unsere Regierung sollte nicht einfach die Hände in den Schoß legen und warten, bis die USA und Russland die Abrüstung vereinbaren. Deutschland hat eine moralische Verpflichtung, sich an dem Abrüstungsprozess zu beteiligen, in dem es auf die atomare Abschreckung verzichtet", sagt Xanthe Hall, Sprecherin der Kampagne "unsere zukunft - atomwaffenfrei". Die Besenaktion bildet den Auftakt einer neuen Phase der Kampagne für ein atomwaffenfreies Deutschland. Das "nukleare Saubermachen" wird von der Ärzteorganisation IPPNW, dem Verein "Welt ohne Kriege", der Humanistischen Bewegung, der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, dem Deutschen Friedensrat, dem Deutsch-Japanischen Friedensforum, der Sichelschmiede, der Friedensinitiative Kyritz-Rüppiner Heide und Gruppen der Friedenskoordination Berlin unterstützt.
www.ippnw.de


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Landesregierung muss 32.000 Euro für Berufsverbot zahlen

NÜRNBERG. Die 500 Teilnehmer/innen des Gewerkschaftstags der Bildungsgewerkschaft GEW nennen das heutige Urteil (28.4.09) des Landgerichts Karlsruhe eine "schallende Ohrfeige für die Landesregierung Baden-Württemberg". Der Realschullehrer Michael Csaszkóczy soll für sein vierjähriges Berufsverbot und den damit verbundenen Verdienstausfall eine Entschädigung von 32.000 Euro erhalten. "Es ist peinlich für die CDU/FDP-Landesregierung, dass ein Gericht entscheiden muss, dass sie anders denkende Lehrerinnen und Lehrer aushalten muss. Für Schulen in einer Demokratie ist das eine Selbstverständlichkeit. Das Urteil ist Politikunterricht für Ministerpräsident Günther Oettinger und Kultusminister Helmut Rau", sagten Ulrich Thöne, Bundesvorsitzender und Doro Moritz, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Nürnberg.

Anfang 2004 wurde unter der heutigen Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) dem Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkóczy aus politischen Gründen die Einstellung in den Schuldienst des Landes Baden-Württemberg verweigert. Als Grund wurde sein Engagement in einer antifaschistischen Initiative genannt ... Das oberste Verwaltungsgericht in Baden-Württemberg hat am 14. März 2007 entschieden, dass Csaszkóczy zu Unrecht die Einstellung verweigert wurde. Seit Herbst 2007 darf Csaszkóczy wieder an einer Realschule in Baden-Württemberg unterrichten.
www.gegen-berufsverbote.de


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"Gericht fehlt Mut, geltendes Recht zu bestätigen"

LEIPZIG. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat am 29.4.2009 in letzter Instanz eine Klage der Studierendenschaft der Universität Paderborn zur Abschaffung der Studiengebühren abgewiesen. Die Studierenden hatten sich in ihrer Klage unter anderem auf den Gleichheitssatz des Grundgesetzes und auf den UN-Sozialpakt berufen. In der Begründung des Gerichtsbeschluss verwiesen die Richter darauf, dass der Grad der sozialen Benachteiligung noch nicht ausreicht, um einen Rechtsbruch festzuhalten.

Zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts erklärt Klaus Denzinger, Sprecher der bayerischen Studierendenvertretungen: "Obwohl das Bundesverwaltungsgericht Revision gegen die erstinstanzlichen Urteile in NRW zugelassen hat, fehlte dem Gericht der Mut, geltendes Recht zu bestätigen. Studiengebühren, egal welcher Form, stellen eine nicht zu tolerierende Bildungshürde für junge Menschen dar. Das wird auch in allen Studien der Deutschen Studentenwerke immer wieder klar zum Ausdruck gebracht. Deutschland hat, meiner Meinung nach, einen Rückschritt ins frühe 19. Jahrhundert gemacht, selbst in der sogenannten Paulskirchenverfassung steht in § 157 bereits folgender Passus 'Unbemittelten soll auf allen öffentlichen Unterrichtsanstalten freier Unterricht gewahrt werden' geschrieben. Jetzt sind die Landesparlamente gefragt, Ihre Fehlentscheidungen zu korrigieren."
http://studiengebuehrenbayern.de


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Demonstrationen gegen Studiengebühren am 13. Mai

MÜNCHEN. Der 13. Mai 2009 wird in Bayern ein Tag der Demonstrationen. Unter dem Motto "Gemeinsam gegen Gebühren" wollen Studierende, Schüler und Eltern in mehr als zehn bayerischen Städten gegen Studiengebühren auf die Straße gehen. Zu den Protesten erklärt Ilona Schwiermann, Sprecherin der bayerischen Studierendenvertretungen (LAK): "Nur noch fünf von 16 deutschen Bundesländern verlangen von Ihren Bürgern Eintrittsgeld fürs Studium. Nach zuletzt Hessen hat sich auch Österreich für die Abschaffung der Studiengebühren entschieden. Selbst die CDU in Sachsen und Thüringen spricht sich inzwischen gegen die Gebühren aus ..." Allein an der letzten Demonstration im Dezember nahmen über 10.000 Bürger in ganz Bayern teil. Das Bündnis SoS-Studieren ohne Studiengebühren ist ein Zusammenschluss von Studierenden, Schülern und Eltern in ganz Bayern. Eine bayernweite Petition gegen Studiengebühren www.studiengebuehrenbayern.de zählt bereits über 29.000 Unterschriften.
http://studiengebuehrenbayern.de


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Das Gedenken ist stärker als alle Verbote

MÜNCHEN. Trotz anhaltender Versuche, den "Zug der Erinnerung" von der Münchener Öffentlichkeit abzuschirmen, fanden Tausende den Weg zu Gleis 35 des Hauptbahnhofs. Dort hatte die Bahn AG am 27.4.2009 mehrfach in das Ausstellungsgeschehen eingegriffen. Die Unternehmensbeauftragten warteten bis zum Ende der Eröffnung durch OB Christian Ude und nutzten die anschließende Abwesenheit der Medien, um sämtliche Hinweisschilder mit den Fotos der Opfer zu beschlagnahmen. Vor den Ausstellungswagen ließen sie bewaffnete Sicherheitskräfte aufmarschieren und warfen in das Getriebe der Dampflok korngroße Bindemittel (Medienberichte). Um die Beschädigungen und Drohkulissen zu rechtfertigen, schützte die Bahn AG vor, sie müsse "Brandschutz", "Katastrophenschutz" und "Schutz vor Rechtsradikalen" leisten - ohne jeglichen Anlass ... Wegen der Übergriffe auf das Gedenken an die Ermordeten richtete der Vorstand der Bürgerinitiative, die den Zug seit zwei Jahren durch Deutschland fahren lässt, an die Deutsche Bahn AG am 29.4. ein Protestschreiben. Adressat ist das Vorstandsmitglied Dr. Otto Wiesheu, der bei der DB AG den Bereich "Wirtschaft und Politik" leitet. Wiesheu hatte dem "Zug der Erinnerung" in den vergangenen Jahren mehrfach mitgeteilt, dass er zu keinerlei Gespräch bereit sei. Die von der Bahn AG bisher eingezogenen 140.000 Euro ("Trassenund Stationsgebühren" für das Gedenken) werde die DB AG auf keinen Fall zurückspenden.
www.zug-der-erinnerung.eu


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KRÜMMEL/MÜNSTER/NECKARWESTHEIM. An die 3.000 Menschen haben am Wochenende bundesweit gegen die weitere Nutzung der Atomenergie demonstriert. "Der lang versprochene Ausstieg aus der Atomkraft muss endlich umgesetzt werden", forderte Jochen Stay von der bundesweiten Anti-Atom-Initiative Ausgestrahlt. "Wenn Parteien und Stromkonzerne weiter auf Atomstrom setzen, wird dies zu weiteren Protesten führen." Für den 5. September, kurz vor den Bundestagswahlen, kündigte Stay eine bundesweite Großdemonstration in Berlin an.
www.ausgestrahlt.de


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1. Mai in Dortmund: Polizei verhindert Protestdemonstration gegen Nazigewalt

DORTMUND. Am Freitagabend versammelten sich an den Freitreppen vor dem Hauptbahnhof etwa 300 Menschen um gegen die rechtsextremen Übergriffe und das Verhalten der Polizei zu protestieren. Am Morgen hatten etwa 300 Neonazis die DGB-Demonstration zum 1. Mai mit Steinen angegriffen. Bereits um 9 Uhr sammelten sich Neonazis aus dem Spektrum des "Nationalen Widerstand Dortmund" am Hauptbahnhof.

Im Laufe der nächsten Stunde kamen auch mehrere Busse mit Neonazis aus anderen Städten an. Laut Augenzeugen verhinderte die Polizei die Abreise der Neonazis zu einer Demonstration nach Siegen, worauf die Rechten durch die Stadt zogen und eine Spur der Verwüstung hinterließen.

Am Platz der Alten Synagoge eskalierte die Situation endgültig. Die vermummten Neonazis griffen Teilnehmer der Demonstration des DGB mit Steinen und Knüppeln an, mehrere Demonstrationsteilnehmer werden verletzt. Die Polizei ging nicht nur gegen die Rechten vor, sondern auch gegen Teilnehmer der DGB-Demonstration, die sich gegen die Nazis zur Wehr setzten. Kurze Zeit später wurden die Neonazis in der Innenstadt eingekesselt.

Als Reaktion auf die Übergriffe trafen sich am Abend etwa 300 Menschen am Hauptbahnhof. Die spontan angemeldete Demonstration wurde von der Polizei verboten. Die Polizei sah sich laut Einsatzleiter trotz mehrerer Polizeihundertschaften vor Ort nicht in der Lage, eine Demonstration vor Neonazis zu schützen.
Antifaschistischer Impuls Dortmund http://aid.blogsport.de

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Seit Jahren gibt es Kritik an der passiven Haltung der Dortmunder Polizei gegenüber den Neonazis

Raute

Barrierefreier Zugang zum öffentlichen Nahverkehr!

HAMBURG. In Sachen barrierefreier Zugang zum öffentlichen Nahverkehr muss sich endlich etwas tun! Während etwa die Stadt München dank eines in den 1980er Jahren in Gang gesetzten Nachrüstungsprogramms inzwischen alle 89 Bahnhöfe barrierefrei ausgestaltet hat (obwohl nicht immer nach den jüngsten Normen), ist in Hamburg für Senior/innen und Gehbehinderte sowie Menschen mit Kinderwagen der Zugang zum öffentlichen Nahverkehr an zahlreichen Bahnhöfen erschwert oder gar unmöglich. Betroffen sind auch viel frequentierte Bahnhöfe wie Hasselbrook oder U-Feldstraße oder Verkehrsknotenpunkte wie Berliner Tor. Für Rollstuhlfahrer sind diese Bahnhöfe unerreichbar. Geht es nach der 2003 ausgearbeiteten und 2007 ergänzten Prioritätenliste, dann wird es noch Jahrzehnte dauern, bis die meisten Bahnhöfe mit Lift oder Rampen ausgestattet sind. Bisher wurden gerade 20 S-Bahn-Haltestellen ausgebaut, neun weitere sollen bis 2011 ausgebaut werden. Bei der U-Bahn sieht es nicht viel besser aus: 30 U-Bahnhöfe sind barrierefrei, sechs weitere sollen bis 2011 ausgebaut werden, für weitere acht auf der Prioritätenliste gibt es noch keine konkreten Planungen.

Die Kritik wird lauter, verschiedentlich haben sich Bürger- und Anwohnerinitiativen gebildet, führen Aktionen wie öffentlichen Proteste, Sitzblockade oder Unterschriftensammlungen durch. Aufgrund dessen meldete die LINKE das Thema für die Aktuelle Stunde in der Bürgerschaftssitzung am 21. April an (Bild: Rollstuhlfahrer/innen verfolgen die Debatte). Sie kritisierte die Schwerpunkte im Landeshaushalt, der gigantische Summen für Großprojekte wie die Elbphilharmonie bereitstellt. Geht es aber darum, die vielen Lästigkeiten und Behinderungen für die Bürgerinnen und Bürger abzustellen, argumentieren die Senatsparteien, es sei kein Geld da.

Doch auch der Senat wird weiter umdenken müssen. Am 26. März 2009 nämlich ist die UN-Behindertenrechtskonvention in der BR Deutschland in Kraft getreten, die die Vertragsstaaten verpflichtet, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und dazu auch alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um den "Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten". (Artikel 9) Gegenwärtig führt die UNO eine Kampagne durch, um auf allen politischen Ebenen die Umsetzung der Konvention anzuschieben. Hier finden Kommunal-, Landes- und Bundespolitik viele Anhaltspunkte und Initiativen starken Rückhalt.

Im Folgenden ein Einblick in die Aktivitäten von zwei Hamburger Initiativen. (Red.)


"Ein Lift für Ochsenzoll"

Am 15. April wandte sich die Initiative "Ein Lift für Ochsenzoll" mit folgendem Brief an die sozial- und behindertenpolitischen sowie verkehrspolitischen Sprecher/innen der Bürgerschaftsfraktionen:

Sehr geehrte Damen und Herren, wie Sie sicher aus den Medien erfahren haben, bemüht sich seit dem Sommer 2008 eine Bürger- und Anwohnerinitiative um die Errichtung eines Fahrstuhls für den U-Bahnhof Ochsenzoll in Langenhorn (Linie U1). Zuletzt führten wir am 9. April 2009 am Bahnhof Ochsenzoll eine Sitzdemo durch. Am 16. April werden wir in der Bezirksversammlung Nord abermals auf unser Anliegen aufmerksam machen.

Weitere Aktionen sind geplant. (...)

Trotz der von uns ins Leben gerufenen Initiativen und Aktionen (Unterschriftensammlung, zwei Demonstrationen am Bahnhof im Februar 2009 und im April 2009, Besuch bei Ole von Beust, Anfragen im Regionalausschuss, Lokaltermin mit Fernsehsender noa4) hat sich in der Hauptsache bislang nichts bewegt. Im Gegenteil: Wir mussten erfahren, dass der in der Bürgerschaft eingebrachte Vorschlag, 20 Millionen Euro für den forcierten Liftbau am 5. März mehrheitlich abgelehnt worden ist.

Alle bisher von uns versandten Anfragen an die Hochbahn und an die Behörden erbrachten lediglich die Verweise auf die sogenannte "Prioritätenliste" oder eine Delegierung an andere Behörden, Verbände (LAG) und an die Lokalpolitik. Einen konstruktiven Lösungsvorschlag hat es bisher nicht gegeben. Wir sind der Meinung, dass der Wert der Prioritätenliste mit der Höhe des städtischen Jahresetats für den Bau von Liftanlagen an Hamburger U- und S-Bahnhöfen einhergeht. Bei dem geringen Etat, der zurzeit zur Verfügung steht, stellt die Liste aus unserer Sicht ein Dokument dar, das den Blick auf das Wesentliche verstellt. Engagierte Anwohner(innen), Senior(inn)en und Behinderte ringen mit ihrer Hilfe um die Reihenfolge der geplanten Liftbaumaßnahmen oder geraten gar in einen Wettstreit miteinander, welcher künftige Liftbaustandort vorrangig realisiert werden soll. All das lenkt von der Notwendigkeit eines drastisch erhöhten Jahresbudgets für den Bau von Liftanlagen und für die barrierefreie Anpassung der Bahnhöfe ab. Stellte diese Prioritätenliste einst eine Errungenschaft dar, lehnen wir sie heute gänzlich ab, solange sie nicht an einen erhöhten Etat gekoppelt ist.

Wir sind Menschen, die als Behinderte und Senioren im Bereich des Bahnhofs Ochsenzoll leben. Wir benötigen den Lift hier und jetzt. Wir fordern deshalb eine Etaterhöhung für den Bau von Fahrstuhleinrichtungen an Hamburger S- und U-Bahnhöfen.

Wann wenn nicht jetzt in Zeiten der Konjunkturpakete?

Hamburg den 15. April 2009, Für die Bürger- und Anwohnerinitiative "Ein Lift für Ochsenzoll" (folgen Namen) www.Mit-Nachdruck.de


Bürgerinitiative Barrierefreier Bahnhof Wilhelmsburg

"Mal kurz nach Harburg oder in die Innenstadt zum Arzt fahren, ins Kino gehen, Freunde besuchen oder einfach nur shoppen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, so meint man. Doch für viele von uns Wilhelmsburgern war das im letzten Jahr nicht möglich. Wer gehbehindert ist oder gar im Rollstuhl sitzt, für den war schon am Bahnhof Wilhelmsburg die Fahrt zu Ende, bevor sie richtig begann. 'Fahrstuhl kaputt!' So hieß es fast jeden Tag. Immer wieder standen wir vor kaputten Fahrstühlen am Bahnhofe Wilhelmsburg und mussten unverrichteter Dinge wieder umdrehen. Denn einen alternativen barrierefreien Zugang zur S-Bahn gibt es auf der ganzen Insel Wilhelmsburg und auf der Veddel nicht."

So schreibt die Bürgerinitiative in einer Pressemitteilung. Die Initiative fand sich im September 2008 spontan zusammen, bastelte ein Schild, entwarf Unterschriftenlisten und stellte sich dann auf den Bahnhof, um den Protest zu organisieren. Bis Januar sammelte sie 3.500 Unterschriften, erhielt großen Zuspruch, lokale Blätter berichteten, auch wurden die Fahrstühle auf einmal besser und öfter gewartet und kontrolliert. Doch immer wieder stehen sie tagelang still, z.B. weil es keine Ersatzteile mehr gibt und die Reparaturen entsprechend lange dauern.

Deshalb fordert die Initiative: Erstens die Fortsetzung der intensiven Wartung und Kontrolle am S-Bahnhof Wilhelmsburg bis zum Beginn des Neubaus. Zweitens den sofortigen Baubeginn des Fahrstuhls am Bahnhof Veddel. Drittens die Planung eines Neubaus des Bahnhofs Wilhelmsburg, um einen zweiten barrierefreien Zugang zum Bahnsteig in Gestalt einer Rampe zu schaffen. (Nach einer PE der Bürgerinitiative)

Aus: Lokalberichte Hamburg 11/09


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Wilhelmsburg hat rund 60.000 Einwohner. Darunter sind sehr viele Rollstuhlfahrer, Gehbehinderte, Eltern mit Kinderwagen, Reisende mit Gepäck, alte und kranke Menschen. Sie alle kommen nur unter großen Schwierigkeiten oder überhaupt nicht weiter, wenn schon einer der beiden Fahrstühle am Bahnhof Wilhelmsburg streikt. Rechts: Besuch im Rathaus.

Raute

Volksentscheid "Pro Reli" gescheitert

BERLIN. Mit einer klaren Niederlage endete am letzten April-Wochenende in Berlin die Kampagne der katholischen Kirche, der evangelischen Kirche, von CDU und FDP zur Änderung des Berliner Schulgesetzes. Ziel war, Religionsunterricht an den Berliner Schulen nicht mehr als freiwilliges Angebot zu führen, sondern als "Wahlpflichtfach". Dafür stimmten am Ende einer monatelangen Kampagne weniger als 15 % der Berliner Wahlberechtigten. In Zahlen: 29,2 % aller Wahlberechtigten beteiligten sich an dem Volksentscheid. Davon stimmten 14,16 %, also weniger als die Hälfte, mit "Ja". 14,98 %, also etwas mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen, lauteten auf "Nein". 0,2 % der Stimmen waren ungültig. 25 % "Ja-Stimmen" wären nötig gewesen für einen Erfolg von "Pro Reli".

"Religion ist freiwillig"

Diese Parole der Linkspartei auf ihren Plakaten gegen den Volksentscheid bringt das Ergebnis der Abstimmung vermutlich am besten auf den Punkt. Religionsunterricht ist in Berlin nämlich schon seit 1948 von der ersten bis zur letzten Klasse freiwillig.

Während das Grundgesetz in Artikel 7 seit 1949 vorschreibt: "Der Religionsunterricht ist an den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach", hatten Berlin und Bremen zum damaligen Zeitpunkt bereits eine andere Regelung. Bremen hatte sich für konfessionslosen Unterricht entschieden, in Berlin war entschieden, Religionsunterricht auf freiwilliger Grundlage zu organisieren. Infolgedessen nahmen die "Väter des Grundgesetzes" zusätzlich einen Artikel 141 an, der da lautet: "Artikel 7 Absatz 3 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand."

Seit 1990 galt diese Berliner Regelung auch in Ostberlin. Bis zum 14. Lebensjahr entscheiden deshalb in Berlin die Eltern, ob ihr Kind am Religionsunterricht teilnimmt. Danach gelten Jugendliche als "religionsmündig" und dürfen selbst entscheiden.

Das Ausmaß der Teilnahme am freiwilligen Religionsunterricht sinkt mit steigendem Alter. Laut Statistischem Landesamt nahmen 2008 landesweit 29,2% aller Schüler am freiwilligen Religionsunterricht teil. In der 7. bis 10. Klasse betrug dabei der Anteil der Teilnehmer/innen am freiwilligen Religionsunterricht 19,6% der Altersstufen. Die Kosten dieses freiwilligen Religionsunterrichts - knapp 50 Mio. Euro im Jahr - trägt das Land.

Traditionell sind bei diesem Thema in Berlin immer noch die Unterschiede zwischen West und Ost. So nahmen im Westberliner Bezirk Spandau 2008 immerhin 50 % aller Schüler am freiwilligen Religionsunterricht teil, in gutbürgerlichen Charlottenburg-Wilmersdorf ebenfalls 50 %, im reichen Südwesten, in Steglitz Zehlendorf, 49 %. In den Ost-Bezirken wie Marzahn-Hellersdorf (10 %), Lichtenberg (15 %), Treptow-Köpenick (19 %) und Pankow (27 %) ist dagegen die Teilnahme am freiwilligen Religionsunterricht bis heute marginal.

Ethik-Unterricht

2006 hatte das Abgeordnetenhaus unter dem Eindruck der Ermordung einer jungen Frau mit türkischem Migrationshintergrund eine Änderung des Schulgesetzes beschlossen, mit der von der 7. bis zur 10. Klasse an allen öffentlichen Schulen ein verpflichtendes Schulfach "Ethik" eingeführt wurde. Ziel soll laut Gesetz sein, die Fähigkeit aller Schülerinnen und Schüler zu erhöhen, sich "gemeinsam mit grundlegenden kulturellen und ethischen Problemen des individuellen Lebens, des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie mit unterschiedlichen Wert- und Sinnangeboten konstruktiv auseinander zu setzen" und so "soziale Kompetenz, interkulturelle Dialogfähigkeit und ethische Urteilsfähigkeit (zu) erwerben". Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Regelung Anfang 2007 ausdrücklich gebilligt. Der Gesetzgeber habe das Recht, durch solchen Ethik-Unterricht "der Entstehung von religiös und weltanschaulich motivierten 'Parallelgesellschaften' entgegenzuwirken." (1 BvR 2780/06 vom 15.3.2007)

"Pro Reli"

Betreiber von "Pro Reli", wie sich die Befürworter des Volksentscheids nannten, waren, wie schon gesagt, die evangelische und die katholische Kirche und im parteipolitischen Feld CDU und FDP. Als Verstärkung hatte man noch die jüdische Gemeinde gewonnen, die sich aber in der öffentlichen Auseinandersetzung stark zurück hielt, sowie im muslimischen Lager die vom türkischen Staat finanzierte "DITIB", die ebenfalls kaum in Erscheinung trat.

Ziel der Betreiber des Volksentscheids war, die Ziele des Ethikunterrichts stehen zu lassen, aber gleichzeitig den Religionsunterricht erstmals seit 1948 wieder in den Rang eines ordentlichen Lehrfachs zu heben. Dazu sollte § 13 des Schulgesetzes, in dem bisher der freiwillige Religionsunterricht geregelt ist, geändert werden in einen Abschnitt "Religions- und Ethikunterricht" mit den zwei entscheidenden Sätzen: "Religions- und Ethikunterricht sind an allen öffentlichen Schulen ordentliche Lehrfächer. Alle Schülerinnen und Schüler der allgemeinbildenden Schulen nehmen entweder am Religionsoder am Ethikunterricht teil." Hätte der Volksentscheid Erfolg gehabt, wäre das unmittelbar geltendes Recht geworden.

Dass damit das jahrzehntelang in Berlin geltende Recht auf ersatzlose Abwahl des Religionsunterrichts in den ersten 6 Schuljahren aufgehoben werden sollte, verschwiegen die Initiatoren von "Pro Reli" wohlweislich, handelten sich dafür aber selbst aus eigenen Reihen den öffentlichen Vorwurf ein, gegen die zehn Gebote zu verstoßen, speziell gegen den Grundsatz "kein falsches Zeugnis". Trotzdem war auf allen Plakaten der Initiatoren, die Berlin-weit wie zu Wahlkampfzeiten aushingen, zu lesen, bei der Abstimmung gehe es um "freie Wahl", um "Freiheit" grundsätzlich. Dass die Freiheit der Abwahl gestrichen werden sollte, wurde vertuscht. Zahlreiche Prominente, darunter der in Potsdam lebende Moderator Jauch, Spieler von Hertha und andere warben für die Kampagne, die Springerpresse half nach Kräften. Am Ende reichte es nicht mal zur Hälfte der Stimmen, die CDU und FDP derzeit in Berlin zusammen erhalten würden, wenn Bundestags- oder Abgeordnetenhauswahlen wären.

"Pro Ethik"

Auf der Gegenseite mobilisierten der Senat und die ihn tragenden Parteien mit einem eigenen Bündnis für die Beibehaltung der bestehenden Regelung. Beteiligt im Bündnis "Pro Ethik" waren SPD, Grüne, Linkspartei, die Humanistische Union, Freidenker und andere humanistische Vereinigungen. Gegen Ende der Ende der Auseinandersetzung halfen auch der Türkische Bund, Verbände der Alewiten, die GEW, andere Gewerkschaften, die Landeschülervertretung und weitere Vereinigungen kräftig gegen "Pro Reli" mit. Die GEW, sonst bei Ausgaben für das Schulwesen nicht zimperlich, hatte gemeinsam mit dem Schulsenator ausgerechnet, dass allein die Ausweitung des Religions- und Ethikunterrichts auf alle Jahrgänge jährliche Mehrkosten von etwa 4 Millionen Euro machen würde.

Spaltung statt Integration

Hauptvorwurf der Gegner von "Pro Reli" war, die Kampagne gefährde die Integrationspolitik und führe zu neuen Spaltungen. Dem wussten die Betreiber von "Pro Reli" auch nichts wirklich entgegen zu setzen.

Tatsächlich sind weniger als ein Drittel der Berliner Kirchensteuerzahler. Auch unter den Berliner Muslimen ist die Bereitschaft, sich an staatlichen Schulen einem Pflichtfach Religion zu unterziehen, offenbar gering. Das ist eine Besonderheit, die Berlin von Metropolen wie Köln, Hamburg oder München unterscheidet.

Bis in den freiwilligen Religionsunterricht lässt sich das verfolgen. Laut Statistischem Landesamt nahmen im Oktober 2008 143.000 Berliner Schülerinnen und Schüler aller Jahrgänge am "freiwilligen Religionsunterricht" teil. 73.000 davon gingen zum evangelischen Religionsunterricht, 17.300 zum katholischen. An dritter Stelle stand der "Lebenskundeunterricht" des "Humanistischen Verbands", der 43.000 Schülerinnen und Schüler erreichte, die später vermutlich auch zur "Jugendweihe" gehen statt zur Konfirmation. Dass Union und FDP kurz vor dem Volksentscheid in auffälligem Zusammenspiel mit der berüchtigten Birthler-Behörde dem Vorsitzenden des Humanistischen Verbands auf einmal seine (von ihm selbst nie bestrittene) frühere DKP-Mitgliedschaft zum Vorwurf machten - angeblich seien Hinweise auf eine frühere Mitgliedschaft in einer konspirativen "Terrorgruppe" des MfS aufgetaucht, hieß es in der Springer-Presse - gehört zu den ekligen, aber zum Glück folgenlosen Einzelheiten der Auseinandersetzung. Die auch in muslimischen Kreisen umstrittene "islamische Föderation" erteilt in Berlin für 4.600 Schüler/innen Islamunterricht an Schulen.

Fazit

Der Volksentscheid ist gescheitert, das Berliner Schulgesetz bleibt unverändert. Die Betreiber von "Pro Reli", die evangelische und katholische Amtskirche, lecken ihre Wunden und werden innerorganisatorisch unangenehme Fragen über die Verwendung von Kirchensteuermitteln für politische Zwecke beantworten müssen. Der Senat und die ihn tragenden Parteien haben gewonnen, betonen aber, dass sie selbstverständlich auch in Zukunft die Zusammenarbeit und das Gespräch mit den Kirchen suchen und pflegen werden. Berlin sei die "Hauptstadt der Volksentscheide", betonen SPD und Linke nun nach zwei gewonnenen Volksentscheiden stolz.

Ein Wermutstropfen bleibt: Wer nicht wahlberechtigt war, hatte auch bei diesem Volksentscheid nichts zu entscheiden. Polnisch-stämmige Befürworter von "Pro Reli" etwa, die keine deutsche Staatsbürgerschaft vorzeigen konnten, hatten beim "Volks"-Entscheid ebenso wenig Stimmrecht wie die vermutlich vielen muslimischen (vor allem alewitischen) Gegner von "Pro Reli". Das gesamte Volk war also auch diesmal nicht gefragt.   rül

Quellen: Info-Material von "Pro Reli" und "Pro Ethik" im Internet; Tagesspiegel, 22.2.09; Berliner Zeitung, 25./26. und 27. April 2009

Raute

KOMMUNALE POLITIK

Städte in Bedrängnis. BOCHUM. Der US-Versicherungsgigant AIG steht nach einem Verlust von 100 Mrd. Dollar allein für 2008 vor der drohenden Pleite. Bislang bewahren den Konzern nur noch Staatshilfen aus Washington vor dem endgültigen Absturz. Das kann auch für die mehr als 100 deutschen Städte, die bei AIG ihre Cross-Border-Leasing-Geschäfte abgesichert hatten, millionenschwere Haushaltslöcher reißen. Noch im Jahre 2003 frohlockte Bochums Kämmerin und heutige Oberbürgermeisterin, Ottilie Scholz (SPD), dass allein die Übertragung des Kanalnetzes der Stadt einen Bargeldvorteil von 20 Mio. Euro brächte. 25-26 Mio. Euro hat die Abwicklung des Geschäftes nach Aussagen des Kämmerers gekostet. In den nach amerikanischem Recht gehaltenen, äußerst komplizierten Verträgen scheint offenbar jedoch genau festgelegt worden zu sein, wer dafür einstehen muss, wenn die AIG-Versicherung ausfällt. Frau Scholz gehört nun mit einigen weiteren Ruhrgebiets-Oberbürgermeistern zu den ersten, die bei SPD-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück nachgefragt haben, ob nicht die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) für den maroden US-Versicherer einspringen könne. Ihr Parteifreund zeigte sich indes wenig begeistert von dem Anliegen und lehnte jede Hilfe ab. Die Förderfähigkeit der KfW dürfe nicht untergraben werden, indem sie für diese hochspekulativen und wegen der langen Laufzeiten risikotechnisch überhaupt nicht abschätzbaren Leasinggeschäfte geradestehe. Die Bochumer Linksfraktion ist gespannt, ob die Bürgerinnen und Bürger bei der Kommunalwahl zu dem gleichen Ergebnis wie die SPD kommen: Dass es richtig war, ein mittlerweile verbotenes Geschäft mit hohen Risiken abzuschließen, sich über ein erfolgreiches Bürgerbegehren hinwegzusetzen und mindestens 5 Mio. Euro Verlust zu verursachen.
www.dielinke-ratsfraktion-bochum.de; www.kommunale-info.de


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Energetische Sanierung sozialverträglich machen! MÜNCHEN. Die Linke im Stadtrat beantragt: Das Sozialreferat wird in Zusammenarbeit mit den kommunalen Wohnungsunternehmen beauftragt, ein Konzept zur sozialen Gestaltung der energetischen Sanierung zu entwickeln. Begründung: Ein großer Anteil des Münchner Mietwohnungsbestandes wird in naher Zukunft energetisch saniert werden müssen. Schon die Energieeinsparverordnung (EnEV) gibt vor, dass bei größeren Instandhaltungsmaßnahmen im Bestand (z.B. Fassadenerneuerung) die entsprechende energetische Sanierung Pflicht ist. Die kommunalen Wohnungsunternehmen besitzen viele ehemalige Sozialwohnungen aus der Bauzeit zwischen 1950 und 1980, die besonders schlecht gedämmt und daher dringend sanierungsbedürftig sind. Eine entsprechende Sanierung gilt dann aber als Modernisierung und kann mit 11% pro Jahr auf die Miete aufgeschlagen werden. Diese Mieterhöhung überschreitet in der Regel die zu erwartende Einsparung bei den Heizkosten deutlich; soweit dies der Fall ist, handelt es sich um eine reale Mieterhöhung. Seit der Stadtrat den kommunalen Wohnungsunternehmen vorgegeben hat, Gewinne zu erzielen, werden auch dort Modernisierungen im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeit auf die Mieten aufgeschlagen. (...) Eine massive Welle weiterer Mietsteigerungen ist auch für das Sozialgefüge der Stadt insgesamt problematisch. Auf dieses Problem gibt es aber bundesweit noch keine Antwort. Vor diesem Hintergrund ist es geboten, zumindest im Bereich der kommunalen Wohnungsunternehmen ein Modell zu entwickeln, das die anstehende energetische Sanierung sozialverträglich gestaltet.
http://www.dielinke-muenchen-stadtrat.de/


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Altersplanung kontra Einzelhandelskonzept. FRANKFURT. Zu dem jetzt erschienenen Bericht zur partizipativen Altersplanung sagt Sozialdezernentin Daniela Birkenfeld: Ihr sei es besonders wichtig, die wohnortnahe Versorgung der Seniorinnen und Senioren zu gewährleisten. "Das Einzelhandelskonzept der Stadt jedoch läuft dem zuwider", sagt die planungspolitische Sprecherin der LINKEN im Römer, Silke Seitz. "In dem Konzept plant die Stadt, Einzelhandelsgeschäfte in nur wenigen Zentren zu konzentrieren. Dadurch werden ganze Stadtteile von der Nahversorgung abgekoppelt. Zum Teil ist das jetzt schon geschehen." So habe beispielsweise in der Heinrich-Lübke-Siedlung der bis dahin einzige Lebensmittelmarkt vor Weihnachten geschlossen. "Die Stadt redet oft von den aktiven Alten, aber gleichzeitig schränkt sie diese in ihrer Mobilität ein", sagt der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion, Hans-Joachim Viehl. "Wenn es die alten Menschen wegen körperlichen Einschränkungen nicht mehr schaffen, in den nächsten Stadtteil zum Einkaufen zu fahren und von dort schwere Einkaufstüten nach Hause zu tragen, bleiben sie zwangsläufig zu Hause und sind auf die Hilfe von Nachbarn oder Verwandten angewiesen." DIE LINKE hatte im September 2008 gefordert, das Einzelhandels- und Zentrenkonzept der Stadt unter anderem auf die kontraproduktive Ballung der Einzelhandelszentren hin zu überarbeiten. Dieser Antrag wurde abgelehnt.
http://dielinke-im-roemer.de


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Entwicklung der Hartz IV-Empfängerzahlen im April. BERLIN. Der Deutsche Landkreistag (DLT) hat heute die Daten zur Entwicklung der Hartz IV-Empfängerzahlen für den Monat April veröffentlicht. Danach wirkt sich die schwierige konjunkturelle Lage zunehmend auf die Zahl der Hilfeempfänger im SGB II aus. Im Vergleich zum Vormonat März fällt der Zuwachs an Hilfeempfängern im System mit 1,5 % mehr als doppelt so hoch aus wie noch im letzten Monat bezogen auf Februar. Damals betrug die Steigerung der Empfängerzahlen 0,7 %.
- Im April 2009 befanden sich nach den vorläufigen Daten rd. 6,5 Mio. Menschen im Leistungssystem SGB II (Hartz IV).
- Da es sich nur um die vorläufigen Daten handelt, sind die Zahlen um ca. 281.000 zu niedrig. Die endgültige Anzahl der Leistungsempfänger
 wird somit nach den revidierten Daten bei 6,8 Mio. Menschen im Leistungssystem SGB II liegen.
- Gegenüber dem Vormonat März ergibt sich ein Zuwachs um 1,5 %.
- Gegenüber dem Vorjahresmonat April 2008 ist das ein Rückgang um 4,7%.
- Im gleichen Zeitraum von April 2008 bis April 2009 ist die Anzahl der Kinder unter 15 Jahren um 6,4 % auf 1,68 Mio. zurückgegangen.
 Gegenüber dem Vormonat März ist sie jedoch wieder um 0,8 % gestiegen.Quelle: BA Statistiken April 2008, März, April 2009
- Bedarfsgemeinschaften und deren Mitglieder (vorläufige Daten)
www.kreise.de


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Wirtschaftskrise trifft Kommunen - Rund acht Milliarden Euro Gewerbesteuer weniger. BERLIN. Die anhaltende Wirtschaftskrise wird in diesem Jahr bei den Städten und Gemeinden zu dramatischen Einnahmeverlusten führen. Allein bei der Gewerbesteuer sei mit einem Rückgang um bis zu 18 % zu rechnen, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB), Gerd Landsberg, der "Rheinpfalz am Sonntag". Das bedeute rund acht Milliarden Euro weniger für die Kassen der Kommunen. Hinzu komme, dass auch die übrigen Steuereinnahmen sowie die Zuweisungen der Länder an die Städte und Gemeinden wegen des Konjunktureinbruchs deutlich sinken würden. Zugleich stiegen jedoch aufgrund zunehmender Arbeitslosigkeit die Sozialausgaben. Die zusätzlichen Aufwendungen ließen sich nur durch neue Schulden finanzieren. Deshalb forderte Landsberg eine zügige Umsetzung des Konjunkturpakets II. So müssten die Verfahren beim Ausbau von schnellen Internetverbindungen erheblich vereinfacht werden. Den Ländern sollte künftig erlaubt sein, die Arbeiten für die Breitbanderschließung landesweit oder für mehrere Kommunen gleichzeitig ausschreiben zu können. Auch die Kooperation der Unternehmen dürfe künftig kein Tabu mehr sein. Die Tiefbauunternehmen warteten dringend auf Aufträge, denn 75 Prozent der Kosten entfielen beim Ausbau des Glasfasernetzes auf diesen Baubereich.
www.dstgb.de


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Kommunale Unternehmen stellen Thesen zur Bundestagswahl vor. BERLIN. Auf der heutigen VKU-Pressekonferenz hat der Präsident des Verbandes kommunaler Unternehmen (VKU), Hannovers Oberbürgermeister Stephan Weil, in Berlin sechs Thesen der Kommunalwirtschaft zur Bundestagswahl vorgestellt. Weil machte dabei deutlich, "dass die 1.361 kommunalen Unternehmen mit ihren 220.000 Beschäftigten ein Jobmotor auch in Krisenzeiten sind und mit einer Investitionssumme von jährlich über sechs Milliarden Euro eine wichtige wirtschaftliche Größe darstellen." Die sechs Thesen zur Wahl des 17. Deutschen Bundestages 2009 zeigen Lösungen auf, die die Fortentwicklung einer auch in der Zukunft leistungsfähigen, dem Citizen Value verpflichteten Kommunalwirtschaft durch ordnungspolitische Rahmenbedingungen flankieren. Mit den Thesen geht der VKU auf elementare Bereiche der Daseinsvorsorge, wie Strom, Gas, Wasser, Abwasser und Entsorgung, ein und erläutert die Rolle kommunaler Unternehmen bei Klimaschutz und Ökologie vor Ort. "Ohne die Stadtwerke wird die Energiewende, wie sie die Bundesregierung im Rahmen des Integrierten Energie- und Klimaprogramms formuliert hat, nicht gelingen", so Weil. Die Bedeutung kommunaler Unternehmen zeigt sich auch daran, dass sich bei allen Umfragen unter der Bevölkerung die Bürgerinnen und Bürger mit großer Mehrheit für eine kommunale Versorgung aussprechen. Für Weil ist es daher nur konsequent, dass es in den Kommunen eine klare Tendenz gibt, auslaufende Konzessionen an eigene oder fremde kommunale Unternehmen zu vergeben. Alleine in den nächsten zwei Jahren werden in der Energiewirtschaft weit über tausend solcher Verträge auslaufen.
www.vku.de

(Zusammenstellung: ulj)

Raute

Conti: Internationaler Protest gegen Werksschließungen in Hannover und Clairoix

Gleich zweisprachig skandierten die 3.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer am 23. April 2009 ihr Bekenntnis zur grenzüberschreitenden Solidarität. Conti-Beschäftigte aus ganz Deutschland, Frankreich und Mexiko - unterstützt von IG-Metall- und Verdi-Kollegen - demonstrierten vor der Conti-Hauptversammlung in Hannover für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. IG-BCE-Vorstandsmitglied Werner Bischoff kündigte an, im Aufsichtsrat einen Antrag einzubringen, dass künftig der Aufsichtsrat und nicht die Konzernleitung allein über Standortfragen bestimmen müsse. Damit sollten "Nacht- und Nebel-Aktionen" wie die angekündigten Standortschließungen in Stöcken und Frankreich verhindert werden. Vor einer eindrucksvollen Kulisse machten die Redner aus den drei Ländern unter stürmischen Beifall deutlich, dass nichts unversucht bleiben dürfe, um die Standorte zu erhalten.

"Wir werden Continental noch einmal klipp und klar ins Stammbuch schreiben, dass die Vorgehensweise des Vorstands nicht akzeptiert werden kann", betonte IG-BCE-Vorsitzender Hubertus Schmoldt in einem Interview zu den angekündigten Stellenstreichungen. "Es wird seitens der Gewerkschaft keine Zustimmung zu den Plänen geben". Der IG-BCE-Vorsitzende kritisierte die Vorgehensweise des Conti-Vorstands, der noch wenige Tage vor Bekanntgabe der Schließung der zwei Werke in einer Aufsichtsratssitzung nichts von Schwierigkeiten bei der Lkw-Reifensparte erwähnt habe. Das Angebot, den betroffenen Beschäftigten in Hannover alternative Arbeitsplätze anzubieten, bezeichnete er als "unglaubwürdig". Ähnliche Versprechen habe das Management in der Vergangenheit nicht eingelöst. Deshalb sei Misstrauen angebracht. Es gebe ein Glaubwürdigkeitsproblem mit dem Conti-Vorstand.

Mit einer gemeinsamen Erklärung und einem Aufruf zu einer Demonstration am 23. April, dem Tag der Conti-Hauptversammlung, ist am 3.4 die Tagung des Conti-Euro-Betriebsrates in Hannover zu Ende gegangen. In dem zweisprachigen Dokument verurteilt der Euro-Betriebsrat die geplanten Werksschließungen in Clairoix und Stöcken als moralisch verwerflich: "Der Verdacht, die Wirtschaftskrise zu nutzen, um ohne Not Fabrikschließungen durchzuführen, drängt sich auf." Die Arbeitnehmer hätten für feste Standortzusagen monetäre Zugeständnisse gemacht. Es gäbe nur ein Mittel, den Vertrauensbruch durch das Unternehmen zu heilen: Die sofortige Aufgabe der Schließungspläne, heißt es in der Erklärung.


Erklärung des Europäischen Betriebsrates EuroForum der Continental AG zu den geplanten Schließungen der Reifenstandorte Clairoix und Stöcken

Der europäische Betriebsrat verurteilt die geplanten Werksschließungen in Clairoix und Stöcken als moralisch verwerflich. Sie entbehren jeder wirtschaftlichen Grundlage. Bei beiden Fabriken handelt es sich um Ertragsbringer für die Rubbersparte, die auch im Jahr 2008 für hervorragende Ergebnisse gesorgt haben. Der Verdacht, die Wirtschaftskrise zu nutzen, um ohne Not Fabrikschließungen durchzuführen, drängt sich auf.

In Clairoix wie in Stöcken haben die Arbeitnehmer für feste Standortzusagen monetäre Zugeständnisse gemacht. Für die betroffenen Arbeitnehmer im Besonderen, aber auch für alle anderen Arbeitnehmer des Konzerns ist das ein abermaliger riesiger Vertrauensbruch. Es gibt nur ein Mittel, diesen Vertrauensbruch zu heilen: Die sofortige Aufgabe der Schließungspläne!"
(1)


Am 24. April, einen Tag nach der Conti-Hauptversammlung, fand eine Veranstaltung mit Vertretern der mexikanischen Gewerkschaft statt.

Die mexikanischen Gewerkschafter beurteilten die Zusammenkunft der Arbeiter aus den verschiedenen Ländern zu der Hauptversammlung als einen ersten Schritt für eine internationale Zusammenarbeit der Contibeschäftigten. Aber sie zeigten auch auf, dass dies noch viel Arbeit bedeutet, um diese Zusammenarbeit auszubauen und zu stabilisieren. Sie führten als ein Hindernis die sprachlichen Barrieren an.

Das größere Hindernis machten sie am Beispiel ihres Treffens mit Vertretern der IGBCE deutlich. Nach ihrem Eindruck wurden sie wenig freundlich empfangen und es gab wenig Signale zur Zusammenarbeit. Die Frage einer Teilnehmerin der Veranstaltung, ob diese Haltung des IGBCE auf nationalen Interessen, d. h. auf den Erhalt der deutschen Arbeitplätze abzielt, wurde bejaht. Nach Auffassung der mexikanischen Gewerkschafter ist ein internationales Kommunikationsnetz notwendig, über das sich die Gewerkschaften und Beschäftigten gegenseitig bei Verlagerungen von Maschinen, bei Lohnkürzungen, bei Angriffen von Conti gegen die Arbeiter informieren können. Da inzwischen alle Maschinen und Arbeitsmittel genormt seien, sei es inzwischen in kürzester Zeit möglich, die Fabrikation in anderen Ländern, an anderen Orten laufen zu lassen. Besonders die Verlagerung von Maschinen sei ein Warnzeichen für entsprechenden Absichten.

Diese Verständigung zu erreichen bedeute noch viel Arbeit, aber die Zusammenkunft und gemeinsame Demonstration in Hannover sei ein Schritt für gemeinsame Zusammenarbeit und Widerstand.   (bee)

Anmerkung
(1) www.igbce-blogs.de/conti/

Raute

Gewerkschaft bei Nestlé Brasilien vereitelt Angriff gegen medizinische Versorgung neuer Rentner

Durch rasches Handeln des der IUL angeschlossenen Bundes der Arbeitnehmer der Lebensmittelindustrie Sao Paulo (FETIASP) wurde ein Versuch von Nestlé Brasilien vereitelt, neue Rentner für die globalen Kostensenkungen durch Verminderung der Leistungen im Krankheitsfall zahlen zu lassen.

Gegenwärtig deckt die medizinische Versorgung aller Arbeitnehmer von Nestlé Brasilien im Ruhestand die ärztliche Betreuung und die Kosten von Arzneimitteln. Seit Ende März drängte die Nestlé-Unternehmensleitung - ohne Konsultierung der Gewerkschaft - Arbeitnehmer, die seit mehr als 25 Jahren für das Unternehmen tätig waren, in den Ruhestand zu treten oder aber auf die Zahlung von Arzneimitteln zu verzichten, wenn sie dies erst später täten. Der Gewerkschaftsvorsitzende Melquíades de Araújo, der dies als "Erpressung" bezeichnete, erläuterte das Vorgehen der Gewerkschaft wie folgt: "Die Gewerkschaft reagierte, indem sie alle Nestlé-Arbeitnehmer im ganzen Land aufforderte, kein Dokument zu unterzeichnen, mit dem sie sich zum Eintritt in den Ruhestand verpflichteten (obwohl viele das bereits getan hatten). Dann verlangten wir ein dringendes Treffen mit Nestlé, um eine Erklärung zu fordern. Die Erklärung von Nestlé lautete, das Unternehmen müsse als Reaktion auf die globale Finanzkrise damit anfangen, 'Ausgaben zu kürzen oder einzuschränken'."

Araújo stellte ferner fest: "Zur Zeit gibt es 1500 Nestlé-Arbeitnehmer im Ruhestand und rund 150 Arbeitnehmer mit mehr als 25 Jahren Beschäftigungszeit im Unternehmen, die immer noch in Fabriken überall im Land aktiv sind. Die Arzneimittelkosten dieser 150 nicht mehr zu zahlen, würde kaum zu einer Senkung der Ausgaben beitragen, für diese Arbeitnehmer jedoch wäre es ein grausamer Schlag."

Die Leistungskürzungen wurden aufgehoben - und nach der Vereinbarung sind alle Dokumente, die Arbeitnehmer möglicherweise unterzeichnet haben, ungültig. "Nur für den Fall," meinte Araújo, "rieten wir allen Gewerkschaftsmitgliedern, die wirklich in den Ruhestand treten wollen, sich zuerst an die Gewerkschaft zu wenden. Bisher ist ein solcher Fall noch nicht eingetreten."
www.iuf.org


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Nestlé Indien: Protestaktionen für Lohnverhandlungen

Am 16. April führte der IUL-Mitgliedsverband Federation of All India Nestlé Employees bei vier Nestlé-Fabriken in ganz Indien Protestaktionen durch und forderte die Unternehmensleitung auf, unverzüglich Lohnverhandlungen aufzunehmen.

Seit November vorigen Jahres fordern die vier Mitgliedsgewerkschaften dieses Bundes ein Ende der einseitig von der Unternehmensleitung bestimmten jährlichen Lohnerhöhungen und wie bei ähnlichen Kämpfen in Russland und Indonesien das Recht, für ihre 1500 Mitglieder Lohnverhandlungen zu führen.

In ihrer Pressemitteilung vom 15. April verwies die Federation of all India Nestlé Employees auf die rasch steigenden Umsätze und Gewinne von Nestlé Indien in den letzten drei Jahren als Beweis dafür, dass sich das Unternehmen die von ihren Mitgliedern geforderten Lohnerhöhungen mit Sicherheit leisten kann. Das Unternehmen gewährt jedoch nur Lohnerhöhungen, die deutlich unter der Inflationsrate liegen. Gleichzeitig wurden die Gehälter der Führungskräfte und Manager um 16% angehoben.

Die Proteste haben in drei indischen Bundesstaaten sowie im Fernsehen des Landes ein breites Medienecho gefunden.

Im Januar konnte die Unternehmensleitung von Nestlé Indien Gerichtsentscheidungen erwirken, mit denen Gewerkschaftsaktionen im Umkreis von 200 Metern der vier Fabriken dauerhaft verboten wurden, womit das grundlegende Versammlungsrecht der Arbeitnehmer von Nestlé Indien verweigert wurde.

Vom 23. April an wird es für die Dauer der kommenden sechs Wochen jede Woche abwechselnd Proteste vor den vier Fabriken geben, deren Höhepunkt eine Massendemonstration am 25. Mai vor der Zentrale von Nestlé Indien sein wird. Sollte sich das Unternehmen auf das Versammlungsverbot berufen, um diese Demonstrationen zu verhindern, wird der Gewerkschaftsbund mit voller Unterstützung der IUL die Kampagne zur Verteidigung von Gewerkschaftsrechten verschärfen.

Quelle: IUL Vereinigte Lebensmittel-, Landwirtschafts- und HotelarbeitnehmerInnen weltweit.
www.iuf.org

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Arbeitnehmer protestieren bei Nestlé Ponda (Bundesstaat Goa)

Raute

WIRTSCHAFTSPRESSE

Outsourcing schadet der Produktivität. FAZ, Mi., 22.4.09. Der Verein Deutscher Ingenieure hat auf der Hannover-Messe eine Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung vorgestellt, nach der die Fertigungstiefe der Unternehmen, also der Grad der Fertigung der Produkte im eigenen Betrieb, ausschlaggebend für die Produktivität des Unternehmens sei. Wer wie die deutsche Automobilindustrie nur noch 20 % Fertigungstiefe habe, sei zu abhängig von Herstellern und habe zu wenig Einfluss auf das eigene Produkt, warnte S. Kinkel vom Fraunhofer-Institut.


Windkraft boomt in Deutschland. Der Bundesverband Windenergie (BWE) verbreitet Optimismus. Windkraft hat eine Exportquote von 80 % und die Branche hofft noch auf steigende Aufträge aus USA. US-Präsident Obama will die regenerativen Energien in den USA innerhalb von drei Jahren verdoppeln. Durch die Erhöhung der Einspeisgebühr von 5,2 auf 9,2 Cent/KWh durch eine Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes steigt der Gewinn auch im Inland. Die Sparkassen und Volksbanken finanzieren die Windkraft in ländlichen Gegenden, und springen für manche Großbank ein, so H. Albers Präsident des BWE.


BDI-Chef fordert Mittel gegen Spekulation. FAZ, Mo., 27.4.09. H.-P. Keitel, BDI-Präsident, warnt, dass die Finanzmärkte mit den frischen Staatsgeldern zu den früheren hochspekulativen Verhaltensweisen zurückkehren könnten. "Das Casino darf nicht wiedereröffnet werden und mit noch mehr Geld spielen als zuvor, weil noch mehr staatliches Geld zur Verfügung steht." Er verlangt eine Verbesserung der Finanzaufsicht durch mehr Kooperation der Behörden. Die Führer der acht Unternehmerverbände forderten auch, die Eigenkapitalvorschriften für Banken zu entschärfen, auch unter "Basel II" bekannt.


Widerstand der Arbeitgeber gegen verlängerte Altersteilzeit. FAZ, Die., 29.4.09. Arbeitgeberpräsident D. Hundt warnt vor neuen Subventionen der Frührente. Die Arbeitgeber fürchten einen Richtungswechsel durch ein Überziehen der Kurzarbeiterregeln; etwa wenn ein Arbeitnehmer nach dem Bezug von Kurzarbeitergeld über zwei Jahre noch einen ebenso langen Aufenthalt in einer Transfergesellschaft anschließen könnte, dort das sogenannte Transfer-Kurzarbeitergeld bezöge und dann das Rentenalter erreicht habe. "Es muss darauf geachtet, werden, dass keine neue Brücke zur teuren Frühverrentung gebaut wird."

Zusammenstellung: rst

Raute

DISKUSSION UND DOKUMENTATION

Die Ostsee - Geschichte, Wirtschaft, Verkehr

Die Europäische Kommission hat im Juni dieses Jahres dem Europäischen Parlament eine "Ostsee-Strategie" vorzulegen: Wird die Ostsee endlich ein "Meer des Friedens"?


Mit dem Ende des Kalten Krieges im Jahr 1990 wurde ein jahrzehntelang politisch "gespaltenes" Meer wieder zu einem gemeinsamen und für alle "offenen". So jedenfalls empfanden es die VertreterInnen der zehn alten und neuen Anrainerstaaten. Besonders begeistert äußerten sich die ehemaligen und immer noch so genannten Hansestädte entlang der Küste von Rostock bis Riga, allen voran deren ehemalige Zentrale Lübeck in Schleswig-Holstein. 2008 sagte deren Stadtpräsidentin Schopenhauer auf der Hafenkonferenz der neu gegründeten "Baltic Port Organisation", die von 100 Vertretern von 50 Ostseehäfen besucht wurde, in einem Grußwort: nach dem Fall des Eisernen Vorhangs finde der Handel im Ostseeraum "zurück zu seinen Wurzeln". In der Ostseeregion müsse das Gegeneinander ein Ende haben. Die Häfen müssten die Zukunft des Ostseeraumes "als eine Familie" gestalten. Bei der Linkspartei wurde in Anklängen an alte DDR-Visionen sogar der Plan einer Konferenz zum zukünftigen "Meer des Friedens" vorgeschlagen.

Was ist wahr und realistisch an diesen Vorstellungen? Welche Rolle hat das kleine Meer als Verkehrsweg für seine Anrainer und großen Hinterländer gespielt? War es ein friedliches Miteinander oder eher ein kriegerisches Gegeneinander? Kann es sein, dass das "Mare Balticum" wie vorausgesagt in den nächsten Jahren seinen Schiffs- und Containerverkehr nahezu verdoppeln wird?

Für Schleswig-Holstein eine wichtige wirtschaftliche und politische Frage.


Die Ostsee geologisch: ganz jung und nicht sehr reich

Die Ostsee am nördlichen Rand Europas ist ein vergleichsweise kleines Meer mit einem schmalen Zugang zur Nordsee und zum Atlantischen Ozean. Diesen nördlichen Weg durch die engen Sunde und rund um die stürmische Meeresenge von Skagerrak und Kattegat zwischen den dänischen Inseln finden heute - dank der vielen Brücken und Kanäle - nur noch wenige Schiffe. Es ist das jüngste Meeresgebilde der Welt, das erst Ende der letzten Eiszeit vor 12.000 entstand, als das abschmelzende Eis die genannten Verbindungen freigab und die Ostsee von einem Binnensee überhaupt erst zu einem offenen Meer wurde. Im Norden und Nord-Osten wird die Ostsee durch die nackten und zerklüfteten Gebirgszüge des Baltischen Schildes mit seinen bekannten Fjordbildungen bestimmt (Norwegen, Schweden, Finnland). Im Osten und Süden haben die Jahrhunderttausende andauernden Eiszeiten bewirkt, dass bis in die Norddeutsche Tiefebene und an den Rand des Urals die Endmoränen und das Schmelzwasser das Land mit zahlreichen Mooren und Sümpfen versehen hat (Mecklenburg, Pommern, Polen, die baltischen Staaten), zu riesigen Seenplatten umformte (Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Finnland, oder sie zu - von Friedrich II. von Preußen so genannten - trockenen "Streusandbüchsen" machte (Brandenburg, Pommern, Russland. Die Länder rund um die Ostsee haben zwar riesige Waldbestände, aber meist arme Böden mit wenig Humusbildung, und noch heute bedeckt im Winter eine dicke Eisdecke bis zu fünf Monate lang den nördlichsten und östlichsten Teil dieses Meeres.

Als nach dem Abtauen der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren die ersten größeren Gruppen von Menschen hier jagten und fischten und ab 3.000 v. u. Z. als Ackerbauern ihre gerodeten Siedlungen errichteten, war dies nur möglich, weil inzwischen neben der fruchtbaren Gerste und dem fetten Weizen - aus dem Orient kommend - der genügsamere und klimatisch angepasste Roggen ("Schwarzbrot") gezüchtet worden war. Diese aus der Eiszeit entstandene Landschaft bietet allerdings auch einen besonderen Vorteil: Im Süden fließen der Ostsee aus den so geschaffenen Tiefebenen zahlreiche gut nutzbare Wasserwege zu. Von der Wolga bis zur Weser sind diese Flüsse ideale Transportwege für Warenaustausch und Handelskontakte in die Ostsee hinein. Ein wichtiger Vorteil in Zeiten, in der die Menschen erst in geringem Maße und schon gar nicht weite Strecken durch Sümpfe und Moore Transportwege schaffen konnten.

Wir wollen einige bedeutende Epochen der "Geschichte der Ostsee" genauer unter die Lupe zu nehmen, um Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Bruchlinien unter dem Gesichtspunkt politischer, kultureller religiöser, wirtschaftlicher und schließlich auch verkehrstechnischer Bedeutsamkeit zu ergründen - bis in die heutige Zeit.


1. Slawen, Wikinger und Araber: Handel zwischen Haitabu und Samarkand.

Seit etwa 3.000 v. u. Z. (vor unserer Zeitrechnung) lebten in der Jungsteinzeit verschiedene finnische, germanische, baltische und slawische Völker an den Rändern der Ostsee, deren Gewässer und Flüssen sie für Fischfang und deren kargen Boden sie für Landbau, Viehzucht und Waldwirtschaft nutzten.

Im 4. Jhd. rückten slawische Stämme in die von Germanen verlassenen Gebiete nach. Sie entwickelten im Laufe der folgenden Jahrhunderte eine eigene Ostsee-Ökonomie mit bedeutenden Handels- und Handwerkssiedlungen, von denen das bekannteste das germanische Haitabu bei Schleswig ist, dem aber die slawischen Niederlassungen (z.B. in Reric, Ralswiek und Wolin) in nichts nachstanden. Alle diese Stämme besaßen seit Jahrtausenden beste Kenntnisse im Schiffsbau, nutzten die zahlreichen Küsten, Seen und Flüsse mit ihren flachen, leichten, wendigen Booten, verstanden es, diese Fahrzeuge mit ihren Waren, wo die Wasserwege fehlten, ein Stück über Land zu ziehen (z.B. in Hollingstedt in Schleswig-Holstein als Verbindung zwischen Ost- und Nordsee) und hatten ausreichend Rohstoffe und handwerkliches Geschick, um weit in die Hinterländer hinein Handel zu treiben. Dabei kamen ihnen die oben erwähnten Flüsse (Oder, Weichsel, Memel) der nördlichen Tiefebenen mit Mündungen in die Ostsee sehr gelegen. Vom 8.-11. Jhd. wurde der Norden Europas von Skiringssal in Norwegen über Birka in Schonen, Nowgorod am Ladogasee, die Wolga hinunter bis zum Schwarzen Meer ins byzantinische Konstantinopel und bis nach Samarkand im arabischen Abbasidenreich ein von Stämmen bestimmter, "staatenloser" Handelsbereich. Zahlreiche Münzfunde, über ganz Nordeuropa verteilt, belegen die weltweiten Kontakte, in denen der arabische Silberdirham neben dem karolingischen Denar im Austausch die entscheidende Währung darstellte. Gehandelt wurden Salz, Honig, Felle, Wolle, Tuche, Seide, Keramik, Glas, Bernstein, Wachs, Schwerter und Sklaven.


2. Raubzüge, Staatsgründungen und die Unterwerfung fremder Völker

Bald spielten die skandinavischen Wikinger aus Dänemark und Norwegen mit ihren seetüchtigen Drachenbooten eine besonders bedeutende Rolle in der Ostsee und ab dem 9. Jhd. auch in der Nordsee. Ihre wirtschaftlichen Interessen, durch Raubzüge und Handel zu Reichtum und später auch zu Siedlungsland zu kommen, trieben sie nun auch nach England, Irland, Island und über den Atlantik nach Neufundland/Amerika. Als im 11. Jhd. die Silberströme aus Arabien versiegten und kriegerische Umstürze die Handelswege nach Osten versperrten, wurden sie mehr und mehr sesshaft, bis hinunter in die Normandie und nach Sizilien. Haitabu wurde im Jahr 1050 vom dänischen König Harald geplündert und nicht wieder aufgebaut, 1066 eroberte der Herzog der Normandie William the Conqueror England. Auch rund um die Ostsee begannen sich Staaten herauszubilden, die Territorien in Besitz nahmen, ein gut organisiertes Staatswesen aufbauten, zentrale Herrscherfunktionen ausübten und sich militärisch hart gegen ihre Nachbarn abgrenzten. Im Norden waren es Norwegen, Schweden und Dänemark, im Osten das Königreich Polen, Litauen und das Großfürstentum Moskau. Die baltischen und finno-ugrischen Völker schafften es nicht, stabile politische Einheiten zu bilden. Sie wurden in der Folge von den starken Staaten, den Dänen, Deutschen und Russen unterworfen.

Passend für diesen Vorgang fand nun auch das Christentum als eine zentrale Ideologie seine Anerkennung. Vom Erzbistum Bremen aus fand es über Hamburg, Ripen, Lund und Uppsala seinen Weg in die Ostsee-Länder, gefördert durch Missionare und Klöster, durch deutsche Kaiser und den römischen Papst. Wer sich als Herrscher eines festen Staatswesens etablieren wollte, ließ sich taufen, zum Heiligen erklären und richtete katholische Bistümer ein. Das Russische Reich wurde aufgrund seiner engen Kontakte zu Byzanz orthodox. Die für drei Jahrhunderte einheitlich agierende Handelsregion rund um die Ostsee verwandelte sich in eine Welt von militärisch und politisch organisierten Fürstentümern und Königreichen, die sich nun die vorhandenen Ressourcen samt der wichtigen Verkehrswege gegenseitig streitig machten, miteinander im Widerspruch gerieten und sich bekämpften.


3. Deutscher Orden und Deutsche Hanse

Ab dem 12. Jhd. erreichte das deutsche Reich unter den Staufern durch eine verbesserte landwirtschaftliche Produktion, die militärische Überlegenheit ihrer Ritterheere und den aktiven Einsatz verschiedener landhungriger Herzöge Erfolge in der Landnahme im Osten. So erreichte z.B. der berühmte Herzog Heinrich der Löwe von Sachsen und Bayern mit Waffengewalt, durch kluge Vertragspolitik und konsequente Missionierung, dass die Slawen von Ostholstein (Ratzeburg) und Mecklenburg (Schwerin) seiner Herrschaft angegliedert wurden.

Als der Deutsche Ritterorden aus dem Heiligen Land zurückgekehrte, richtete er ebenfalls sein Augenmerk auf den "deutschen Osten", um die dort noch nicht beherrschten baltischen Völker zu unterwerfen, sie ihrer Territorium zu berauben und deutsche Siedlungen ins Land zu bringen. Der Eroberung Brandenburgs, Pommerns und Ostpreußens folgte die von Pommerelen, Livland und Litauen mit militärischer Gewalt oder durch Kaufverträge. Sie blieben fast 300 Jahre die Herren eines großen Reiches. In der Schlacht bei Tannenberg 1410 verlor der Deutsche Orden einen Großteil seiner Besitzungen an das erstarkte polnisch-litauische Königreich. Ein bunter Flickenteppich von Herrschaften durchzog jetzt das slawische und baltische Land: unabhängige Bischöfe und Fürsten, freie Städte, weitere Orden und der Widerstand der Bevölkerung ließen eine zentrale, einheitliche und dauerhafte Herrschaft dieses Gebietes nicht zu. Die Wirtschaft dieser Länder und die Verkehrswege entlang der Ostsee wurden nach dem Willen des Stärkeren reguliert.

Im Gegensatz zu diesen Staatenbildungs- und Imperiumsversuchen hatten die gleichzeitig entstandenen großen Handelsbünde und -organisationen schon eher Erfolg, die Ostsee als ein gemeinsames Meer zusammen zu fassen. Die "Deutsche Hanse", der zur Blütezeit fast 250 Städte angehörten, machte zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert das gesamte Ostseegebiet und einen Teil der Nordsee von Nowgorod über Gotland, Bergen und London bis Brügge zu ihrem wirtschaftlichen Einflussbereich. Indem sie ihre Schiffe, die Koggen, mit größerem Schiffsraum, zentralem Ruder, drei (Rah- und Lateiner-)Segeln und einem ausladenden Vorderdeck ausgestattet hatten, konnten sie schneller, sicherer und billiger als bisher die Ost- und Nordsee durchkreuzen.

Sie erwarben durch Verträge mit Königen, Städten und Regionen Privilegien über Stapelrechte, Hafennutzungen und Durchfahrtsrechte (vor allem im Sund vor Dänemark). Sie übten städtische Autonomie aus, einigten sich unter dem Vorsitz Lübecks auf ihren Hansetagen auf ein gemeinsames Vorgehen, zettelten Kriege an und scheuten sich nicht, zur Erreichung ihrer Ziele auch Handels- bzw. Hungerblockaden durchzuführen. Rheinländische und flandrische Händler ergänzten die bisherigen Waren durch neue luxuriöse Produkte die im Austausch mit kostbaren Waren aus den östlichen Ländern gehandelt wurden: Leinen, Holz, Pech, Teer, Gewürze, Wein und Metall. Aber vor allem war es der Ostsee-Hering als Grundnahrungsmittel im Mittelalter und das Salz aus Lüneburg als Konservierungsmittel, das die Ostseewirtschaft zu größter Blüte führte.

Nach dem Erstarken der englischen und niederländischen Staaten übernahmen diese mit ihren Schiffen in der Folge die Vorherrschaft in den beiden Meeren und bald darauf auch auf den neu entdeckten Weltmeeren. Die Hanse ging keineswegs wirtschaftlich zugrunde, aber sie verlor ihre Privilegien und Vorherrschaft. Bis heute wird in den nordischen Gefilden gerne an ihr nichtstaatliches Kaufmanns- und Wirtschaftsverhalten in der Ostsee erinnert und heraufbeschworen, "dass es modellhaft wieder wie zu Hansezeiten sein könnte".


4. Reformation und imperiales Großmachtstreben

Ab 1500 setzte sich in fast allen Ostseeländern - außer in Russland und Polen - die Reformation durch. Sie fand sowohl in den freien Städten und beim "Deutschen Orden", als auch in den Bistümern, Fürstentümern und Königreichen schnelle Zustimmung. Meistens wurde nach offiziellen Beschlüssen von Bürgern und Parlamenten das Luthertum als Konfession gewählt, aber manchmal war es auch der Calvinismus (Schweden) und in den folgenden Jahrhunderten auch der Pietismus und die Herrnhuter Brüderbewegung. In Russland spalteten sich ebenfalls Altgläubige von den bisherigen Orthodoxen. Die Ostsee wurde zu einem multireligiösen Bereich.

Der Übernahme der neuen Religion folgte zumeist die Enteignung der Klöster- und Kirchengüter zu eigenem Vorteil (der Deutsche Orden wurde z.B. weltliches Herzogtum). Auch ermöglichte die neue Glaubensrichtung, die schon im Hansebund zutage getretene städtischer Eigenständigkeit zu sichern und nationale Unabhängigkeit vom römischen Papsttum zu erlangen. Dass "jeder nach seinem eigenen Glauben selig werden konnte", schuf eine von kirchlicher Bevormundung befreite individuelle Lebenshaltung und förderte mit dem freien beruflichen Fortkommen, auch die Entwicklung kapitalistischer Strukturen und einen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung am Rande der Ostsee.

Die neuen Glaubensgemeinschaften, die sich vor allem im Norden Europas herausbildeten, konnten auf keinen Fall von der katholischen Kirche und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation akzeptiert werden. Es kam zwar zu gegenseitigen Duldungsverträgen, aber mehr noch zu wiederholten und lang andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen. Davon war der 30jährige Krieg von 1618 bis 1648 der schrecklichste. An ihm beteiligten sich auch die nordischen Staaten Dänemark und Schweden unter den Königen Christian IV. und Gustav II. Adolf. Letzterer versuchte als der "Löwe aus Mitternacht" das Luthertum gegen die katholische Front der Generäle Tilly und Wallenstein zu verteidigen.

Im Westfälischen Frieden von 1648 konnte Schweden erstmalig deutsche Gebiete an der Ostsee (in Mecklenburg) unter seine Herrschaft bekommen. Das inzwischen absolutistisch regierte Land wollte nun im Ostseeraum ein großes schwedisches Imperium errichten. Gut 100 Jahre lang bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts folgten Krieg auf Krieg zwischen Schweden und seinen wechselnden Gegnern Dänemark, Polen und Russland. Eine wirtschaftliche Verbesserung für Handel und Wandel brachten diese imperialen Zentralisierungsversuche kaum. Im Gegenteil: das eigene Land blutete finanziell so sehr aus, dass Schweden seine Großmachtpläne schließlich aufgeben musste. Die Wirtschaftskraft seines kleinen Landes war trotz des produktiven Reichtums an Erzen, Holz und Landwirtschaft nicht in der Lage, die nötigen Summen zur Beherrschung des Meeres aufzubringen.

Hingegen konnte der inzwischen auf Modernisierung bedachte russische Zar Peter der Große nicht nur seinen schwedischen Gegner 1709 in der Schlacht von der Poltava besiegen, sondern er und seine Nachfolger waren auch in der Lage, in den folgenden zwei Jahrhunderten, ja bis hinein ins 20., dieses große, an Arbeitskräften und Bodenschätzen reiche Russland ständig nach allen Himmelsrichtungen zu erweitern (bis ans Eismeer, ans Schwarze und ans Kaspische Meer). Auch wichtige Teile an der südlichen und östlichen Seite des "Mare Balticum" mit Teilen Finnlands und des Baltikums wurden von Russland dauerhaft besetzt. Wenn in kriegerischen Zeiten für Russland der Weg durch die Ostsee versperrt war, konnte es mit Hilfe der schon von Peter dem Großen errichteten Kanalbauten ins nördliche Eismeer ausweichen. Das geschah im 1. und 2. Weltkrieg ebenso wie in der Zeit des "Kalten Krieges".


5. Neuordnung Europas und der Ostsee

Seit dem 19. Jhd. hatte Russland dauerhaft mit dem Widerstand der baltischen Provinzen zu rechnen, die für ihre nationale Unabhängigkeit kämpften. 1918 wurde Finnland, Estland, Lettland und Litauen diese vom Völkerbund zugestanden. Ab 1940 folgte noch einmal eine Phase des Anschlusses an die aus zahlreichen autonomen Staaten bestehende Sowjetunion. Als diese 1989/90 zusammenbrach, erreichten die baltischen Staaten - dieses Mal mit Unterstützung der UN und der Weltmacht USA - erneut ihre Unabhängigkeit. Kaum selbständig geworden, drängten sie mit Vehemenz in die Europäische Union, was allerdings auch von der eigenen Bevölkerung zum Teil sehr kritisch gesehen wurde.

Nach dem Ende des letzten Weltkrieges und dem Beginn des "Kalten Krieges" war die Ostsee deutlich in zwei wirtschaftliche und politische Lager gespalten. Die skandinavischen Länder und Finnland versuchten zwar eine gewisse Neutralität zwischen den Blöcken zu wahren, und zwischen ihnen einen Ausgleich zu schaffen. Aber auch die bekannte schwedische Vermittlungsstrategie war letztlich erfolglos. Das Meer wurde zu einem Aufmarschgebiet für die Nato und betrieb vorrangig den Warenaustausch der kapitalistischen Länder. Der Ostseehandel des "Ostens" wurde über das Eismeer umgeleitet. Moskau forderte seine westlichen Gegner auf, das Meer wieder zu einem "Meer des Friedens" zu machen. Das war es im Laufe der Jahrhunderte nur selten gewesen.


Die Ostsee: Jetzt Binnenmeer der EU

Erstmals in ihrer Geschichte strebt nun die Europäische Union eine Strategie auf überregionaler Ebene an. Die Europäische Kommission ist vom Europäischen Parlament beauftragt, bis Juni 2009 den Entwurf für eine Ostseestrategie vorzulegen. Diese Strategie soll dazu dienen, die "dringenden Probleme der Ostseeregion auf den Gebieten Umwelt, Wirtschaft, Infrastruktur und Sicherheit zu erkennen und zu bewältigen" (so der Mandatsbeschluss des Europäischen Parlamentes vom Herbst 2005).

Die EU-Kommission nennt die Entwicklung des Ostseeraumes seit dem Zusammenbruch der UdSSR eine "Erfolgsgeschichte der europäischen Integration". Lag 1989 die Ostsee noch weitgehend außerhalb des Horizontes der EU - von damals sieben Anrainerstaaten waren lediglich Dänemark und Westdeutschland Mitglieder der EU - so hat sich zwei Jahrzehnte später die geopolitische Situation grundlegend verändert. Acht von neun Ostseeländern sind heute EU-Mitglieder. Neben Dänemark und Deutschland auch Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen. Die Ostsee ist so fast zu einem Binnenmeer der Europäischen Union geworden. Aber eben nur fast: Die Russische Föderation, einschließlich der Exklave Kaliningrad, steht außerhalb der EU. Eine Ostseestrategie, das wäre dann nicht nur eine neue Dimension von europäischer Innenpolitik, sondern auch ein Prüfstein für die Weiterentwicklung der Beziehungen der EU zu Russland.

Trotz und wegen der Globalisierung verlaufen durch die Ostsee einige von Europas wichtigsten Handelwegen. Das Gebiet um die Ostsee ist Lebensraum für 106 Millionen Menschen. Er beherbergt eine Schiffsindustrie von Weltrang, hochinnovative Unternehmen, sowie einige der weltweit renommiertesten Universitäten. Landschaften und Kultur rund um die Ostsee ziehen in jedem Jahr Millionen von Besuchern an. Ungefähr 90 Prozent des Handels innerhalb der Region wird auf dem Seeweg abgewickelt: Jeden Tag fahren etwa 2000 Schiffe über die Ostsee. Auf der in der Einleitung zitierten Hafenkonferenz der "Baltic Port Organisation" (BPO) in Lübeck im September 2008 waren die Teilnehmer ungebrochen euphorisch. Ziel sei ein enges Netzwerk der Häfen. "Wir brauchen gemeinsame Standards in den Häfen, z. B. bei den Ladesystemen." Und wo die Reise hingehen soll, erläuterte Dr. Maciej Matczak von der Maritimen Universität in Gdingen: Bis 2020 würde das Warenvolumen auf der Ostsee um 54 Prozent wachsen: "Auf Schiffen werden dann pro Jahr 471 Millionen Tonnen transportiert und nur 272 Millionen Tonnen auf Straße und Schiene. Die Ostseehäfen werden boomen!"

Dies zeigt einerseits die Wirtschaftskraft und die starke Verflechtung dieser Region. Gleichzeitig ist damit der Startschuss zu gnadenloser Konkurrenz gegeben: Nynäshamn, südlich von Stockholm macht sich Hoffnungen auf den Bau eines der größten Schwedischen Umschlaghäfen. Mit dem 185-Millionen-Euro-Projekt hofft die Stadt, ein ordentliches Stück vom Kuchen des ständig wachsenden Ostseehandels abzubekommen.

Neben den Warenströmen erhöhen sich sprunghaft die Zahlen des Passagiertransportes. Der absolute Marktführer auf der Ostsee ist die estnische Reederei Tallink. Vor einem Jahr übernahm die bis dahin von der Konkurrenz nicht so recht ernst genommene estnische Reederei den großen finnischen Rivalen Silja Line. Nun betreibt dieser Konzern 21 Schiffe auf sieben Routen zwischen Finnland, Schweden, Estland, Lettland und Deutschland. Zum Vergleich: Die erst kürzlich von ihrem dänischen und deutschen staatlichen Besitzern verkaufte Scandlines läuft mit nur 13 Schiffen gerade mal zwei Häfen im Baltikum und einige in Skandinavien an.

Es sind immer weniger, dafür immer größere Akteure auf der Ostsee unterwegs. Viele Reedereien bauen ihre Kapazitäten aus, die besser für den Waren- und Lkw-Transport geeignet sind. Besonderer Bedarf besteht an einem Ausbau der Tankerflotte in der Ostsee.

2001 weihte der russische Präsident Putin persönlich den Ölhafen Primorsk ein. Von hier, tief im finnischen Meerbusen nahe der Metropole St. Petersburg, will Russland einen Großteil seiner Ölexporte in Zukunft abwickeln. Im Einweihungsjahr wurden über den Ölhafen gerade mal zwölf Millionen Tonnen Rohöl verschifft; im Jahr 2006 waren es bereits 75 Millionen; Ende 2008 dann 120 Millionen Tonnen.

Aber: Die Wirtschaftskraft ist sehr ungleich in dieser Region verteilt. Zwar leben hier 23 Prozent der EU-Bevölkerung; sie erwirtschaften aber nur 16 Prozent des europäischen Bruttoinlandproduktes. Hinzu kommt das hohe Umweltrisiko. Ungewöhnlich lange - 25 bis 30 Jahre - dauert der Wasseraustausch der Ostsee. Alles was an Dreck durch die Anrainer und den Schiffsverkehr in die See gerät, bleibt dauerhaft im Meer liegen. "Es ist nicht mehr die Frage, ob ein Unglück geschieht, sondern wann", heißt es im finnischen Umweltministerium.

Hier will nun die EU-Kommission wirtschaftliche und auch ökologische Zusammenarbeit und Entwicklung fördern. Ähnlich, wie sie das in anderen Randgebieten der EU wie Portugal, Irland und Griechenland gemacht hat. Rund 300 Millionen Euro will Brüssel zum Ausbau von Häfen bereitstellen. Um koordiniert an das Geld heranzukommen, haben sich Ostseehäfen in Deutschland, Litauen, Polen und Schweden zusammengeschlossen. Die Initiative des Europäischen Parlamentes zur Erarbeitung einer Ostseestrategie blieb jedoch zunächst ohne Widerhall. Obwohl sie das Europäische Parlament im November 2006 nochmals bekräftigt hat. Weder Finnland noch Deutschland wollten die Initiative während ihrer Ratspräsidentschaft 2006 und 2007 aufgreifen.

Erst die schwedische Regierung machte sich die Ostseestrategie mit Blick auf ihren Vorsitz im zweiten Halbjahr 2009 zu eigen.

Edda Lechner


Lesenswert zum Thema:
Andrea Komlosy (Hg.) "Ostsee 700 - 2000", Wien 2008

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Wikinger Schiffe in einer Darstellung aus der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts (Teppich von Bayeux, Normandie)
- Die Warenströme der Hanse
- Anzahl der Schiffsbewegungen in der Ostsee

Raute

Hörst Du Plato Die Signale

Im Max-Planck-Institut für Biochemie / Neurobiologie in Martinsried bei München wurde am 3. April eine Ausstellung mit Bildern von Stefan Britt und seiner leider schon verstorbenen Frau Carol Irmhoff eröffnet. Wir dokumentieren hier die Einführungsrede von Frau Elisabeth Adebola (s. Foto, rechts), die die Kunstausstellungen in dem Institut organisiert. Außerdem zeigen wir das Bild von Stefan Britt, das der Ausstellung ihren Namen gegeben hat ("Hörst Du Plato Die Signale"), sowie das autobiografische Bild "Zähl mich für zwei", das Erinnerungen an den Kampf gegen Soldaten der Sowjetunion aufarbeitet, die die Gefahr für ihr Land aus dem Westen nachhaltig beseitigen wollten. Die Texte zu den Bildern hat Stefan Britt selber verfaßt. - Die feinfühligen Arbeiten von Carol Irmhoff können hier leider nicht adäquat wiedergegeben werden.

Hans Waschkau


Die Ausstellung kann noch bis zum 29. Mai besichtigt werden (täglich von 9 - 19 Uhr, am Empfang nach der Ausstellung fragen). Das Institut ist erreichbar mit Auto (Adresse: Am Klopferspitz 18, 82152 Martinsried), mit Bus 266 ab Grosshadern (U6) bzw. ab Planegg (S6), Haltestelle Max-Planck-Institut oder ab Klinikum Grosshadern zu Fuß (15 Minuten).


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Einführungsrede zur Ausstellung

Von Elisabeth Adebola

Hörst du PLATO die Signale? - Alles was uns begegnet, versuchen wir zu erklären. Heute begegnen uns Ihre Bilder - Bilder von hintergründiger Phantasie und Mythologie. Mythos und Logos sind beides Erklärungsmethoden der Welt. Der Mythos versucht dies durch Geschichten, Gedichte, Sagen - BILDER. PLATON steht für den Wechsel der Methode zur Erklärung der Welt.

Vom Mythos zum Logos - Logos ist die rationale Erklärung der Welt. Hinschauen in der Wissenschaft bedeutet meist auswerten von Fakten. Fakten, die als Ergebnisse unserer Forschung von uns selbst geschaffen wurden. Sie drücken sich meist in nüchternen Zahlen aus.

Ganz anders Ihre Bilder - wenn sie uns morgens beim Betreten des Foyers begegnen. Die Phantasie des Künstlers - die Vereinigung von Figuren und Symbolen beeindruckt unsere Sinne und hinterfragt die zum Teil mystische und hintergründige Ausdrucksweise.

Hier im Tempel der Minerva - Minerva, die Göttin der Weisheit aber auch der Kriegsführung, die Göttin der Kunst und die Hüterin des Wissens. Minerva, das Logo der MPG - verpflichtet uns geradezu die Signale Ihrer Bilder - die Signale der Zeit im Sinne von Plato zu verstehen. Das Einwirkenlassen von Eindrücken - nicht gleich das Auswerten. Die Darstellung in Ihren Bildern auf uns wirken zu lassen - als Übergang vom Möglichsein zum Sein. - Als Geschenk Ihrer Bilder steht am Ende die Analyse des Einzelnen. Der Vollzug vom Mythos zum Logos - hin zu Plato ... In farbenfrohen, ausdruckstarken Bildern, die in ihrer Symbolhaftigkeit und Komposition explosiv auf jeden Betrachter wirken. Wir bedanken uns für den Genuss und die Freude und auch für den Impuls zum Nachdenken.


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Hörst Du PLATO Die Signale?

PLATO: "Eigentlich sollten die Philosophen das alles regieren!" - SOKRATES: "Ja, so wäre es am besten!" - ARISTOTELES: "Am besten? Ja ja, das sind wir!"

EVOLUTION: Auf Körperlänge an ein erwünschtes Beutetier herangeschlichen, wird die keulenförmige Zunge herausgeschossen, die Beute angeleimt und in das Maul zurückgerissen, wo sie zwischen den Zähnen zermalmt wird. Das Schießen der Zunge veranlaßt ein sinnreicher Mechanismus, bei dem die Zunge über einen Zungenbeinknorpel durch Muskelkontraktionen in starke Spannung versetzt wird, die beim Lösen der Arretierung das verdickte Ende aus dem Maul herausschnellen lässt. Die in allen warmen Teilen der Erde heimische Reptilienart ist als Baumbewohner höchst vollkommen an eine Lebensweise im Geäst angepasst. Es kann auch seine Farbe ändern. Das dient gewöhnlich nicht der Angleichung an die Umgebung, sondern es drückt in erster Linie den Erregungszustand des Tieres aus. (Frei zitiert aus: "Das große Lexikon der Tiere".)

SINFONIE FÜR FABRIKPFEIFEN: Nach Ideen der revolutionären Dichter Gastew und Majakowski und mehreren Experimenten in Industriestädten wie Nischni-Nowgorod und dem späteren Leningrad fand die erste großangelegte Aufführung am 7. November 1922 in Baku statt. Der Chormeister stand gut sichtbar auf dem höchsten Fabrikdach und dirigierte mit Signalflaggen den Einsatz für die Mitwirkenden: Die Nebelhörner der gesamten kaspischen Flotte, alle Fabriksirenen, zwei Batterien Artillerie, mehrere Infanterieregimenter, eine Maschinengewehr-Abteilung, acht Wasserflugzeuge und endlich Chöre, in die alle Zuhörer einstimmten.

BORIS GROYS vergleicht das revolutionäre Subjekt in seinem Buch "Das kommunistische Postskriptum" mit dem Künstler, "dessen Sprache ebenfalls rein performativ ist. Der Künstler begründet seine Kunst nicht, er erklärt sie auch nicht. Er agiert im Offenen - als ein Offener. Kunst zu machen bedeutet, zu verfügen, daß die Dinge so und nicht anders sein sollen - und zwar ohne jede ,objektive' Begründung. Wenn eine Kunst wie Kunst aussieht, gilt sie nicht als Kunst, sondern als Kitsch. Wenn die Kunst wie Nicht-Kunst aussieht, ist sie einfach Nicht-Kunst. Die Kunst soll wie Kunst und gleichzeitig wie Nicht-Kunst aussehen, um als Kunst anerkannt zu werden."


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ZÄHL MICH FÜR ZWEI!

Bildermacher: ALASKA BASILIUS BRITT JEDLITSCHKA

Warum fahren die mit ihrem Kasten plötzlich rückwärts, schon nach dem ersten Abpraller unserer Achtacht? Statt ihrerseits zu schießen? Dann wären wir jetzt bereits im Arsch, wenn auch kaum im Himmel. Beim Reinkippen in die schützende Mulde haben wir sie dann erwischt, an der verletzlichen Unterseite. Bumm, alles brennt. Auch die Menschen, die da drin waren? - Statt sich über das geschenkte eigene Leben zu freuen, funktionieren die jugendlichen Totmacher weiter. Besonders der Angeber mit dem Rechenschieber. Das Einstellen der Zünderlaufzeit, "Hochgezogene Sprengpunkte" (über die Köpfe der noch nicht toten) und ähnliche Feinheiten waren meine Spezialität. Nachdenken über alles kommt erst 50 oder 60 Jahre später. - Einen Fremden kann man natürlich schneller verurteilen. So zum Beispiel Einstein wegen Hiroshima. Gewissermaßen als Nebenwirkung für mich wurde der Berufswunsch meiner Jugend, Atomphysiker zu werden, gleich mit in die Luft gesprengt. Was ich heute mache, ist nicht so wichtig. Hauptsache, Schluss mit Leute umbringen. - Der Mann mit der klassischen Panzermütze aus Filz kam in der Nacht aus einer Fernsehsendung zu mir. Später immer öfter. Die tote Ziege gehört zu einem lustigen Reiterspiel der Dorfbewohner dort in Tadschikistan. Er hat immer gewonnen. Langsam hab ich begriffen, daß er mir zeigen will, daß er noch lebt. "Zähl mich für zwei!" war das Ende der Botschaft.


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Künstlerisches Selbstverständnis von Stefan Britt

Kunst als Selbsttherapie. Für Dinge, die keiner bestellt hat, gibt's auch keine Bezahlung. Den Nutzen hat, wie der Name schon sagt, eben jeder selbst.

Kunst für die Privilegierten. Wer hohe Preise erzielt, gilt als Künstler. Bezeichnungen wie "nicht unoriginell", "zur Zeit in", oder "so noch nicht gesehen" dienen als Nachweis für Qualifikation.

Kunst für Unterprivilegierte. Für diese Zielgruppe zu arbeiten, ist wenigstens kein Grund sich zu schämen. Wenn jemand sich der Masse gegenüber als Herrscher oder Aristokrat betrachtet, "dann braucht die Masse ihn nicht, auch wenn er ein Genie ist." (Mao Tse-Tung)


Stefan Britt: Geboren 1926 in einem Hochgebirgstal im Salzburger Land. Schöne Zeit unter Tieren und Dorfjugend. Später (als Soldat) Menschen umgebracht. Wichtige Erfahrungen in russischer Kriegsgefangenschaft.

Frühestes Berufsziel: Atomphysik. Nach Hiroshima storniert und ersetzt durch weniger gefährliche Tätigkeiten: Druckereiarbeiter, Holzfäller, Baletttänzer, Schaufenstersdekorateur, Lehrer für Aktzeichnen, Bildermacher.

Carol Irmhoff. 1930-2008. Geboren in Halifax, Canada. Berufstätigkeit als Lehrerin an öffentlichen Schulen, speziell für behinderte Kinder. Reiste nach Europa, um Kunst zu studieren. So bei Professor Stavi Soucek in Salzburg.

Raute

IN & BEI DER LINKEN

Wir dokumentieren unten einen Beitrag aus der Diskussion der Rosa-Luxemburg-Stiftung (rls). Die im Bundestag bzw. in den Landtagen vertretenen Parteien können parteinahe Stiftungen errichten, die aus dem Haushalt des Bundestags oder der Landtage erhebliche Mittel zugewiesen erhalten. Das Gesetz weist den Stiftungen Aufgaben der politischen Bildung in einem weiten Sinne zu. Die Stiftungen arbeiten bis zu einem gewissen Grade von den Parteien unabhängig. Während Parteidiskussionen in aller Regel entscheidungszentriert sind (welche Forderung wird erhoben, wer wird aufgestellt, mit wem koaliert man u.ä.) werden die Stiftungen idealerweise "ergebnisoffen", tätig, sie übernehmen von den Parteien, denen sie nahe sind, Fragestellungen, die sie nach eigenem Ermessen bearbeiten. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung (rls) steht der LINKEN nahe. Wegen der unterschiedlichen Entwicklungsgrades der Landesverbände hat die rls das elastische Konzept des "Stiftungsverbundes" entwickelt. So ist die Stiftung in den Bundesländern, in denen eine parlamentarische Präsenz im Landtag nicht besteht, gleichwohl durch von ihr geförderte Kooperationspartner (eingetragene Vereine) vertreten, die in den Bundsländern nach eigenem Ermessen aktiv werden. So wie die Stiftung gegenüber der regionalen Ebene auf Kooperationsmöglichkeiten bedacht ist, führt sie zentral zu einer ganzen Reihe von Themen "Gesprächskreise". Eine Liste solcher regionaler Einrichtungen und auch der Gesprächskreise sowie Unterlagen und Dokumente zu ihrer Arbeit sind über die Internetplattform der rls http://www.rosalux. de zugänglich. Das folgende Thesenpapier von Harald Pätzolt lag der jüngsten Beratung des Gesprächskreises "Parteien und soziale Bewegungen" vor. - Hoffentlich lässt sich die Partei auf das hier angerissene Thema diskutierend ein, es wäre das eine Möglichkeit, Erfahrungen des Parteilebens zu verarbeiten, statt bloß daran zu leiden.

Martin Fochler


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Vortrag von Dr. Harald Pätzolt im Gesprächskreis "Parteien und soziale Bewegungen" der rls, 21.4.2009

Parteien zwischen Staat und Volk - ist der Weg in den Parteienstaat heute zu Ende ?

Meine beiden Fragestellungen sind theoretischer Natur.

Es ist zuerst die Frage nach den Bedingungen und den Ursachen jener Entwicklung des deutschen Parteiensystems, die von allen Parteienforschern übereinstimmend als durchaus krisenhaft beschrieben wird. Herbst der Volksparteien (F. Walter), Verlust an Mitgliedern, sinkende Wahlbeteiligung, Übergang von der Parteienbindung zur Lagerbindung (J. Raschke), Verdrossenheit und Ansehensverlust usw. Und es ist als zweite die Frage nach den Außenbeziehungen, der Rolle der Parteien im politischen System.

Ich werde die Fragen hier nicht beantworten können, die Fragestellungen selbst sollen aber begründet werden. Ich denke, dass sie in der Parteienforschung zuwenig Beachtung gefunden haben.


I. Wenn über die Ursachen der Veränderungen gesprochen wird, dann wird auf gewandelte Rahmenbedingungen verwiesen (etwa auf Globalisierung, Wiedervereinigung, Demographie usw. bei O. Niedermayer) und es wird, das ist m. E der einzige entwickelte Ansatz zur Analyse der Bedingungen der Veränderung der Parteienlandschaft, der milieutheoretische Ansatz benutzt (F. Walter).

Wenn es richtig ist, dass die wesentliche Funktion von Parteien die der Mediation zwischen Volk und Staat ist, dann setzt der milieutheoretische Erklärungsansatz F. Walters am einen Pol, am Volk an. Es wäre zu fragen, ob diese Analyse nicht durch eine nähere Betrachtung des andern Pols, des Staates, zu ergänzen wäre.(1)

Ein etwas altmodisch klingender Begriff könnte hier weiterhelfen: Regierbarkeit des Staates. Es ist dies der komplementäre Begriff zu dem gebräuchlicheren der Regierungsfähigkeit der Parteien. Unter Regierbarkeit will ich mit W. Hennis die Fähigkeit verstehen, Herr der Bedingungen zu sein, die das Regieren bestimmen. Dabei geht es im Kern um jene Veränderungen, die den Nationalstaat seit dem zweiten Weltkrieg zunehmend seiner Autarkie und Souveränität beraubten. Kurz: Die Fähigkeit des Staates, seine klassischen Staatsaufgaben wahrzunehmen und zu erfüllen.(2)

Meine erste These wäre, dass die langfristigen Veränderungen des Parteiensystems und der Parteien aus dem Wandel der Milieus des Volkes und aus dem Verlust an Regierbarkeit des Staates und einer entsprechenden Neubestimmung der Rolle und Funktion des Staates, der Staatsaufgaben, zu erklären sind.

Der Vorteil dieser Fragestellung ist darin zu sehen, dass sich der Wandel der Parteien und des Parteiensystems so als programmatischer Lern- und Anpassungsprozess an die veränderten Bedingungen staatlichen Handelns, Regierens, darstellen lassen.(3)


II. Die zweite Frage ist die nach der Stellung der Parteien im politischen System.

Die Parteienforschung tendiert dahin, die Parteien und das Parteiensystem zu beschreiben und zu analysieren. Gegenstand ist auch der Zusammenhang von Parteiensystem und Koalitionsbildung. Weniger thematisiert wird dagegen, wie Veränderungen der Parteien- und Koalitionskonstellationen jeweils den Charakter des parlamentarischen Regierungssystems verändern. Obwohl es Arbeiten wie die von F. Decker zu parlamentarischem System und Parteienlandschaft gibt, bleibt die Darstellung der Zusammenhänge von Parteiensystem, Parteien und den jeweiligen Charakteren des Regierens ("System Adenauer", System Kohl" usw.) weitgehend den Feuilletons überlassen.(4)

Meine zweite These ist nun die, dass unter den veränderten Bedingungen (des Volkes und des Staates) die Parteien eine Entwicklung genommen haben (als Versuch der Anpassung), die sie heute nur noch eingeschränkt ihre Kernfunktion der Mediation erfüllen lassen.

Zur Erinnerung: Die Parteien der Weimarer Republik konnten das deutsche Volk nicht mediatisieren, die vordemokratischen und die industriellen Interessen nicht assimilieren. Das Grundgesetz setzte mit Art. 21 den Rahmen dafür, dass dies sich nicht wiederholen konnte.

Das Parteiensystem hat dann sehr rasch jenen Weg gewählt, der von W. Hennis als "Weg in den Parteienstaat" bezeichnet worden ist. Die Parteien bekamen, verfassungsrechtlich befeuert durch die Idee G. Leibholtz', dass der in den Parteien akkumulierte Wille identisch war mit dem Willen des Volkes, die Parteien das Sprachrohr des mündig gewordenen Volkes seien - und zwar das einzige, eine Stellung, die sich aus dem GG so nicht wirklich ableiten ließ und an die die Verfasser nicht gedacht hatten.

Zwei Prozesse beschrieb W. Hennis schon früh: den der sogen. "Überdehnung" des parteienstaatlichen Elements innerhalb der politischen Ordnung und den der "Abkopplung" der Parteien von der autonomen Willensbildung des Volkes.

Die Phänomene der Überdehnung sind bekannt: Erstens die Ausweitung der staatlichen Parteienfinanzierung, Ämterpatronage und Pfründewesen, das Eindringen der Parteien in alle möglichen Bereiche der Gesellschaft, in Rundfunk und Verwaltungen auf allen Ebenen. Er soll schließlich in allen Gebieten des öffentlichen Lebens bei der Willensbildung des Volkes mitwirken. Zweitens: Der Parteienstaat hat die Fähigkeit erworben, sich selbst zu erweitern und mit Ressourcen und Kompetenzen zu versorgen. Heute ist das Eindringen der Parteien in Parlament und Regierung soweit fortgeschritten, man bedenke die riesigen Apparate der Fraktionen, so dass P. Lösche wohl zurecht der Meinung ist, der Verlust des Rumpfes, des Teils der Partei, der Volk ist, würde den Begriff der "Parties in government" rechtfertigen.

Die Stellung der Parteien war verbunden mit der Verbannung anderer Akteure, etwa der Kirchen und der Gewerkschaften, in den "politischen Vorraum". Diese waren nun auf Lobbyismus angewiesen, die Unternehmerverbände kamen hinzu. Verbandsinteressen wurden durch Parteien als "Transmissionsriemen" in die Politik, d.h. in staatliches Handeln, übersetzt.(5)

Diese Entwicklung wird seit einiger Zeit wieder zurückgenommen. Wirtschaftsverbände sind ganz unmittelbar in Regierungen und Ministerien präsent. Und die Gründungsgeschichte der WASG und der LINKEN war durch direkte gewerkschaftliche Interventionen geprägt. Wenn H. Schmidt fragt, ob denn die Bundesländer Regierung und Opposition brauchen und ob nicht gute Verwaltung besser sei, dann weist er auf ein weiteres Feld des Bedeutungsverlustes der Parteien hin. Für die Kommunen wird dies schon lange diskutiert. Die Parteien haben sich auch hier breitgemacht. Es zeigen sich die Probleme deutlich und es gibt neuere Entwicklungen, positive wie verstärkte Teilnahme von Wählerinitiativen an Kommunalwahlen. Negative Entwicklungen gibt es, allerdings noch nicht in Deutschland: Unternehmen gründen einfach Parteien.

Fazit: Parteien, die sich derart aufgebläht und in Staat und Gesellschaft breit gemacht haben, mediatisieren weniger zwischen Volk und Staat als dass sie sich selbst als Eigner des Staates und der politischen Macht gerieren.

Aber wer rückt ein? Wer repräsentiert Interessen, die heute Parteien nicht mehr repräsentieren können? Die gängige Antwort der Parteien: Die Parteien, wenn sie sich reformieren, besser kommunizieren usw., ist wohl falsch. Die Frage ist eher: Wie organisieren sich Bereiche demokratisch ohne Parteien?


III. Über den Prozess der Abkopplung der Parteien, der Entfremdung, ist alles berichtet. Nur, es gibt zwei konkurrierende Erklärungen. F. Walter sieht die Volksparteien gewissermaßen als die "gesunden" Parteien, konturiert, geerdet in bestimmten Milieus, lebendig. Entsprechend ist ihm der Niedergang der Volksparteien demokratietheoretisch problematisch. W. Hennis wiederum befand, dass gerade der Typus der Volkspartei als einer Partei ohne soziale Grenzen und ohne grundlegend verschiedene Gesellschaftsvorstellungen, jener Parteityp sei, der zur Allerweltspartei, zu Beliebigkeit und einer "Catch-all-Mentalität" tendiere und darum der Problemfall sei.

Ich denke, dies kommt, folgt man den angerissenen zwei Fragestellungen, daher, dass die Volksparteien von ihrem Frühling bis zu ihrem Herbst Ausdruck zunehmend disparater Lebensumstände sind bei gleichzeitig immer schwächerer Regierbarkeit. Das scheint mit Blick auf deren Blüte paradox, löst sich aber wenn man bedenkt, dass es in Prosperität Win-win-Situationen für die Bevölkerung gibt bei gleichzeitiger scheinbar wachsender Stärke des Staates als Wohltäter, als Sozialstaat. Diese Phase endete mit dem Fordismus und der Weg in den Parteienstaat scheint zu Ende, die Parteiensystem wie die Parteien werden weite Bereiche des öffentlichen Lebens räumen und so der Demokratisierung öffnen. Diese Demokratisierungen in Wissenschaft und Bildung, Medien, Daseinsvorsorge, Polizei und Militär, aber gerade auch der Wirtschaft, werden in schärfster Konkurrenz mit der andern Option, der Privatisierung, stehen. Dass aber diese Auseinandersetzung überhaupt beginnen kann, dafür ist es unabdingbar, dass die Parteien das Terrain räumen.


Neue rls-Studie: Europawahl 2009 - Die Wahlprogramme der Parteien im Vergleich Eine Parteien-Studie von Jochen Weichold und Horst Dietzel. 40 S. A4, als PDF:

http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/allg_Texte/ Weichold_Jochen/Europa-Wahl2009-Studie_Weichold.pdf

Aus der Einleitung: Die (Wahlprogramme) spielen zwar im Wahlkampf nicht die entscheidende Rolle. Sie geben aber detailliert Auskunft über die Positionen der Parteien gegenüber der Europäischen Union (EU) insgesamt und auf den verschiedenen Politikfeldern. Wir untersuchen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Positionen zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien CDU, SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE.

Die Parteien haben in unterschiedlichen Verfahren die Programme beschlossen. ... Auch in der Länge unterscheiden sich die Programme deutlich. Am kürzesten ist mit 15 Seiten das Programm der CDU ausgefallen, gefolgt von dem der SPD und dem der FDP. Deutlich länger sind die Programme der Partei DIE LINKE und der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (170 Seiten).

Die CSU hat als letzte der im Bundestag vertretenen Parteien im April den Entwurf für ein Europawahlprogramm vorgelegt, das erst im Mai 2009 vom Parteiausschuss verabschiedet werden soll ...


Anmerkungen

(1) Volk und Staat: In den 20er Jahren waren die Staatsrechtslehrer in Deutschland noch nicht davon überzeugt, dass politische Willensbildung auf repräsentativem Niveau durch die Parteien mit einer gewissen Ausschließlichkeit erfolgen muss. Andererseits galt es für G. Radbruch 1930 für ausgemacht, dass jede Demokratie der Zeit ein Parteienstaat sein müsse.

(2) Ende der 70er Jahre verwies W. Hennis darauf, dass seit der Atombombe kein Staat mehr den äußeren Schutz garantieren könne, das Prinzip der Territorialität aber nicht nur militärisch, sondern ebenso ökologisch und ökonomisch in gewisser Weise aufgehoben sei. Interessant bis heute der Verweis auf den Verlust der "geistigen Individualität" der Völker und Staaten, des je eigenen Staatsgedankens, des way of life. Wir sehen diesen Aspekt der Einschränkung der Regierbarkeit heute noch als stehendes (partei-)politisches Thema in der Debatte um Leitkultur, in der Programmatik rechtskonservativer und rechtspopulistischer Parteien - und weit darüber hinaus in der Bevölkerung als virulent.

(3) Die letzten 20 Jahre waren geprägt von ständigen Versuchen der geistig-programmatischen Bewältigung des Problems des eingeschränkten Staates durch Union und SPD, der ganze sogen. neoliberale Diskurs um Deregulierung, die vielen Erfindungen von Attribuierungen zum Staatsbegriff besonders durch die Sozialdemokraten zeugen davon.

(4) Wie beispielsweise H. Kohl Politik und Regierungshandeln von Ämtern auf Personen umstellte, seine radikal parteistaatliche und personalisierte Herrschaftsweise kreierte, das veränderte das parlamentarische System, die Verfassungswirklichkeit in Deutschland ebenso wie G. Schröders Kanzlerrunden.

(5) Man könnte ja auch darüber nachdenken, ob hiermit nicht die Entscheidung für den apolitischen Charakter de deutschen Gewerkschaften gefallen war. Generell ist meine These, dass das Öffentliche in Deutschland durch das Parteienwesen okkupiert und formiert worden ist.

Raute

TERMINE

14. bis 16. Mai. Berlin. DGB-Kapitalismuskongress mit Demo. Die Demonstration ist Teil der Aktionstage des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) vom 14. bis zum 16. Mai. Sie finden in Brüssel, Berlin, Prag und Madrid statt.

20. Mai. Bremen. Evangelischer Kirchentag. Motto: Mensch, wo bist Du?

14. Juni. Berlin. Bundesparteitag der SPD: Wahlprogramm Bundestagswahl

15. Juni. Sardinien. G8-Gipfel.

20./21. Juni. Berlin. Bundesparteitag der Linken zur Bundestagswahl 2009.

5. September. Berlin. Großdemonstration der Anti-Atom-Bewegung "Mal richtig abschalten" im Vorfeld der Bundestagswahl.


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Die Linke, Arbeitsgemeinschaft Konkrete Demokratie - soziale Befreiung

Vormerken: Sommerschule in Erfurt

Beginn: Donnerstag, 13. August
Abschluss: Sonntag, 16. August

Ort: Erfurt

Kurse und Themen
Wirtschaft: Mindestlohn und Mindesteinkommen
Philosophie/Kulturwissenschaften: noch offen
Internationale Politik: Neorealistische Schule

(genauere Beschreibungen in der nächsten Ausgabe)


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Vorschau auf Wahlen
Jahr
Monat
Wo?
Was?
Termin
Wahlperiode
2009














Mai
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
Juni
August
August
August
August
Sept.
Sept.
Bundesversamml.
EU
Baden-Württemb.
Mecklenb.-Vorp.
Rheinland-Pfalz
Saarland
Sachsen
Sachsen-Anhalt
Thüringen
NRW
Saarland
Thüringen
Sachsen
Brandenburg
Bundesrepublik
Bundesprä
Euro.Parl.
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Kommunal
Landtag
Landtag
Landtag
Landtag
Bundestag
23.5.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
7.6.
30.8.
30.8.
30.8.
30.8.
27.9.
27.9.
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
2010

Frühj.
Frühj.
Schlesw.-Holstein
NRW
Landtag
Landtag


5 Jahre
5 Jahre
2011







Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Frühj.
Herbst
Herbst
Herbst
Baden-Württemb.
Rheinland-Pfalz
Sachsen-Anhalt
Hessen
Bremen
Niedersachsen
Berlin
Mecklenb.-Vorp.
Landtag
Landtag
Landtag
Kommunal
Landtag/K
Kommunal
Landtag/K
Landtag








5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
4 Jahre
5 Jahre
5 Jahre
5 Jahre

Quelle: www.wahlrecht.de/termine.htm

Raute

IMPRESSUM

Politische Berichte

ZEITUNG FÜR LINKE POLITIK - ERSCHEINT ZWÖLFMAL IM JAHR

Herausgegeben vom: Verein politische
Bildung, linke Kritik und Kommunikation,
Venloer Str. 440, 50825 Köln
Herausgeber: Barbara Burkhardt, Christoph
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Aktuelles aus Politik und Wirtschaft;
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Die Mitteilungen der "Bundesarbeitsgemeinschaft
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Gegründet 1980 als Zeitschrift des Bundes Westdeutscher Kommunisten unter der Widmung
"Proletarier aller Länder vereinigt Euch!
Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker vereinigt Euch".
Fortgeführt vom Verein für politische Bildung, linke Kritik und Kommunikation.


*


Quelle:
Politische Berichte - Zeitschrift für linke Politik
Ausgabe Nr. 5, 7. Mai 2009
Herausgegeben vom: Verein politische Bildung, linke Kritik und
Kommunikation
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2009