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OSSIETZKY/934: Fortgesetzte Vertuschung


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 25 vom 17. Dezember 2016

Fortgesetzte Vertuschung

von Joachim Guilliard


Wenn es gegen die militärische Unterstützung der syrischen Regierungskräfte durch Russland geht, sind westliche Politiker, Medien und Nichtregierungsorganisationen mit Angaben ziviler Opfer recht großzügig. 2704 Zivilisten habe die russische Luftwaffe im ersten Jahr ihres Einsatzes getötet, meldeten sie beispielsweise im August, Angaben syrischer regierungsfeindlicher Organisationen ungeprüft weitergebend. Durch "Putins Bomben" seien damit schon mehr Zivilisten gestorben als durch den "Islamischen Staat" (arab. abwertend "Daesch" abgekürzt).

Um die Opfer der schon ein Jahr länger andauernden Luftangriffe der US-geführten Allianz in Syrien und Irak hingegen ist es erstaunlich still, obwohl auch hier Statistiken auf Hunderte wenn nicht Tausende Ziviltote hinweisen. Deren mit Flugzeugen und Drohnen geführten Luftschläge werden jedoch erfolgreich als chirurgisch und absolut präzise verkauft, während russische und syrische Kampfjets, folgt man dem von tonangebenden Medien vermittelten Eindruck, vorwiegend zivile Ziele angreifen. "Ein Vergleich der Berichte über Mossul und Ost-Aleppo sagt uns viel über die Propaganda, die wir konsumieren", stellte vor kurzem auch Patrick Cockburn, der renommierte Nahost-Korrespondent des britischen Independent, fest.

Während der russische Generalstab behauptet, bei keinem der russischen Angriffe seien Zivilisten getötet worden, versucht die US-Armee durch eine Flucht nach vorn, sich glaubwürdiger gegen die zunehmenden Vorwürfe ziviler Opfer zu verteidigen. Anfang November legte das US Central Command eine Liste von 24 Luftangriffen im Irak und in Syrien vor, durch die zwischen November 2015 und September 2016, 64 Zivilisten getötet und acht verwundet worden seien. Es betont, wie sorgfältig alle Fälle geprüft worden wären. Offensichtlich war man dabei aber vor allem um eines bemüht gewesen: nur das zuzugeben, was man ohnehin nicht abstreiten kann.

In der Tat kommen andere Untersuchungen zu deutlich höheren Schätzungen. Die britische Initiative Airwars.org, die die Opfer des Luftkrieges von über einem Dutzend Staaten in Syrien und Irak zu registrieren versucht, schätzte die Zahl der bis 6. November 2016 durch die, in englischsprachigen Medien meist als "Koalition" bezeichnete US-Allianz getöteten Zivilisten auf "mindestens 1787 bis 2647", davon knapp die Hälfte im Irak. Auch dies ist offensichtlich nur ein Bruchteil der tatsächlichen Opfer. Das renommierte Projekt "Iraq Body Count" (IBC), das seit 2003 die zivilen Opfer des Krieges im Irak zu dokumentieren sucht, hatte schon Ende 2015 allein im Irak 2312 zivile Tote durch Luftangriffe der "Koalition" registriert.

Airwars unterscheidet bei der Registrierung von Opfern zwischen "bestätigt", "fair" für recht sicher, "schwach", wenn nur von einer Quelle gemeldet, und "umstritten", wenn Dementis vorliegen. Die Initiative scheint bei der Auswahl ihrer Quellen allerdings recht selektiv vorzugehen. Russische und iranische Medien berichteten zum Beispiel von US-Luftangriffen am 24. Oktober auf ein Schulgebäude in der Ortschaft Tall Kayf, 14 Kilometer nördlich von Mossul, die mehrere Menschen töteten und verwundeten. Insgesamt seien, wie der russische Generalstab der Presse mitteilte, bei Angriffen der "Koalition" auf Wohnviertel an diesem und den beiden vorangegangen Tagen über 60 Zivilisten getötet und 200 verwundet worden. Obwohl sie zumindest als "schwach" hätten registriert werden müssen, fehlen die Angaben bei Airwars völlig.

Durch bloßes Registrieren gemeldeter Todesfälle kann in Kriegsgebieten, wie eine Reihe von Studien ergab, ohnehin nur ein Bruchteil der Opfer erfasst werden. Wie die IPPNW-Studie "'Body Count' - Opferzahlen nach 10 Jahren 'Krieg gegen den Terror'" zeigt, hatte der IBC im Irak zwischen 2003 und 2007 nur zehn bis zwanzig Prozent der Toten gezählt. Die Zahl der bisherigen Opfer der "Koalition" würde demnach bereits bei weit mehr als 20.000 liegen.

Allein die große Zahl der Angriffe legt eine wesentlich höhere Zahl ziviler Opfer als die von Airwars und IBC genannten nahe. Von August 2014 bis Oktober 2016 hat die Allianz insgesamt rund 16.000 Luftangriffe geflogen, davon über 10.000 im Irak und dabei fast 55.000 Bomben abgeworfen. Mehr als drei Viertel der Angriffe, 12.354, flog die US-Luftwaffe selbst. Einer auf der Website des Pentagons veröffentlichten Erfolgsbilanz zufolge wurden dabei bis Ende September neben 550 Panzern und gepanzerten Fahrzeugen und 2050 feindlichen Camps 8000 Gebäude, 2600 Öl-Infrastrukturanlagen und 10.000 "sonstige", also nicht unmittelbar militärische Ziele, beschädigt oder zerstört.

Eine grobe Einschätzung, wie tödlich diese Bombardements waren, kann man durch Vergleich mit denen erhalten, die die USA zwischen 2005 und 2006 gegen den Vorgänger des Daesch und Besatzungsgegner geflogen sind. Bei einer ähnlich großen Zahl von Luftangriffen wurden gemäß einer 2006 im medizinischen Fachjournal The Lancet veröffentlichten repräsentativen Studie schätzungsweise 50.000 Menschen getötet - Zivilisten und Kombattanten.

Nach Angaben ihres Oberkommandierenden, Generalleutnant Sean MacFarland, haben die Angriffe der "Koalition" bis Mitte August 45.000 dem Daesch zugeordnete Kämpfer getötet. Legt man die von der CIA geschätzte anfängliche Stärke des Daesch von 30.000 Mann zugrunde, so haben allein die NATO-Jets die Dschihadisten-Truppe schon eineinhalb Mal ausgelöscht.

MacFarland räumte ein, dass die Schätzung getöteter Feinde "schwammig" und "nicht genau festzunageln" sei, da Daesch sich schnell eine Gruppe von Leuten schnappen, und mit ein paar Kalaschnikows versehen, an einen Checkpoint verfrachten kann. Genauso gut kann es sich aber bei einem Großteil der 45.000 Getöteten um unbeteiligte Zivilisten gehandelt haben. Untersuchungen über den Anteil ziviler Opfer im Irakkrieg und im Drohnenkrieg zeigen, dass auch bei Einsatz hochgelobter Präzisionswaffen nur ein kleiner Teil der dabei Getöteten feindliche Kämpfer waren. Wie die Menschenrechtsorganisation Reprieve ermittelte, wurden bei Drohneneinsätzen in Pakistan und Jemen für jede exekutierte Zielperson 28 zufällig anwesende Menschen ermordet, darunter auch viele Kinder. Meist beruht schon die Auswahl der Ziele auf recht vagen Kenntnissen mittels luftgestützter Überwachungs- und Aufklärungssysteme. Bei den aktuellen Einsätzen in Syrien und im Irak räumen US-Militärs selbst ein, dass ihre Analysten, die per Fernaufklärung die Zielauswahl vornehmen müssen, häufig überfordert sind.

Die Einteilung in Kombattant oder Zivilist zählt generell zu den Schwachpunkten bei der Dokumentation ziviler Opfer eines Konfliktes, da dies meist eine unabhängige Untersuchung vor Ort erfordern würde. Die Angreifer selbst zählen in der Regel alle Getöteten als Kämpfer, die Gegenseite als zivile Opfer. In Aleppo glauben westliche Medien und Nichtregierungsorganisationen gern und ungeprüft den Regierungsgegnern, in Mossul der US-Armee.

Da unter Airwars-Quellen zudem auch mehrere oppositionelle Gruppen, wie die Londoner "Beobachtungsstelle für Menschenrechte" und die "Weißhelme" sind, ist es nicht überraschend, dass der Initiative zufolge, Russland mehr Zivilisten getötet hat als die "Koalition". Sie macht die russische Luftwaffe für 1500 bis 8000 zivile Todesopfer zwischen September 2015 und Oktober 2016 verantwortlich. 3382 Opfer seien in "lokalen Medien" und auf "sozialen Netzwerken" namentlich genannt worden. Es sei bei vielen Opfern jedoch unklar, ob sie durch russische oder syrische Angriffe getötet wurden, und in rund 80 Fällen könnte es auch die "Koalition" gewesen sein.

Nach Angaben des russischen Generalstabs haben russische Kampflugzeuge schon in den ersten sieben Monaten mehr als 9500 Einsätze geflogen und dabei über 29.000 "terroristische Ziele" zerstört. Auch wenn die Einsätze häufig frontnah zur direkten Unterstützung der syrischen Armee erfolgen und dadurch mit wesentlich größerer Sicherheit tatsächliche militärische Ziele trafen, sind bei einer so großen Zahl von Angriffen auch hier Tausende Ziviltote wahrscheinlich. Wer weitere Tote verhindern will, der muss sich für ein Ende des Krieges einsetzen. Denn im Unterschied zur US-geführten Allianz haben die syrischen und russischen Streitkräfte kaum Alternativen. Eine Einstellung ihrer Angriffe ist keine Option, wenn sie nicht weite Teile Syriens islamistischen Terrorbanden überlassen und eine Entwicklung wie in Libyen zulassen wollen. Verlangen kann man nur größtmögliche Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung, Verstärkung ihrer Bemühungen um lokale Waffenruhen und sichere Korridore zur Evakuierung von Zivilisten aus den Kampfzonen.

Die USA und die EU hingegen könnten den Krieg rasch eindämmen, indem sie für die Einstellung jeglicher direkter und indirekter Unterstützung für die dschihadistischen Milizen sorgen, sowohl die eigene als auch die der Türkei und der arabischen Monarchien. Statt Mossul durch eine militärische "Befreiung" mittels großflächigem Bombardement und Bodentruppen, die von den sunnitischen Bewohnern als Feinde angesehen werden, genauso zu verwüsten wie zuvor Ramadi und Falludscha, könnten die USA und ihre Verbündeten den Daesch bekämpfen und entscheidend schwächen, indem sie dazu beitragen, ihn lokal zu isolieren und vom Nachschub abzuschneiden. Sie müssten eine effektive Schließung der Grenzen für seine Kämpfer durchsetzen und den Zufluss von Geld, Waffen, Material an ihn unterbinden sowie auf einen Ausgleich der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad mit den Sunniten drängen, die in ihm mehrheitlich noch das kleinere Übel sehen.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Neunzehnter Jahrgang, Nr. 25 vom 17. Dezember 2016, Seite 896-899
Herausgeber: Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Dr. Rolf Gössner,
Ulla Jelpke, Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo, Jürgen Krause (Korrektor)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Dezember 2016

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