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OSSIETZKY/913: Pervertierter Kapitalismus


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 15 vom 30. Juli 2016

Pervertierter Kapitalismus

Von Heinz-J. Bontrup


Die niedrigen Zinsen haben jetzt dazu geführt, dass Vermögende dem deutschen Staat ihr Geld anvertrauen und dafür Negativ-Zinsen akzeptieren beziehungsweise auf eine vollständige Rückzahlung ihres verliehenen Geldes verzichten. Die Rendite für eine zehnjährige Bundesanleihe sank erstmals unter null. Wie erklärt sich ein derartig pervertierter Kapitalismus, in dem Vermögende für ihren angeblichen Konsumverzicht durch Sparen nicht mehr mit einem Ertrag aus der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung entschädigt werden wollen?

Zunächst einmal sollte sich die Empörung darüber in Grenzen halten, dass Vermögende fürs Nichtstun keine Zinsen mehr erhalten. Der größte Teil des weltweit völlig ungleich verteilten Vermögens, das wissen wir endgültig durch den französischen Ökonomen Thomas Piketty, wurde nur geerbt. Erben haben für ihre Erbschaft selbst nichts geleistet. Zinsen sind zudem ein Ausbeutungs- und Umverteilungsinstrument, weil Zinsempfänger immer andere Menschen für sich arbeiten lassen. Schließlich muss hinter jedem Euro Zinsen menschliche Arbeitskraft in der einzig wertschaffenden produzierenden Realwirtschaft stehen, während die Finanzindustrie die Zinsen über den Banken- und Versicherungsapparat lediglich verteilt. Werden dabei die Gelder temporär nicht in der produzierenden Wirtschaft, sondern auch auf den hoch spekulativen Finanzmärkten in sogenannten Bank- und Versicherungsprodukten angelegt und "zwischengeparkt", ist es immer nur eine Frage der Zeit, bis die dadurch entstehende Vermögenspreisblase platzt. Wie naiv sind viele Menschen, die offensichtlich glauben, dass ihre Lebensversicherungen oder in Pensionsfonds angelegten Gelder für eine Rente sicher sind und sich völlig losgelöst von der produzierenden Wirtschaft verwerten lassen und Überschüsse abwerfen können. Nein, so funktioniert Wirtschaft nicht!

Entstanden ist die weltweite Überersparnis und Überschussliquidität (von dem herausragenden britischen Ökonomen John Maynard Keynes als "räuberische Ersparnis" bezeichnet), die jetzt für Null- und Negativ-Zinsen sorgt, durch eine neoliberal herbeigeführte gigantische Umverteilung von den Arbeits- zu den Kapitaleinkünften. Zu den letzteren zählen neben den Zinsen auch die Profite und Grundrenten (Mieten und Pachten). Sowohl in der marktbezogenen Primärverteilung an den Arbeitsmärkten als auch durch die staatliche Sekundärverteilung durch eine ungerechte Steuer- und Abgabenpolitik wurde einseitig zu Gunsten der Kapitaleinkünfte umverteilt. Überall sind dadurch in Folge sowohl die Brutto- als auch die Nettolohnquoten gesunken und die Profitquoten gestiegen. Dies hat schließlich einen gesamtwirtschaftlichen Teufelskreis ausgelöst. Die Umverteilung führte zu einer Wachstums- und immer mehr zu einer Produktivitätsschwäche mit Arbeitslosigkeit und prekarisierten Arbeitsverhältnissen, die in Summe eine weitere kontraproduktive Umverteilung zu Gunsten der Kapitaleinkünfte ermöglicht hat.

Es ist empirisch davon auszugehen, dass das heute weltweit bei wenigen konzentrierte Geld- und Finanzvermögen viermal so groß ist wie die reale Produktion an Gütern und Diensten. Das heißt, die ansteigenden Profit- und Zinsansprüche der Kapitaleigentümer müssen aus einer in Relation immer kleiner werdenden realen Produktion beziehungsweise Wertschöpfung befriedigt werden. Dies provoziert Verteilungskonflikte, die sich jetzt unter anderem in den negativen Zinsen entladen und zukünftig noch heftiger werden.

Was sind dazu die Alternativen? Erstens könnten die Arbeitseinkommen noch mehr sinken. Dies würde aber das eh schon nur schwache Wachstum weiter absenken, Arbeitsplätze vernichten und damit noch weniger Anlagemöglichkeiten für das Geld- und Finanzvermögen bedeuten. Zweitens könnten die Profite und Grundrenten (Mieten/Pachten) gesenkt werden. Dadurch würden noch mehr realwirtschaftliche Investitionen ausbleiben, und die Krise würde angeheizt. So muss die Europäische Zentralbank mit ihrer expansiven Geldpolitik helfen. Das verstehen viele nicht. Sie muss jedoch die in der Krise notleidend gewordenen Kredite der Schuldner, unter anderem die von Griechenland, vom Markt nehmen oder refinanzieren, was selbstverständlich wegen der damit verbundenen Ausweitung der Geldmenge unweigerlich die Zinsen senkt - aber gleichzeitig auch die vermögenden Gläubiger schützt. Sie verlieren so zumindest ihre Vermögensbestände nicht.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Neunzehnter Jahrgang, Nr. 15 vom 30. Juli 2016, Seite 545-547
Herausgeber: Matthias Biskupek, Daniela Dahn, Dr. Rolf Gössner,
Ulla Jelpke, Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo, Jürgen Krause (Korrektor)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2016

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