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OSSIETZKY/790: Wie steht die Justiz zum Rechtsstaat? (6)


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 3 vom 18. Januar 2014

Wie steht die Justiz zum Rechtsstaat? (6)

von Martin Lemke



Staatsräson vor Rechtsstaat - diese Tendenz zeigt sich auch in der mangelhaften justiziellen Bearbeitung rechtsextremer Gewalt. Schauen wir nach München, wo vor dem Oberlandesgericht der Prozeß um die mutmaßlichen Verbrechen des "Nationalsozialistischen Untergrundes" (NSU) läuft. Mehrere Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern waren und sind damit befaßt, das strukturelle Versagen der Sicherheitsbehörden und der Justiz in diesem Fall zu beleuchten. Es steht zu befürchten, daß dabei nicht viel herauskommt. Der Skandal wird keine angemessenen Folgen haben. Der rechte Terror des NSU konnte sich aufgrund der Blindheit, des reaktionären Weltbildes und der Orientierung auf Ruhe und Ordnung in den Diensten und den Justizbehörden zehn Jahre lang ungehindert ausbreiten - und das war nicht alles. In den zwei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung sind in der Bundesrepublik Deutschland 182 Menschen Opfer rassistischer Gewalt geworden - getötet von Rechtsextremisten und Neonazis. Betroffen waren Migranten, Asylsuchende, Obdachlose, Homosexuelle, Linke, couragierte Bürger, Antifas, Punker, Kneipenbesucher, Kinder, Gelegenheitsbekanntschaften und abtrünnige Skins. Die Justiz, vor allem die Staatsanwaltschaft, bestritt und bestreitet in der Mehrzahl der Fälle einen rechtsextremen oder nazistischen Hintergrund. Die Strafverfolger bemühen stattdessen als Ursachen Alkohol, jugendlichen Übermut, allgemeine Gewaltbereitschaft als Ursachen. In manchen Fällen hat die Polizei bei den Verbrechen sogar zugeschaut und erst spät oder gar nicht eingegriffen.

Die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden haben eine strukturelle, tief verwurzelte Bereitschaft offenbart, die tödliche rechtsextreme Gewalt in diesem Lande zu bestreiten, zu ignorieren oder kleinzureden. Damit machen sie deutlich, daß sich insofern nichts geändert hat. Auch in der Weimarer Republik zeichneten sich Richter und Staatsanwälte durch Nähe und Nachsicht gegenüber rechten Gewalttätern aus. Ihre Nachfolger scheinen daraus in ihrer Gesamtheit nichts gelernt zu haben. In den aktuellen Untersuchungsausschüssen haben polizeiliche Ermittler und zuständige Staatsanwälte forsch behauptet, sie hätten nicht unprofessionell gearbeitet, auch im Nachhinein hätten sie sich nichts vorzuwerfen. Angesichts der vielen Toten und der noch viel größeren Zahl von Verletzten sind solche Äußerungen unerträglich. Solange Nachdenklichkeit und Scham in den beteiligten Diensten und Behörden, bei Polizei und Justiz minoritär sind und Vertuschung den Vorzug vor Aufklärung erhält, bleibt als vorrangige Konsequenz die Abschaffung der Geheimdienste, vor allem des Verfassungsschutzes. Die Vernichtung von Akten und das V-Leute-Unwesen haben bestätigt, daß von diesen Diensten nichts Besseres als strukturell bedingte Unfähigkeit und Unwilligkeit zu erwarten ist.

Staatsräson vor Rechtsstaat - diese Tendenz zeigt sich nicht zuletzt im faktischen Ausfall der Strafverfolgung gegenüber Polizeibeamten. Die Justiz ist nicht in der Lage und weigert sich, Verfahren gegen beschuldigte Polizisten in gesetzmäßiger Weise durchzuführen. Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt enden fast nie mit einer Verurteilung. Tobias Singelnstein von der Freien Universität Berlin hat diese Praxis untersucht. Im Jahre 2008 gab es ausweislich der polizeilichen Kriminalstatistik in der Bundesrepublik Deutschland 2314 strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt, aber nur 94 Anklagen mit 322 Verurteilungen; in vier Prozent der angezeigten Fälle wurde Anklage erhoben, in knapp 1,4 Prozent der Fälle wurden Täter verurteilt. 98,6 Prozent der Verfahren wurden eingestellt. In einem Drittel der Fälle angezeigter Polizeigewalt konnte ein Beschuldigter nicht einmal ermittelt werden. Die verletzten Opfer polizeilicher Gewalt, also die Anzeigeerstatter, haben oft nur wenige oder keine Anhaltspunkte für die Identität des Polizisten. Häufig werden mehrere Beamte gleichzeitig eingesetzt, oder es treten gleich Hundertschaften auf, bei Demonstrationen die Bereitschaftspolizei und die sogenannten Beweis- und Festnahme-Einheiten. Aufgrund ihrer Vermummung und ihrer einheitlichen Schutzkleidung und mangels Kennzeichnung sind diese Beamten schwerlich zu identifizieren.

Ein weiteres strukturelles Problem der Verfolgung polizeilicher Gewalt liegt darin, daß die Ermittlungen von der Polizei selbst durchgeführt werden. In Verfahren gegen Kollegen entwickelt sie keinen Eifer, sondern begnügt sich mit dem lapidaren Hinweis der Vorgesetzten, in ihrer Einheit habe kein Beschuldigter ermittelt werden können. Falls die Hürde der Identifizierung doch genommen wird, ergibt sich zumeist eine schwierige Beweislage. Aussage steht gegen Aussage. Niemals finden sich Polizisten, die als Tatzeugen gegen ihre Kollegen aussagen. Das Kartell des Schweigens funktioniert perfekt. Korpsgeist, innerpolizeilicher Druck und die Angst, als "Kameradenschwein" zu gelten, tun ihre Wirkung. Wenn überhaupt einer aussagt, geschieht das nur, um beschuldigten Kollegen zu helfen, sie zu decken oder zu entlasten. Dieses Verhalten findet nach meiner Erfahrung immer die Billigung der Vorgesetzten. Häufig werden Angaben und Aussagen in Dienstbesprechungen aufeinander abgestimmt.

Daß ein Polizist beschuldigt und identifiziert wird und daß ihm konkrete Handlungen zugeordnet und nachgewiesen werden können, ist also eine Seltenheit. Die beschuldigten Beamten befinden sich zudem in einem institutionellen und häufig auch persönlichen Näheverhältnis zu den ermittelnden Staatsanwälten. Man kennt sich, man arbeitet zusammen, man hilft einander. Man hat die gleichen Gegner und oft gemeinsame Überzeugungen. Zudem gelten Aussagen von Polizeibeamten bei den Staatsanwaltschaften und den Gerichten als besonders glaubwürdig. Angeblich sind sie als Berufszeugen allen anderen überlegen. Verteidiger wissen, daß das nicht stimmt; es gibt dafür keine empirischen Belege. Im Ergebnis steht aber nun auf der einen Seite die derartig geadelte Aussage des beschuldigten Beamten; um sie zu erschüttern und den Polizisten zu überführen, muß also auf der anderen Seite der geschädigte Bürger Beweise beibringen, an die die Staatsanwaltschaft und das Gericht von vornherein erhöhte Anforderungen stellen. Hinzu kommt, daß Staatsanwälte und Richter, unabhängig vom jeweiligen Geschehen, von der Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns ausgehen. Der prügelnde Polizist braucht also nicht mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen, sondern kann sich auf die Justiz, auf seine Justiz verlassen.

Für die Anzeigeerstatter endet die Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt häufig fatal. Regelmäßig überzieht die Polizei sie mit Gegenanzeigen wegen Widerstandes und auch wegen Körperverletzung. Es kommt dann häufig zu Gerichtsverfahren und zu Verurteilungen. Und noch schlimmer: Sind Verfahren gegen Polizisten eingestellt, erhebt die Staatsanwaltschaft - so erlebe ich es regelmäßig in Hamburg - Anklage gegen die Anzeigeerstatter: Nunmehr stehe ja fest, daß es sich um eine falsche Verdächtigung gehandelt habe. Leider finden sich immer noch Richter, die solche Anklagen zulassen und die Opfer von Polizeigewalt wegen falscher Anschuldigung verurteilen. In Hamburg werden mehr Polizei-Opfer wegen falscher Verdächtigung verurteilt als umgekehrt Polizisten wegen Körperverletzung im Amt. Niemals ist die Justiz erfolgreicher und der Rechtsstaat schwächer als bei Verfahren gegen die eigenen Leute, seien es Polizisten, Staatsanwälte oder Richter. Staatsräson vor Rechtsstaat eben.

Damit endet Martin Lemkes Serie über Justiz und Rechtsstaat.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Siebzehnter Jahrgang, Nr. 3 vom 18. Januar 2014, Seite 87 bis 89
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Dr. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2014