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OSSIETZKY/1026: Es droht kein Kalter Krieg


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 21 vom 27. Oktomber 2018

Es droht kein Kalter Krieg

von Ralph Hartmann


Im Geheimen, unerwartet und damit völlig überraschend trafen sich die Staats- und Regierungschefs der 32 europäischen Länder sowie der USA und Kanadas und verabschiedeten einstimmig ein spektakuläres Dokument. Darin heißt es: "Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden [...] Nun, da Europa am Beginn eines neuen Zeitalters steht, sind wir entschlossen, die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit [...] auszuweiten und zu festigen sowie die Freundschaft zwischen unseren Völkern zu fördern [...] Zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer, umweltbezogener, kultureller und humanitärer Probleme haben wir die feste Absicht, den politischen Konsultationsprozess zu verstärken und die Zusammenarbeit zu erweitern. Diese gemeinsame Entschlossenheit und die wachsende gegenseitige Abhängigkeit werden dazu beitragen, das jahrzehntelange Misstrauen zu überwinden, die Stabilität zu festigen und ein geeintes Europa aufzubauen."

Bedauerlicherweise fand das Treffen nicht dieser Tage statt, sondern am 21. November 1990 in Paris, und geheim war es nicht. Die zitierten Sätze stammen aus der "Charta von Paris für ein neues Europa". Lang, lang ist es her! Wenn heute von Europa gesprochen wird, dann endet es nicht mehr am Ural, sondern an der russischen Westgrenze zwischen St. Petersburg und Rostow. Russland bleibt ausgeschlossen. Aber nicht nur das, es gibt bekanntlich auch noch andere kleine Veränderungen. Unter der Maxime, was kümmern uns die feierlichen Worte und die Zusagen von 1990, hat sich der friedfertige NATO-Pakt Schritt für Schritt Russland genähert und sichert den europäischen Frieden an dessen Grenzen. Raketenabwehrsysteme in Rumänien und in Polen helfen, das elende "Gleichgewicht des Schreckens" aus der bedrohlichen Balance zu bringen. Wer wie Jugoslawien aus der Reihe tanzte, für den hatte man einige treffsichere Bomben und Marschflugkörper sowie albanische Freiheitskämpfer, denen das serbische autonome Gebiet Kosovo verdientermaßen geschenkt wurde. Wie total anders und brutal verhielt sich Russland gegenüber der Krim, die mittels eines Referendums ihrer Bewohner und ohne einen einzigen Schuss heim ins russische Reich geholt wurde, dem es seit der Herrschaft von Katherina der Großen mehr als anderthalb Jahrhunderte angehört hatte (vgl. Ossietzky 20/2018). Eine solche Missetat, unsere Kanzlerin nannte sie verständlicherweise eine "verbrecherische Annexion", musste unweigerlich mit schweren Sanktionen geahndet werden.

So kam denn, was kommen musste. Die Friedensbotschaft von Paris, mit der das Ende des Kalten Krieges verkündet worden war, ist vergessen, und es mehren sich die Stimmen, die gar meinen, der Kalte Krieg drohe zurückzukehren. Bereits im April fragte das ZDF besorgt: "Droht ein neuer Kalter Krieg?" Der Kommentator, der NATO-Experte Christian Mölling, wollte aber davon nicht sprechen. Dagegen meinte der Journalist Marc Beise zwei Monate später in der Süddeutschen Zeitung: "Heute ist die Gefahr real, dass der Kalte Krieg zurückkehrt." Wer hätte das gedacht? Freilich gibt es in jüngster Zeit zwischen den NATO-Staaten und Russland kleine Reibereien, die das internationale Klima ein wenig mehr eintrüben.

Polen zum Beispiel hat die Vereinigten Staaten Mitte September ersucht, auf seinem nationalen Boden eine permanente US-Militärbasis zu stationieren. Warschau, so der polnische Präsident Andrzej Duda, sei bereit, die Kosten - zwei Milliarden Dollar - zu übernehmen. US-Präsident Donald Trump erklärte kurz danach, Washington ziehe Warschaus Bitte ernsthaft in Betracht. Die russische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Der russische Vize-Außenminister Alexander Gruschko verurteilte das Vorhaben entschieden. Er betonte, dass die NATO-Russland-Grundakte "die permanente Stationierung wesentlicher Kampfkräfte" in Osteuropa verbiete. Der Bau des Stützpunktes zerstöre die Grundakte. Zugleich warnte er vor einem explosiven Gemisch aus "feindlicher Propaganda, feindlicher Politik und feindlicher Militärplanung".

Einen Monat zuvor waren Details zum NATO-Großmanöver "Trident Juncture 2018" bekannt geworden, das vom 25. Oktober bis zum 7. November 2018 in Norwegen, auch in Nähe zur russischen Grenze, statffindet. Mit mehr als 44.000 teilnehmenden Soldaten sowie etwa 130 Flugzeugen, 70 Schiffen und mehr als 10.000 Fahrzeugen ist es die größte Militärübung der NATO seit 1990. Die Bundeswehr stellt mit rund 10.000 Uniformierten, mit 30 Kampfpanzern vom Typ "Leopard 2", 75 Schützenpanzern der Modelle "Marder" und "Boxer" sowie zehn "Panzerhaubitzen 2000" eines der größten Kontingente.

Mit enormem Eifer und immensen Investitionen bereiten sich die NATO-Staaten und Russland auf einen Cyber-Krieg vor. Einen kleinen Vorgeschmack gab es Anfang Oktober, als eine Lawine von Anschuldigungen der USA, Großbritanniens, der Niederlande und Kanadas auf Russland stürzte, dessen Militärgeheimdienst für eine weltweite Serie bösartiger Cyber-Angriffe verantwortlich sein soll. Russland wies die Vorwürfe als Medienkampagne, der sich auch die Bundesrepublik angeschlossen hatte, zurück. Wenig später berichtete die Sunday Times, dass das britische Verteidigungsministerium massive Hackerattacken auf Energieversorgungssysteme in Russland erwäge, um auch "dem Kreml das Licht abzudrehen". Das geschehe allerdings nur im Falle einer Aggression Moskaus.

Während einer Zusammenkunft mit US-amerikanischen Energie-Lobbyisten Ende September sprach US-Innenminister Ryan Zinke von einer Seeblockade gegen Russland - um die Energieversorgung im Nahen Osten wie in Europa zu kontrollieren. Wörtlich erklärte er: "Die Vereinigten Staaten haben diese Fähigkeit mit unserer Marine, um sicherzustellen, dass die Seewege offen sind, und, wenn nötig, um zu blockieren." (https://deutsche-wirtschaffts-nachrichten.de) Moskau reagierte umgehend. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Alexej Puschkow, erklärte knapp und klar: "Eine US-Blockade gegen Russland wäre gleichbedeutend mit einer völkerrechtlichen Kriegserklärung." (https:/deutsch.rt.com)

Nahezu zeitgleich drohte die US-Botschafterin bei der NATO, Kay Bailey Hutchison, auf einer Pressekonferenz im NATO-Hauptquartier in Brüssel Russland mit Militärschlägen. Moskau entwickle neue Waffensysteme, mit denen es den Vertrag von 1987 über nukleare Mittelstreckensysteme verletze, der noch zwischen der Sowjetunion und den USA geschlossen wurde. Als ein Journalist fragte, was die USA dagegen zu unternehmen gedenken, verzichtete die US-Gesandte auf diplomatische Wortakrobatik und erklärte unmissverständlich: "Die Gegenmaßnahme wäre, die Raketen auszuschalten [...] Sie wurden in Kenntnis gesetzt." Dieses Mal reagierte das Mitglied des Verteidigungs- und Sicherheitsausschusses im russischen Föderationsrat Franz Klinzewitsch: "Es entsteht der Eindruck, dass das US-Establishment verrückt geworden ist. [...] Vor einigen Tagen drohte der US-Innenminister Russland mit einer Seeblockade, und jetzt schloss die US-Botschafterin bei der NATO Schläge gegen russische Raketenkomplexe nicht aus. Aber meine Damen und Herren - das wäre doch Krieg! Verstehen Sie das etwa nicht?" (https.//de.sputniknews.com)

Die Charta von Paris über die Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung in Europa und die Beendigung der Ost-West-Konfrontation wurde vor 28 Jahren feierlich unterzeichnet. Mittlerweile kräht kein Hahn mehr nach ihr. Sie bleibt ein historisches Dokument in den Archiven der internationalen Politik, und wenn es beliebt, kann sie auch als Altpapier geschreddert werden. Droht nun, wie viele fragen, ein neuer Kalter Krieg? Mitnichten. Er ist längst im vollen Gange. Was droht, das ist ein heißer Krieg mit unvorstellbaren katastrophalen Folgen für unseren verwundbaren kleinen Planeten und die gesamte Menschheit.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Einundzwanzigster Jahrgang, Nr. 21 vom 27. Oktober 2018, S. 744-747
Redaktion: Haus der Demokratie und Menschenrechte
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2018

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