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MARXISTISCHE BLÄTTER/607: Ist der Transhumanismus eine Real-Utopie? - Visionen und Kritik


Marxistische Blätter Heft 6-15

Ist der Transhumanismus eine Real-Utopie?
Visionen und Kritik

Von Helga E. Hörz und Herbert Hörz


Utopien sind Wunschträume der Menschen von einer glücklichen Zukunft ohne Krieg und Naturkatastrophen, in der Kooperation statt Konfrontation vorherrscht, Wissenschaft und Technik dem Wohl der Menschen dienen und gleiche Rechte für alle Menschen gelten. Dabei ist zwischen Ideal- und Real-Utopien zu unterscheiden. Ideal-Utopien sind Illusionen, bis entsprechende Bedingungen herangereift sind. Langfristige Strategien ergeben sich aus Real-Utopien. Visionen, umgesetzt in anschauliche, realisierbare und für die Mehrheit annehmbare Ideale, bewirken Aktivitäten über Motivationsschübe. Stufenprogramme ergänzen sie. Die wissenschaftlich-technische Entwicklung ist ein wesentlicher und prägender Faktor unserer zukünftigen Lebensweise. Oft schon wurden Visionen als erdachte Zustände und Prozesse Wirklichkeit. Flugzeuge, Fernsehen, Roboter, Internet waren Denkspiele, ehe sie realisiert wurden. Der Transhumanismus denkt über die Evolution der Menschheit nach und entwickelt Programme zur Realisierung einer Menschheit 2.0. Ist er eine Real-Utopie mit entsprechenden Visionen? Wenn ja, dann sind die daraus sich ergebenden Konsequenzen für unser aktuelles Handeln abzuleiten. Gehen wir deshalb zuerst auf das Programm des Transhumanismus mit seinen Visionen und Positionen ein, um dann die Frage zu beantworten, ob wir einen neuen Humanismus brauchen. Dazu sind die mit dem Transhumanismus verbundenen Probleme zu benennen und zu erklären, was zu tun ist.

Zum Programm des Transhumanismus

Transhumanismus bedeutet jenseits des Humanismus. Theoretisch soll begründet werden, dass mit der künstlichen Intelligenz (KI) es möglich sein wird, neue, möglichst unsterbliche, Menschen zu schaffen. Der iranisch-amerikanische Futurist F.M. Esfandiary betonte 1989, dass es mit neuen Technologien möglich sei, länger zu leben. Als Transhumanist nannte er sich FM 30, da er meinte bis 2030, seinem 100. Geburtstag zu leben. Er verstarb 2000 an einem Tumor, ließ sich am Sitz der Alcor Life Extension Foundation, einer kryonischen Organisation in Arizona, einfrieren. Er war überzeugt, wieder zum Leben erweckt zu werden. 2012 wurde berichtet, dass ein russischer Medienmogul für die Entwicklung holografischer menschlicher Avatare in Gestalt von Gehirn-Computer-Schnittstellen zwecks Erhalt von Bewusstseinsinhalten über den Tod hinaus um finanzkräftige Unterstützung bat. Avatare sind künstliche Personen oder Grafikfiguren (Hologramme). Nach dem Programm der "Transhumanisten wird der zukünftige Mensch ein Avatar sein. (Hörz, H.E., Hörz, H. 2014)

2014 erschien das Buch von Ray Kurzweil "Menschheit 2.0. Die Singularität naht." Der Autor ist US-amerikanischer Autor, Erfinder, Futurist, "Director of Engineering" bei Google und einer der Theoretiker des Transhumanismus. Die propagierte "Singularität" ist das Entstehen der Menschheit 2.0, hervorgerufen durch die KI-Forschung. Ist das möglich? Die wissenschaftlich-technische Revolution führte dazu, dass (1.) die Menschen aus dem Fertigungsprozess materieller Güter heraustreten, Steuerungs- und Kontrollfunktionen übernehmen, mit Auswirkungen auf die soziale Struktur der Gesellschaft. Soziale Roboter werden entwickelt, die nicht nur mechanisch Arbeit verrichten, sondern mit den Nutzern kommunizieren. Es findet (2.) eine Revolution der Denkzeuge statt. Internet, soziale Netzwerke, auch Kommunikation zwischen Maschinen, bei denen Kühlschränke melden, was fehlt und die Waschmaschine den Trockner auf die kommende Wäsche vorbereitet, zeigen das. Heute sind die Mächtigen nicht nur die Besitzer von Produktionsmitteln, sondern auch die, die über Informationen und Finanzen verfügen. Medizintechnik, Reproduktionsmedizin usw. machen (3.) den Menschen zum Artefakt. Die Lebensqualität kann erhalten, erhöht oder wieder hergestellt werden. Denken wir dabei an die Verbesserung der Sehfähigkeit, an Hörhilfen, an Computer-Hirn-Schnittstellen, die den Menschen ein lebenswertes Leben ermöglichen.

Diese Entwicklung wird von Transhumanisten weiter gedacht. Zukünftige Menschen sollen als Mensch-Maschine-Wesen, als Cyborgs, also kybernetische Organismen, als Avatare nach dem natürlichen Tod weiter leben. Avatar kommt aus dem Sanskrit. Avatára ist "Abstieg" und bezeichnet das Absteigen der Gottheit in die irdische Welt. Nach der Vision der Transhumanisten besteht die Menschheit 2.0 aus unsterblichen Avataren. Vorbilder für diese Denkspiele gibt es. In der Erzählung "Avatar" von Théophile Gautier aus dem Jahr 1857 ist der Avatar als phantastische Figur ein lebensmüder, dem totalen Nihilismus verfallener Mann. Er tauscht die Seele mit einem anderen, verliebt sich leidenschaftlich in dessen Frau und fragt dann nach dem Ich. Der durch Seelentausch ermöglichte Wechsel der Person ist in heutigen Visionen mancher Transhumanisten mit der Entwicklung von Avataren als virtuellen Akteuren oder neuen Menschen mit künstlicher Intelligenz verbunden. Der Film "Avatar - Aufbruch nach Pandora" von 2009 spielt im Jahr 2154. Die Rohstoffe der Erde sind erschöpft. Auf dem erdähnlichen Mond Pandora, wo ein begehrter Rohstoff abgebaut wird, kommt es zu Konflikten mit der dort lebenden Spezies, die sich gegen die Zerstörung ihrer Umwelt wehrt. Ein wissenschaftlich fundiertes Avatar-Programm soll helfen. Ein US-Marine wird mit einem künstlichen Körper der Einwohner ausgestattet, um als Avatar, durch Gedankenübertragung gesteuert, Kontakt zu den Ureinwohnern herzustellen und sie davon überzeugen, ihre Heimat und den Widerstand gegen den Abbau aufzugeben. Er stellt sich dann auf die Seite der Einwohner und kämpft gegen die Ausbeuter und Eroberer.

Die Horrorvision vom digitalisierten Menschen findet Entsprechungen auch in Büchern. So erschien in mehreren Auflagen der Thriller von Daniel Suarez "DAEMON. Die Welt ist nur ein Spiel." Dem herrschenden DAEMON, dem disc and execution monitor, kann keiner entkommen, da alle miteinander vernetzt sind. Manipulierung und Mord werden durch Informationen in vorbereiteten Szenarien ausgelöst. Als Gegenspieler zu den gegen die Herrschaft der Computer kämpfenden Menschen tritt ein ehemaliger SS-Offizier als Avatar auf, der ständig humane Bestrebungen durchkreuzen will. Ein fast nur noch aus künstlichen Organen bestehender Mensch wird in seinem Kampf gegen ihn zum fanatischen Zerstörer von Menschen und Gütern. Literarisch zugespitzt warnt man uns vor der Herrschaft der Computerprogramme. Ein Vertreter des DAEMON stellt gegenüber den Verteidigern des bisherigen Systems fest, dass es dem Untergang geweiht sei. Was biete diese Gesellschaft denn seiner Generation? "Ein sinnloses Dasein. Ein langes, langweiliges Leben, in dem man jeden Tag von Leuten gemolken wird, die einem etwas verkaufen. Ein Leben als Herdenvieh einer dauerhaft herrschenden Klasse. Was soll ich mit dieser Gesellschaft, ihren Gesetzen, ihrem Versagen?" Der DAEMON habe das längst hinter sich gelassen. (Suarez 2012a, S. 563) Es soll, so der Autor im folgenden Band "Darknet", eine neue Ordnung entstehen, die Wohlstand und Nachhaltigkeit garantiere, die Macht besser verteile und so Freiheit bringe. Der DAEMON würde "für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgen, aber was für eine Ordnung das ist, bestimmen wir." (Suarez 2012b, S. 98) Ist das alles nur Science Fiction?

In einem umfangreichen Artikel schilderte im Juni 2014 die Welt am Sonntag was schon geschieht: "Cyborgs sind bald keine Vision mehr. Augen mit Zoomfunktion und künstliche Arme sollen den Menschen optimieren. Sogar die Leistungsfähigkeit des Gehirns ließe sich mit Technikhilfe enorm steigern. Für Ethiker ein Horror." (Jüngling 2014, S. 62) Es wird auf Hightech-Prothesen verwiesen, mit denen Gelähmte Kirschen greifen können, ohne sie zu zerquetschen und die Form von Gegenständen erfassen. Militärisch-industrielle Komplexe könnten Robotersoldaten entwickeln. Drohnen, die gezielt Menschen vernichten, sind schon im Einsatz. Der Horror ist berechtigt, wenn die wissenschaftlich-technische Entwicklung zum Schaden der Menschen statt zum Wohl der Menschheit genutzt wird.

Positionen und Visionen zur Menschheit 2.0

Die Zeitschrift GEO vom März 2015 zeigte als Titelbild den sozialen Roboter "Curi" mit dem Titel: "Bald sind Maschinen intelligenter als wir. Werden sie Freund oder Feind?" Aus den Interviews mit den auf dem Gebiet der KI Forschenden ergeben sich Fragen nach der Verantwortung für die durch autonome künstliche Systeme verursachten Schäden, nach der möglichen militärischen Nutzung und dem Datenschutz. "Sobald die Maschinen-Intelligenz der menschlichen überlegen ist", erwartet einer der Befragten "etwas Neues. Smarte Systeme, glaubt er, werden dann das Interesse an uns Menschen verlieren." (Geo 2015, S. 127) Nick Bostrom schrieb: "Ein existenzielles Risiko liegt vor, wenn das auf der Erde entstandene intelligente Leben vom Aussterben bedroht ist oder die Gefahr besteht, dass sein zukünftiges Entwicklungspotenzial zumindest dauerhaft und drastisch beschnitten wird." Sie könne eintreten, wenn eine Superintelligenz über das bisherige Leben auf der Erde entscheidet, nicht-menschliche Ziele hat und sich Ressourcen aneignet. Das könnte "zur raschen Vernichtung der Menschheit führen". (Bostrom 2014, S. 164 f.) Um sie zu kontrollieren sei "eine Reihe von Regeln oder Werten zu definieren, die bewirken sollen, dass selbst eine 'freigelassene' superintelligente KI ungefährlich und nutzbringend handelt." (ebenda, S. 97)

In seinem interessanten Buch "Robokratie" geht Thomas Wagner ausführlich auf die Roboter als die "besseren Menschen", auf Ray Kurzweil und den Oxford-Professor Nick Bostrom, ein. Er berichtet vom Soziologen und Regierungsberater Anthony Giddens, der Mitglied des House of Lords ist und sowohl Kurzweil einen Auftritt vor der London School of Economics, als auch Bostrom vor dem britischen Oberhaus verschaffte. Dieser erzählte von seinem Buch zur Superintelligenz und dass die Maschinen in Zukunft die Intelligenz der Menschen ebenso übertreffen würden, wie die Menschen heute die Affen. Giddens fragte ihn nach dem Eintreffen der Singularität. Bostrom antwortete, "dass heute niemand genau wisse, wie weit die dazu notwendigen Entwicklungen schon fortgeschritten seien. In dem Moment, in dem die Singularität stattfinde, würde es sich um die bedeutendste Sache handeln, die jemals in der menschlichen Geschichte geschehen sei, verbunden mit enormen Gefahren." (Wagner 2015, S. 170 f.)

In einem Interview bemerkte der israelische Universalhistoriker Yuval Harari im Februar 2015: "Was für mich feststeht: Die größte Revolution der nächsten 100 Jahre wird das Menschsein selbst betreffen. Bei all den historischen Veränderungen der Menschheit war bislang eine Sache statisch: Wir. Wir hatten die gleichen Körper, mehr oder weniger die gleichen Gehirne, die gleichen physischen und kognitiven Fähigkeiten. Das wird sich verändern. Wie? Es gibt so viele unterschiedliche Möglichkeiten: Biotechnik, direkte Mensch-Computer-Schnittstellen, die Erschaffung künstlichen Lebens, künstliche Intelligenz oder eine Kombination aus allem." (Harari 2015, S. 2) Ist das so und wie stehen wir dazu? Welche Visionen haben Transhumanisten?

Ist der Mensch durch seine Gehirnfunktionen definiert, wäre die Zukunftsgestaltung auf Gehirne mit Nährlösungen zu orientieren. Die Weiterführung der "Gehirnemulation", verbunden mit Eugenik (Bostrom 2014, S. 51ff.), ermöglicht es. Die natürliche Variante posthumaner Evolution ersetzt den aktiv tätigen Menschen. Ist die Zukunft eine durch Gehirne gesteuerte Roboterwelt? Wenn sich Menschen den selbst geschaffenen Artefakten unterordnen, könnte der Fall eintreten. Der Schein menschlicher Steuerung bliebe erhalten, doch der Mensch würde, wenn sich die geschaffenen informationsverarbeitenden Systeme selbst genügen, auszuschalten sein. Die Fortpflanzung der menschlichen Gattung wäre nicht erforderlich, da die Gehirne ersetzbar wären. Das Horrorszenario könnte auf zweifache Art beendet werden. Vernunftbegabte Wesen aus dem Weltall wären in der Lage, die künstliche Robotergemeinschaft unter ihre Kontrolle zu bringen. Weiter wären Effekte bei der Arbeit mit natürlichen Organismen durch synthetische Biologen als Roboter möglich, die natürliche vernunftbegabte Wesen durch Zufall hervorbringen. Eine neue Herrschaftselite entstünde, die die Roboter wieder unter ihre Kontrolle bringt.

Transhumanismus sieht die Zukunft in Superhirnen mit Hologrammen (Avatare). Das ist die unvollständige technische Variante der Evolution. Diese Pseudowelt, bevölkert durch Avatare, würde, wie in einem Computerspiel, sich selbst genügen. Außensteuerung gäbe es nicht mehr. Der Mensch wäre beseitigt. Durch die Hologramme würde die Erinnerung an ihn wach gehalten. Der vollständige KI-Weg würde mit der Superintelligenz beschritten, der Menschen und Hinweise auf sie nicht mehr braucht.

Was ist realisierbar? Der Aufruf des russischen Milliardärs Dmitri Itskov von 2011 führte zur Initiative 2045 mit einem umfassenden Avatar-Projekt:

  • Avatar A: 2015-2020: "A robotic copy of a human body remotely controlled via BCI (Brain-Computer-Interface)", also ein Roboter mit einer Hirn-Computer-Schnittstelle.
  • Avatar B: 2020-2025: "An Avatar in which a human brain is transplanted at the end of one's life." Es wird ein menschliches Gehirn in ein künstliches transplantiert.
  • Avatar C: 2030-2035: "An Avatar with an artificial brain in which a human personality is transferred at the end of one' s life." Das Kunsthirn umfasst die menschliche Persönlichkeit.
  • Avatar D: 2040-2045: "A hologram-like avatar." Das Ergebnis ist ein unsterblicher Avatar.

In der kritischen Auseinandersetzung mit diesem Programm sind zwei Aspekte wichtig:

  • Erstens sind die möglichen Gefahren zu beachten, wenn die Entwicklung neuer Technologien nicht humanorientiert, sondern technozentriert erfolgt. Das führt zu der Frage, ob wir unserer Verantwortung beim Einsatz neuer Technologien gerecht werden. (Hörz, H. 2012) Es ist der Tendenz zur Entmenschlichung entgegenzuwirken, doch die Entwicklung von Möglichkeiten zur Erhöhung der Lebensqualität, zu ihrem Erhalt und zu ihrer Wiederherstellung zu fördern.
  • Zweitens sollten wir über Horrorvisionen möglicher technischer Entwicklungen nicht die aktuellen Probleme vergessen. Nina Hager machte 2009 darauf aufmerksam, dass die ökonomische Basis einer künftigen Gesellschaft für die Transhumanisten keine Rolle spielt. Über die Richtung notwendiger Gesellschaftsveränderung werde nicht gesprochen, da die Transhumanisten in ihren Gesellschaftsauffassungen entweder direkt an den heute vorherrschenden neoliberalen Vorstellungen anknüpfen oder einen "utopischen Sozialismus" vertreten. Insofern dürfe man sich nicht von der Analyse relevanter Widersprüche abbringen lassen. (Hager 2009)

Beide Aspekte sind in der Auseinandersetzung zu beachten, weil die transhumanistische "Entmenschlichung" keine sozialen Konflikte beseitigt und das Wesen des Menschen negiert. Die Superintelligenz mit einem Hologramm als Menschheit 2.0. ist eine Real-Utopie für Milliardäre, die sich den technologischen Aufwand leisten könnten, doch dafür ihr Menschsein aufgeben. Insofern ist für uns der Transhumanismus eine Horrorvision.

Brauchen wir einen neuen Humanismus?

Humanismus ist ein Programm zur Befreiung der Menschheit aus Not, Unterdrückung und Ausbeutung. Es fordert dazu auf, Bedingungen für den umfassenderen Freiheitsgewinn der Menschen zu schaffen. Er ist Situationsanalyse, Anforderungsstrategie und Bewertung. Mit Humankriterien ist zu messen, was schon erreicht wurde, was zu tun ist und wie weit eine Gesellschaft wirklich human ist. Dieses Programm ist bei weitem nicht abgearbeitet. Sich dafür einzusetzen gehört zur Verantwortung als Pflicht zur Beförderung der Humanität.

Karl Marx betonte, dass "der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!" (Marx 1976, S. 385) Geht heute manchmal Tierschutz vor Menschenschutz?

Visionen als Zukunftsbilder können zielorientiert auf die aktive Umgestaltung gegenwärtiger Zustände gerichtet sein. Passive Erwartungen auf den Erhalt des Bestehenden oder die Hoffnung auf Veränderungen durch irgendwelche wirkenden Kräfte, auch als Schicksal bezeichnet, gehören dazu. Sozialisten streben in ihren Visionen mit der Weltveränderung eine Weltverbesserung an. Sie kämpfen für eine humanistische Zukunft, für Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Freiheit ist die humane Gestaltung der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt sowie des eigenen Verhaltens. Humanität umfasst die dafür existierenden oder zu schaffenden Bedingungen. Sozialistische Theorien analysieren die Strukturen in sozialen Systemen mit ihren Herrschaftsverhältnissen und die möglichen Bündnisse der sozialen Kräfte, die eine Veränderung der Zustände zu einer humanen sozialistischen Gesellschaft vorantreiben könnten. Marx und Engels entwickelten Grundzüge eines humanistischen Programms schon im Kommunistischen Manifest. Eine Demokratie ist erforderlich, in der die Mehrheit des Volkes, die Produzenten des Reichtums, ihre Lebensbedürfnisse mit den von ihnen geschaffenen Gütern befriedigen können. Gegen die Kritik, damit das Eigentum und die persönliche Freiheit aufzuheben, verwahren sie sich entschieden. Sie bemerkten zur angestrebten Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung in der kommunistischen Gesellschaft: "Unter Freiheit versteht man innerhalb der jetzigen bürgerlichen Produktionsverhältnisse den freien Handel, den freien Kauf und Verkauf. Fällt aber der Schacher, so fällt auch der freie Schacher. Die Redensarten vom freien Schacher, wie alle übrigen Freiheitsbravaden unserer Bourgeoisie, haben überhaupt nur einen Sinn gegenüber dem gebundenen Schacher, gegenüber dem geknechteten Bürger des Mittelalters, nicht aber gegenüber der kommunistischen Aufhebung des Schachers, der bürgerlichen Produktionsverhältnisse und der Bourgeoisie selbst." (Marx, Engels 1959, S. 476) In der neuen demokratischen Gesellschaft soll der Mehrheit das von ihr Geschaffene auch zu Gute kommen. "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." (Marx, Engels 1959, S. 482)

Diese humanistische Herausforderung, die den Einsatz gesellschaftlicher Kräfte erfordert, negiert der Transhumanismus. Er bezieht das Wesen des Menschen einseitig auf seine Denktätigkeit. Marx betonte: "Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse." (Marx 1969, S. 6) Menschen, unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Weltanschauung, Lebensweise, sind ihrem Wesen nach Ensemble konkret-historischer gesellschaftlicher Verhältnisse und globaler natürlicher Bedingungen in individueller Ausprägung, die sich als Einheit von natürlichen und gesellschaftlichen, materiellen und ideellen, rationalen und emotionalen, bewussten, unterbewussten und unbewussten Faktoren erweist, die ihre Existenzbedingungen bewusst immer effektiver und humaner gestalten. Sie sind keineswegs nur durch ihre Gehirnfunktionen bestimmt, sondern eine Einheit von Körper mit Sinnesorganen und Gliedmaßen zur Umweltgestaltung, Bewusstsein als Widerspieglung und Psyche als Regulationszentrum individuellen Verhaltens. Menschen sind Theoretiker (homo sapiens), Gestalter (homo faber) und Spieler (homo ludens). Sie sind Genuss-, Sexual- und Moralwesen. Informationen als widerspiegelnde und steuernde Struktur führten in der biotischen Evolution bis zur spezifisch menschlichen Form der Wirklichkeitsaneignung durch das Bewusstsein. Mit Sprache und Bewusstsein schaffen sich Menschen ihre Wirklichkeit, die sie über Ideale, Werte und Normen gestalten. Sie bauen auf Erfahrungen und theoretische Einsichten. Dieser ganzheitliche Mensch als Einheit von Körper, Bewusstsein und Psyche ist durch den Transhumanismus in seiner Leiblichkeit bedroht. Der Mensch, der sich die Wirklichkeit materiell-gegenständlich aneignet, der sich in der Praxis des Lebens körperlich betätigt, sei es in der Arbeit und in der Freizeit, als Hobby in der Werkstatt, in der Küche und im Garten, wird in Frage gestellt. Das sozial organisierte Naturwesen Mensch wird durch ein Kunstprodukt ersetzt. Das ist wirklich jenseits des Humanismus, denn es werden wesentliche Identitätsmerkmale des Menschseins beseitigt.

Was tun?

In den Grundsätzen einer neomodernen Ethik, die Traditionen ethischer Theorien bis zur Moderne mit der klassischen Aufklärung, als auch die kritischen Hinweise der Postmoderne berücksichtigt, betonen wir, dass der Transhumanismus bei der Suche nach realisierbaren Ansätzen für die humane Gestaltung der Zukunft keine Problemlösungen bietet. Es wird die mögliche humane Gestaltung wissenschaftlich-technischer Entwicklung entweder ignoriert, da deren Humanpotenziale vernachlässigt sind, oder man flüchtet in einen Bereich, der die Erfahrung übersteigt. Damit ist ein gedanklicher, doch kein wirklicher Ausweg angeboten. Die kapitalistische Globalisierung mit freiem Kapitalfluss und Marktwirtschaft schreitet weiter voran. Ungezügelte Märkte verschärfen die sozialen Konflikte. Sozialabbau ruft ebenso Protestbewegungen hervor, wie rigide Sparpolitik. Eine lokale oder regionale geplatzte soziale Bombe kann zu einem umfassenderen Flächenbrand werden. Orientiert sich die Ethik mit ihrem Menschenbild allein an der neoliberalen Sicht auf Menschen als "Humankapital", das von den Besitzern der Produktions-, Informations- und Finanzmittel profitbringend zu verwerten ist, dann ist sie für ihre Profiteure sicher zeitgemäß. Wir halten sie jedoch für unmenschlich und fordern eine den gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklungsbedingungen entsprechende humane Ethik. (Hörz, H.E., Hörz, H. 2013, S. 11) Eine neue Aufklärung ist ebenso wichtig, wie das Bündnis aller Humanisten bei der Durchsetzung des unvollendeten humanistischen Programms.

Deshalb sind (1.) die Humankriterien in Auseinandersetzung mit dem Menschen als verwertbarem Humankapital als Zielstellung mit den entsprechenden Bündnispartnern durchzusetzen. Dazu gehören: die gesellschaftliche Garantie einer sinnvollen Tätigkeit, persönlichkeitsfördernde Kommunikation, Bedingungen für Entwicklung der Fähigkeiten des Individuums, die Erhöhung der Lebensqualität mit Frieden, Obdach, Nahrung und Bildung, Integration Behinderter und Kampf gegen Diffamierungen und soziale Ausgrenzung; (2.) sind Tendenzen der Entmenschlichung, in Visionen der Transhumanisten ausgedrückt, entschieden zurückweisen. Technologieentwicklung ist humanorientiert statt technozentriert zu gestalten. Beim Programm des Humanismus geht es darum, jedem Menschen zu ermöglichen, seinen Glücksanspruch verwirklichen zu können; (3.) das vorhandene situative und theoretische Utopie-Defizit ist zu überwinden. (Hörz, H.E., Hörz, H. 2013, S. 404-422) Dazu bedarf es in der politischen Programmatik einer Strategie im Sinne einer Real-Utopie für eine zukünftige humane Gesellschaft; (4.) eine Weltkultur als erforderliche Ergänzung zur Weltzivilisation hätte das Ziel, humane Bedingungen für die Existenz aller Menschen, trotz sozio-kultureller Unterschiede, zu sichern. Grundforderungen sind: Erhaltung der Menschheit als Gattung und ihrer natürlichen Existenzbedingungen, friedliche Lösung von Konflikten, Toleranz gegenüber anderen Wertegemeinschaften und Erhöhung der Lebensqualität aller Glieder der menschlichen Gesellschaft.


Helga E. Hörz, Prof. em. Dr. sc. phil., Berlin, Fachgebiete: Ethik, Philosophie und Psychologie

Herbert Hörz, Prof. Dr. phil. habil. Dr. h.c., Berlin, Fachgebiete: Philosophie und Physik


Literatur

Bostrom, Nick (2014), Superintelligenz. Szenarien einer kommenden Revolution. Berlin: Suhrkamp-Verlag.

GEO (2015), Künstliche Intelligenz, Geo o3, März 2015, S. 108-127.

Hager, Nina (2009), Über den Transhumanismus zur "posthumanen Gesellschaft"? in: Marxistische Blätter 5/2009.

Harari, Yuval (2015), Wir werden gewaltige Ungleichheiten erleben. (Interview)
http://www.sueddeutsche.de/digital/universalhistoriker-yuval-harari-wir-werden-gewaltige-ungleichheiten-erleben-1.2337102

Hörz, Helga E., Hörz, Herbert (2013), Ist Egoismus unmoralisch? Grundzüge einer neomodernen Ethik. Berlin: trafo Wissenschaftsverlag.

Hörz, Helga E., Hörz, Herbert (2014), Transhumanismus: Ist der zukünftige Mensch ein Avatar? In: Welf Schröter (Hg.), Identität in der Virtualität. Einblicke in neue Arbeitswelten und "Industrie 4.0" - Beiträge zum 60. Geburtstag eines Netzwerkers. Talheimer Verlag, Mössingen 2014, S. 242-285.

Hörz, Herbert (2012): Werden wir der Verantwortung für den Einsatz moderner Technologien gerecht?
(http://www.leibniz-institut.de/archiv/hoerz_01_08_12.pdf).

Jüngling, Thomas (2014), Unter die Haut. Welt am Sonntag Nr. 23. 8. Juni 2014. S. 62 f.

Kurzweil, Ray (2014), Menschheit 2.0. Die Singularität naht. Berlin: Lola books.

Marx, Karl, Engels, Friedrich (1959), Manifest der Kommunistischen Partei. Marx, Engels Werke, Band 4. Berlin. Dietz-Verlag, S. 459-493.

Marx, Karl (1969), Thesen über Feuerbach, Marx, Engels Werke, Band 3. Berlin. Dietz-Verlag, S. 5-7.

Marx, Karl (1976), Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, Marx, Engels Werke, Band 1. Berlin. Dietz-Verlag, S. 387-391.

Suarez, Daniel Suarez (2o12a), DAEMON. Die Welt ist nur ein Spiel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag.

Suarez, Daniel Suarez (2012b), Darknet. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag.

Wagner, Thomas (2015), Robokratie. Google, das Silicon Valley und der Mensch als Auslaufmodell. Köln: PapyRossa Verlag.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-15, 53. Jahrgang, S. 84-93
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. April 2016

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