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MARXISTISCHE BLÄTTER/606: Die Aufhebung der Utopie durch Ernst Bloch


Marxistische Blätter Heft 6-15

Die Aufhebung der Utopie durch Ernst Bloch

Von Martin Küpper


Die Verwendung und Auslegung des Utopie-Begriffs ist seit Thomas Morus einer weitverzweigten und widersprüchlichen Geschichte unterworfen. Zum Ausklang der Französischen Revolution wird Utopia das Wunschland von Gracchus Babeuf, Charles Fourier und Henri de Saint-Simon. Ihre Entwürfe ragen in die Zukunft. Anders als Morus, der 1516 mit seinem Roman das Bild einer vollkommenen Gesellschaft zeichnete, haben sie ihren Gesellschaftsentwürfen einen vorläufigen Charakter verliehen. Sie fragten nach den konkreten Arbeitsverhältnissen und der Doppelbödigkeit der bürgerlichen Werte und Ideale ihrer Zeit. Auf dieser Grundlage schuf Saint-Simon eine Klassenkampftheorie und Fourier seine Zivilisationskritik.(1) Die Verwirklichung dieser Utopien stand aus und hing davon ab, ob die Menschen dafür etwas tun würden. Das ist der - trotz aller Unterschiede im Detail - gemeinsame Nenner der sogenannten Frühsozialisten.

Diese Utopien fanden schließlich europaweiten Anklang. Eduard Gans, Freund und Anhänger Hegels, nahm sie auf und verbreitete sie. Als Professor an der Juristenfakultät hielt er zwischen 1828-1838 Vorlesungen an der Berliner Universität, in denen er Hegels Grundideen mit denen der Frühsozialisten zu verbinden suchte.(2) Einer seiner Studenten dieser Zeit war der junge Karl Marx, der die von Gans herausgegebene und kommentierte zweite Auflage der Hegelschen Rechtsphilosophie als Grundlage für seine Kritik derselben(3) nutzte.(4) Marx blieb einige Zeit im Bann der Frühsozialisten. Der Einfluss ihrer Utopienauffassung hallt noch nach, als er 1843 an Arnold Ruge schreibt:

"Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins [...]. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit."(5)

Fünf Jahre später scheint sich das Verhältnis Marx< und auch Engels zum Frühsozialismus radikal gewandelt zu haben. Im Manifest der Kommunistischen Partei heißt es:

"Die Bedeutung des kritisch-utopistischen Sozialismus und Kommunismus steht im umgekehrten Verhältnis zur geschichtlichen Entwicklung. In demselben Maße, worin der Klassenkampf sich entwickelt und gestaltet, verliert diese phantastische Erhebung über denselben, diese phantastische Bekämpfung desselben allen praktischen Wert, alle theoretische Berechtigung. Waren daher die Urheber dieser Systeme auch in vieler Beziehung revolutionär, so bilden ihre Schüler jedesmal reaktionäre Sekten. Sie halten die alten Anschauungen der Meister fest gegenüber der geschichtlichen Fortentwicklung des Proletariats. [...] Sie träumen noch immer die versuchsweise Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Utopien."(6)

Die Ereignisse der gescheiterten 1848er Revolution und die Erfahrungen mit den Parteigängern der Frühsozialisten, ließen Marx und Engels erkennen, dass die gesellschaftlichen Interessenwidersprüche, die sich in den konkreten Klassenverhältnissen ausdrücken, zum Hauptgegenstand ihrer Analysen werden müssen. Die Einsicht in die Veränderung der Gesellschaft, wie sie die bürgerliche Aufklärung erfolgreich vertrat, genügte nicht mehr. Die Einsichten der Frühsozialisten waren die Produkte ihrer Zeit, in der der Kapitalismus zum Totengräber des Feudalismus wurde. Nun konnte nur der organisierte Kampf des Proletariats und seiner Bündnispartner, deren Konturen nun deutlicher wurden, die Kraftquelle für die Verwirklichung eines glücklichen Lebens im Sozialismus sein.

Mit seiner in mehrere Sprachen übersetzten und in zahllosen Auflagen gedruckten Broschüre Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft hatte Engels 1880 die theoretische Neuerung konzise zusammengefasst, die der Utopie der Utopisten die konkrete Analyse des Kapitalismus entgegensetzte. Die Schrift erhielt eine immense Bedeutung für die Herausbildung des Marxismus und gilt gemeinhin als dessen anti-utopischer Grundstock, da seitdem utopische Entwürfe außerhalb der Literatur und Kunst grundlegend diskreditiert schienen und auch verschwanden.

Aber nicht nur, dass es Engels gar nicht um die vollständige Disqualifizierung des Utopischen ging, auch wird völlig vergessen, dass der theoretischen Praxis der Utopisten nach Babeuf, Fourier und Saint-Simon der gesellschaftliche wie wissenschaftliche Boden entzogen war. Engels bemühte sich, die Frühsozialisten historisch einzuordnen und zugleich ihre Anhänger zu ermahnen. Fourier sei es hervorragend gelungen, die ideelle und materielle Doppelbödigkeit der Bourgeoisie aufzudecken.(7) Nur die detailgetreue Auspinselung der kommunistischen Zukunft konnte nicht fortgesetzt werden, da die Bilder sich nicht unmittelbar in Geschichte umsetzen ließen: "Wir können es literarischen Kleinkrämern überlassen, an diesen, heute nur noch erheiternden Phantastereien feierlich herumzuklauben (...). Wir freuen uns lieber der genialen Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle überall hervorbrechen und für die jene Philister blind sind."(8) Marx und Engels bemühen sich, den Topos der Utopie vom Wunschbild einer würdevollen, glücklicheren Welt, die sich aus der Differenz zur geschichtlichen Lage speist, in der Verknüpfung des historisch Möglichen mit dem alltäglichen Klassenkampf aufzuheben.

Die vermeintlich anti-utopische Wendung bei Marx und Engels prägte die Utopie-Diskussion im Marxismus in zweierlei Hinsicht. Gerade, als die reale Umsetzung der utopischen Inhalte greifbar wurde, erschienen utopische Gehalte fragwürdig. Nach erfolgter Konsolidierung der Verhältnisse beispielsweise in der DDR, aber auch in der Sowjetunion, schien der Entwurf einer besseren, glücklicheren Gesellschaft den Nutzen der Tagesanstrengungen in eine ferne Zukunft zu entwerfen, was nur bedingt den tagespolitischen Anforderungen entsprach. Für Lothar Kühne galt es deshalb praktikable utopische Gehalte aus der jeweils konkreten Gegenwart zu gewinnen, denn "die letzte Figur der Mächte der Vergangenheit ist ihre Erscheinung als Theoretiker der Zukunft. Wo eine Negation objektiv erfordert ist, wird Prophetik geboten, die ihre Akribie im Detail zu beweisen sucht. (...) Und darin hat die Vergangenheit Macht über die Lebenden."(9)

Der wesentliche Inhalt sozialer Utopien ist andererseits häufig das Fehlen von Eigentum oder Produktionsverhältnissen, in denen es noch Herr und Knecht gibt. Darin liege jedoch ein Gefahrenpotenzial. Erscheine in der Utopie nicht der objektive Grund für das Wunschbild, die (Klassen-)Verhältnisse und ihre Auswirkungen gegen die sie sich wendet, könne sich die Intention oder objektive Funktion der Utopie als Verschleierung der gegenwärtigen Verhältnisse entpuppen. Sie entschwebt dann von ihrem realen Mutterboden und bleibt abstrakt, indem sie einen besseren Zustand des Jetzt lediglich imaginiere. Die Verwirklichung des Utopischen droht so, nur die immer gleiche Wiederholung der Gegenwart zu sein, da ihr gesellschaftlicher Grund nicht angetastet wird.

Die Rückbesinnung auf utopische Gehalte und Quellen wurde daher in beiden Kontexten allzuoft als bürgerliche Ideologieproduktion gedeutet, wofür die Rezeption und der Umgang mit Bloch in der DDR und in der BRD ein exemplarisches Beispiel abliefern.

Blochs Lebenswerk bestand vor allem darin, Utopie zum philosophischen Begriff zu erheben und den dafür notwendigen Topos enzyklopädisch auszuschreiten.(10) Methodischer Ausgangspunkt ist für Bloch eine anthropologische Annahme, die jedoch nicht das "Wesen" des Menschen definiert oder den Menschen völlig der Geschichtlichkeit anheimstellt, sondern anhand der Utopie das Verhältnis der Menschen zu ihrer Wirklichkeit herausarbeiten möchte.

Das utopische Moment menschlicher Praxis, also der ständige Vorgriff auf die Zukunft, den jeder Einzelne und die Gattung Mensch zu bewältigen hat, ist immer aus Mangel und Not geboren. Im Jetzt fehlt ständig etwas. Der Mangel will getilgt werden: "Die Not lehrt Denken, Werkzeuge bereiten, Feuer schlagen, Hütten bauen. Not lehrte den Zusammenschluss der Menschen zur Horde, zur Gemeinschaft, zum Staat."(11) Die Not kann in verschiedenen Praxisweisen aufgelöst werden, was Bloch in einer Systematik der Triebe, Affekte und Wünsche bis hin zur Charakteristik von Tagträumen darstellen möchte. Der Trieb suche etwas Fehlendes durch etwas Anderes auszugleichen, so etwa den Hunger durch Nahrung. Mit dem Erreichen des Ziels sei dieser, zumindest vorübergehend, gestillt. Darin unterscheide sich der Mensch nicht vom Tier. Der qualitative Sprung sei vielmehr durch die Fähigkeit des Wünschens von Etwas gekennzeichnet, denn der Mensch lege "sich die mehr oder minder bestimmte Vorstellung seines Etwas zu, und zwar als eines besseren Etwas".(12) Sich etwas wünschen ist daher insofern unbestimmt, als im Gegensatz zum Wollen noch keine Arbeit oder Tätigkeit damit verbunden ist. Die Wünsche können völlig unrealistisch sein und weiterhin Bestand haben. Etwas zu wollen, binde sich hingegen an die praktische Realisierung des Gewollten, an die bewusste Planung der Realisierung, auch wenn damit nur die Suche nach dem Verwirklichungsweg verbunden sei. Die Stufen der Systematik lässt Bloch aber nicht einander ablösen oder das menschliche Handeln, gar Geschichte aus evolutionären Grundmustern des Menschen ableiten. Sie heben sich gegenseitig auf. Denn es lasse sich "letzthin nichts anderes wollen als Gewünschtes".(13)

Ihren Ausdruck findet diese Bedürfnisdialektik im Alltäglichen, vor allem in den Tagträumen, die für Bloch das reflexive Reservoir zur Formierung utopischer Gehalte, gar ganzer Sozialutopien bilden. In ihnen tauchen - anders als im Nachttraum - "frei wählbare und wiederholbare Gestalten" auf; im Tagtraum könne man "schwärmen und faseln, aber auch sinnen und planen".(14) Dort kreuzen sich Wollen und Wünschen, das heißt es wird vorweggenommen, was noch nicht ist und das kann den Anfang einer Handlung bedeuten, die der Tendenz nach wirklich werden könne, indem sie die Vermittlung mit der Realität sucht. Der Tagtraum ist indes noch abstrakt utopisch, denn einerseits sind die Inhalte unentschieden, können sich vom Künstlerischen bis zum Politischen erstrecken. Andererseits sind sie auf den Träumenden gerichtet, wie Bloch in einem Beispiel erläutert:

"So ein Angestellten ein bedrückter kleiner Mann, geht nach Hause nach des Tages Last und Müh aus dem Büro. Was der auf seinem Nachhauseweg träumt, das geht weit über die Hutschnur des üblichen sittlichen Bewußtseins. Wie wär's, wenn er seine Frau umbrächte? [...] Wie wär's, wenn, wenn, wenn ...? Das alles sind kleine Tagträume, jämmerliche, private Utopien mit egoistischem Inhalt, in eine Zukunft hineinprojiziert, die gar keine echte Zukunft ist, sondern nur für ihn als Zukunft erscheint, aber eigentlich nichts anderes ist als das bisherige Leben, das sich nur besser rentieren soll."(15)

Doch mitnichten steht diese dialektisch-anthropologische Struktur außerhalb des Wirklichen als reine Spintisiererei. Die Grundlage der Tagträume speist sich aus den Verhältnissen, in denen diese auftauchen und sie können, insofern sie geprüfte, reale Möglichkeiten sind, der Wirklichkeit wiederum ihren Stempel aufdrücken. Sie sind durch ihre Unentschiedenheit vor allem eins: formbar.

In Erbschaft dieser Zeit (1935) machte Bloch darauf aufmerksam, dass dieser Zusammenhang von den Kommunisten zu wenig in den Fokus ihrer politischen Arbeit gerückt wurde und ein Grund ihrer Niederlage war. Wendezeiten, in denen sich die Widersprüche einer Gesellschaft derart zuspitzen, dass das gültige Wertesystem durch ein anderes abgelöst wird, bringen nicht nur verstärkt Utopien, sondern auch reaktionäre Bewusstseinsformen wie Aberglauben, Antisemitismus oder Rassismus hervor. Den Nazis sei es schließlich gelungen, an den Scheidepunkten und den politischen Tagträumen der Unentschiedenen anzusetzen und ihren Einfluss zu vergrößern: "Die Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber nur von Sachen."(16)

Zum utopischen Bewusstsein oder besser: zur konkreten Utopie erheben sich die Tagträume dann, wenn zur Hoffnung auf Wunscherfüllung die Vernunft hinzutritt:

"Erst wenn Vernunft zu sprechen beginnt, fängt die Hoffnung [...] wieder an zu blühen. Das Noch-Nicht-Bewußte selber muss seinen Akt nach 'bewußt', seinem Inhalt nach 'gewußt' werden [...]. Und der Punkt ist damit, wo gerade die Hoffnung, dieser eigentliche Erwartungseffekt im Traum nach vorwärts, nicht mehr nur als selbstzuständliche Gemütsbewegung auftritt, sondern 'bewußt-gewußt'."(17)

Das utopische Bewusstsein versucht also zwischen der theoretischen Abbildung und dem möglichen praktischen Eingreifen zu vermitteln. Im Proletariat und seinen Bündnisklassen sieht Bloch diese Verklammerung des subjektiven Faktors mit den objektiv gesellschaftlichen Tendenzen in besonderer Weise gegeben.(18)

Die konkrete Utopie und ihre Förderung richtet sich also nicht mehr auf die Verbesserung des eigenen, privaten Lebens, sondern versucht die Tendenzen der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung darzustellen und die Einsatzpunkte aufzuzeigen, an denen Veränderungen initiiert werden können. Die Utopie ist dann nicht das virtuelle Ende, sondern der defizitäre Beginn, den es aufzuheben gilt. Marxismus wird so Tendenzwissenschaft, die den Anspruch vereint, nicht nur in erkenntnistheoretischer Abstinenz eine Theorie neben anderen, sondern praktisch relevant zu sein. Wenn Kommunismus die "wirkliche Bewegung" ist, "welche den jetzigen Zustand aufhebt",(19) dann liefert Blochs Aufhebung der Utopie einen methodischen Zugang für den Kampf um die Zukunft.


Martin Küpper, Berlin, Student der Philosophie, Koordinator der Berliner Grundorganisation der Gesellschaft für dialektische Philosophie


Anmerkungen

(1) Vgl. Werner Röhr: Der reale Mutterboden der Utopie, in: Hermann Kopp (Hg.): Wovon wir träumen müssen Hamburg 2013, S. 167-174.

(2) Vgl. Eduard Gans: Naturrecht und Universalrechtsgeschichte. Vorlesungen nach G.W.F. Hegel, hg. von Johann Braun, Tübingen 2005.

(3) Vgl. MEW 1, S. 203-333.

(4) Vgl. Hermann Klenner: Herr und Knecht bei Hans Heinz Holz, in: Gesellschaft für dialektische Philosophie/DKP Berlin (Hg.): Hans-Heinz-HoIz-Tagung 2015. 170 Jahre Thesen über Feuerbach von Karl Marx, Salzburg 2015, S. 22.

(5) MEW 1, S. 346.

(6) MEW 4, S. 491.

(7) Vgl. MEW 19, S. 196.

(8) Ebenda, S. 194.

(9) Lothar Kühne: Zu einem Umriß kommunistischer Kultur des gesellschaftlichen Raumes, in: Haus und Landschaft. Aufsätze, Dresden 198S, S. 13.

(10) Ernst Bloch: Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe Band 5, Frankfurt/Main 1969, S. 13-21 (Bände der Gesamtausgabe im Folgenden zit. GA).

(11) Silvia Markun: Ernst Bloch. Monographie, Halle 2010, S. 110.

(12) GA 5, S. 50.

(13) Ebenda, S. 51.

(14) Ebenda, S. 96.

(15) Rainer Traub/Harald Wieser (Hg.): Gespräche mit Ernst Bloch, Frankfurt/Main 1975, S. 42.

(16) GA 8, S. 153.

(17) GA 5, S. 163.

(18) Vgl. ebenda., 168f.

(19) MEW 3, S. 35.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-15, 53. Jahrgang, S. 60-65
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2016

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