Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


MARXISTISCHE BLÄTTER/590: Die Gefahr eines europäischen Krieges wird unterschätzt


Marxistische Blätter Heft 2-15

Die Gefahr eines europäischen Krieges wird unterschätzt

Ein Gespräch mit Reiner Braun von Lothar Geisler


MBl: Worin siehst Du derzeit die Hauptaufgaben der Friedensbewegung angesichts des Ausmaßes und der Komplexität, in der sich Kriege und Militarisierung global ausweiten?

Reiner Braun: Da wir als Friedensbewegung weitestgehend reaktiv sind, reagieren wir auf die Politik der herrschenden Eliten, der politischen Klasse. Die Hauptaufgabe bleibt, Kriege zu stoppen und zu verhindern. Bundeswehrsoldaten sind weltweit an 17 Militäreinsätzen beteiligt. Daraus resultieren für mich aktuell drei Kernpunkte, um die wir uns kümmern müssen. Erstens: Die Ukraine. In der Dramatik unterschätzen wir den Konflikt noch. Das tagtägliche Morden, die erkennbare Ausweitung und Intensivierung des Krieges und die steigende Militarisierung des Konflikts auf allen Seiten beinhaltet die Gefahr eines europäischen Krieges. Waffenlieferungen, die es ja jetzt schon vom Westen und aus Russland für die jeweilige Seite gibt und die ausgeweitet werden sollen, erhöhen die Eigendynamik des Konfliktes hin zum einem "großen Krieg". Diese Formulierung taucht übrigens in NATO-Dokumenten auf. Zugespitzt formuliert: Die USA spielen damit, Russland in großem Umfang in diesen Konflikt hineinzuziehen, was einen Krieg in europäischen Dimensionen bedeuten würde, den man sich dann irgendwann auch ganz schwer ohne Atomwaffen vorstellen kann. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung titelte am 25.1.: "Atomwaffen wieder im Spiel." Das ist also kein Alarmismus, wir haben als Friedensbewegung die Funktion der Warnung und der Aufklärung. Klartext ist unsere Verantwortung, mehr Klarheit ist gegen die offizielle Politik der Desinformation aber auch gegen Verharmlosungen "in den eigenen Reihen" notwendig. Damit bin ich beim zweiten Punkt. Der heißt ganz eindeutig NATO. Das Kettenglied kriegerischer Entwicklung und des Militarismus ist die NATO. Daher steht für mich als zweite Aufgabe: NATO abschaffen, überwinden - in welcher Form, darüber kann man diskutieren. Aber das Militärbündnis NATO muss auf den Müllhaufen der Geschichte befördert werden. Und als drittes: Wir werden eine ganz große Debatte über die Entwicklung des Rüstungshaushalts bekommen. Also weitere Aufrüstung im eigenen Land?! Ich muss nicht näher ausführen, dass das immer mit weiterem Sozialabbau, Bildungsstopp und ähnlichem verbunden ist. Wir müssen uns jetzt schon darauf einstellen, dass es im Herbst im geplanten neuen Bundesetat erstmals seit langem wieder einen dramatischen Anstieg der Rüstungsausgaben geben wird. Das wären aus meiner Sicht drei Kernaufgaben, wobei ich betonen muss: wir sollten niemals die Atomwaffen vergessen, als über uns schwebendem Damoklesschwert, das unseren gesamten Planeten vernichten kann.

MBl: Wir erleben seit Jahren, dass das Menschenrecht als Grund für jeden noch so schmutzigen Militäreinsatz bemüht wird und das Völkerrecht - als Versuch das Recht des militärisch Stärkeren in den internationalen Beziehungen einzuschränken - mit Füßen getreten wird. Welchen Stellenwert hat das noch in der Friedensbewegung? Wächst da auch Völkerrechtsnihilismus? Kann die Friedensbewegung ihn sich leisten?

Reiner Braun: Eisenhower hat im Oktober 1945 gesagt "There can be no peace without law". Das bringt es auf den Punkt. Die Friedensbewegung kann sich überhaupt keinen Völkerrechtsnihilismus leisten. Natürlich gibt es berechtigtes Misstrauen wegen der permanenten Verstöße gegen das Völkerrecht, vor allem, wenn diejenigen, die es brechen, sich selbst darauf berufen. Aber die Grundsubstanz ist unumstritten, da haben wir in der Friedensbewegung andere Probleme. Was ist denn eigentlich Recht? Recht ist gewonnene Erkenntnis, die sich in Machtkonstellationen durchgesetzt hat. Völkerrecht ist nichts Statisches. Das verändert sich vor- und rückwärts. Je nach Kräfteverhältnis und Machtkonstellation. Wir stellen uns dem und wir verteidigen das Recht, das im Grundgesetz und in der UN-Charta geronnen ist, gegen alle, die es negieren. Wenn nicht das Recht des ökonomisch oder militärisch Stärkeren gelten soll, dann kann nur das Recht gelten, das die Schwächeren schützen soll. Gegen das Recht des Stärkeren steht die Stärke des Rechts. Von daher ist für mich die Verteidigung des Rechts auch immer die Verteidigung von emanzipatorischen Positionen, die einmal in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen erkämpft worden sind. Wir müssen auch immer mal wieder darauf verweisen, was da schon alles festgelegt wurde. Wer kennt denn noch das Gewaltverbot der UN-Charta? Wer weiß denn noch, dass die UN-Charta uns alle verpflichtet nur nach friedlichen Lösungen für Konflikte zu suchen? Wir haben ja in Deutschland jetzt die aktuelle Debatte um den 'Parlamentsvorbehalt' - eine wirklich kleine Errungenschaft, die bedeutet: kein Militäreinsatz ohne Bundestagsbeschluss. Aber selbst das will die CDU killen. Unsere Aufgabe ist also: Recht verteidigen und in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ausbauen.

MBl: Die Friedensbewegung ist seit Jahren mit einem Widerspruch konfrontiert zwischen der Zunahme an Kriegen und Militäreinsätzen, einer erstaunlich stabilen Bevölkerungsmehrheit, die Auslandseinsätze der Bundeswehr ablehnt, was sich allerdings nicht in gleichem Maße in Bewegung ausdrückt. Wo siehst Du Gründe für diese Mobilisierungslücke?

Reiner Braun: Bewegungen lassen sich nicht befehlen, sie entwickeln sich im Zusammenspiel verschiedener gesellschaftlicher Komponenten. Von daher kann man immer nur nachdenken, wie man Prozesse unterstützen kann. Ich bin geradezu begeistert, dass diese deutsche Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit die Lehren aus zwei großen Kriegen gezogen hat. Das ist ja auch nicht ganz selbstverständlich, dass es gegen die intensive Propaganda der letzten Jahre so klare Antikriegsmehrheiten in der Bevölkerung gibt. Das halte ich für eine ganz große Errungenschaft, zu der die Friedensbewegung mit beigetragen hat. Das ist ein großes Faustpfand.

Was die Frage nach der 'Mobilisierungslücke' angeht, gibt es objektive und subjektive Faktoren. Zu den ganz entscheidenden objektiven gehört der Neoliberalismus mit all der Individualisierung, Subjektivierung, Unsicherheit, mit all den ungeheuren Belastungen für die sozialen Mittelschichten, die ja ein wesentlicher Träger der Friedensbewegung waren. Es ist schwieriger, sich zu engagieren. Als ich Student war, war das einfacher, denn wir hatten einen kulturellen Freiraum. Wer heute studiert, hat diesen Freiraum nicht mehr. Der Leistungs- und Konkurrenzdruck ist dramatisch gestiegen, in Schule, Studium und in der Arbeitswelt. Das sind die heutigen, schwieriger gewordenen objektiven Rahmenbedingungen jeder sozialen Bewegung. Wenn wir aber auch über subjektive Gründe nachdenken, kommen wir nicht daran vorbei, unsere eigene Tätigkeit sehr, sehr kritisch zu beleuchten. Ich will es mal bewusst zugespitzt formulieren, dann kann man besser diskutieren: Wir sind als Friedensbewegung überaltert und verkrustet. Wir sind in tradierten Formen festgefahren. Wir fühlen uns auch in unserer Nische wohl, machen hin und wieder gute Veranstaltungen und das war's dann. Wir gehen nicht mehr zu den Menschen. Wir haben den Kontakt zu den Menschen weitestgehend verloren, anders als die Montagsmahnwachen, die diesen Kontakt über lange Zeit Montag für Montag gesucht haben. Wir beschäftigen uns viel zu viel mit uns selbst, mit unseren internen Konkurrenzeleien und Kleinkariertheiten. Und wir tragen auch eine gewisse Mutlosigkeit mit uns herum, wie man in diesem Friedenswinter sehen konnte, eine Mutlosigkeit sich Aktionen und Aktivitäten zuzutrauen und dafür zu kämpfen, selbst wenn man am Anfang nicht weiß, ob man erfolgreich sein kann. Die Niederlage haben wir schon vorher in den Augen. Stillhalten und Papierbewegen ist oft die Konsequenz. Bei diesen zugespitzten Formulierungen gibt es sicher Positive Ausnahmen. Wie z. B. die Kampagne gegen Rüstungsexporte, die bei dem Thema ideenreich am Ball bleiben.

MBl: Wie erklärst Du Dir das?

Reiner Braun: Das hat natürlich damit zu tun, dass wir uns an den harten Mauern des Kapitalismus und des Krieges wundgerieben haben. Viele der Aktivisten machen das seit 20, 30 oder mehr Jahren und haben natürlich nicht immer noch den gleichen Enthusiasmus wie früher. Unsere Schwäche resultiert also aus einer komplexen Reihe objektiver und subjektiver Faktoren. Das Neue ist, dass sich im Frühjahr 2014 seit zwei Jahrzehnten jetzt erstmals neben uns bzw. unabhängig von uns etwas bewegt und eigene Strukturen entstanden sind, die der Friedensgedanke bewegt. Das hat uns alle überrascht. Die Frage war: wie reagieren wir darauf? Ich habe da ganz starke Kritik auch an uns selbst, weil wir den Generationswechsel nicht geschafft und viel zu viel Kraft nach innen gerichtet haben. Aber wir sind gerade im Begriff Änderungen vorzunehmen.

MBl: Mehr oder weniger spontane Massenbewegungen entwickeln sich doch immer wieder, z. B. beim Irak-Krieg sogar weltweit in einem beeindruckenden Ausmaß und mal mehr, mal weniger vernetzt mit "etablierten" Bewegten.

Reiner Braun: Meine Kritik ist, dass wir es nicht geschafft haben, den spontanen Aufschwung z.B. beim Irak-Krieg für längerfristiges Engagement zu nutzen. Was natürlich auch mit der Schwäche der traditionellen politischen Linken zu tun hat. Sie ist heute weniger aktionsorientiert, was auch mit parlamentarischen Erfolgen zu tun hat. Die Parlamentsarbeit absorbiert viel Kraft. Nach meinem Eindruck hat das Engagement der LINKEN in der Friedensbewegung abgenommen. Und wir haben - was man nicht vergessen darf - nicht wenige ehemalige Friedenskämpfer verloren. Jugoslawien 1999 war auch für die Friedensbewegung ein erheblicher Einschnitt. Viele Menschen, die sich der SPD und den Grünen verbunden gefühlt haben, standen durch deren Politik plötzlich im Lager der Kriegskräfte. Das hat uns gelähmt. Das hat uns Mitstreiter gekostet, plus Einfluss in gesellschaftlichen Großorganisationen wie den Gewerkschaften und auch den Kirchen. Auch das hat zu der Situation beigetragen, mit der sich die Friedensbewegung heute auseinanderzusetzen hat. Unsere Hauptschwäche ist: wir sind weggekommen von den Menschen. Wir sind nicht mehr nah bei ihnen. Ernsthafte Frage: wann hat die Friedensinitiative X oder Y den letzten Infostand gemacht? Wir haben fast vollständig das Plakatieren eingestellt. Ist das wegen Internet nicht mehr nötig?

MBl: Um nicht nur von Schwächen zu reden, ist es nicht gerade eine Stärke der Friedensbewegung, dass sie sich auf eine zum Teil über Jahrzehnte gewachsene, relativ stabile und an verschiedensten Themen aktive Infrastruktur von Initiativen, Komitees, Publikationen stützen und verlassen kann. Das ist ja auch ein Pfund für jeden spontanen Bewegungsaufschwung, wenn es erfahrene und kompetente FriedensaktivistInnen gibt. Muss man nicht einfach die Zusammenarbeit besser koordinieren und manchmal auch inhaltlich konzentrieren?

Reiner Braun: Meine kritischen Worte zur Friedensbewegung sind nur die eine Seite. Es gibt zwei Sachen, die man immer positiv hervorheben muss. Erstens: die ungeheuer gute Vernetzung, die Vielzahl von Organisationen und immer wieder auch Aktivitäten und Aktionen. Und zweitens, die riesige Kompetenz, die sich da entwickelt hat. Diese Punkte sind ganz wichtig, auch wenn wir über Montagsmahnwachen diskutieren. Das sind Pfunde, die wir in jede Debatte einbringen können. So ein Netzwerk von Friedensinitiativen gibt es - wenn ich da in unsere Nachbarländer schaue - in kaum einem anderen Land. Wir sind jeder gesellschaftlichen Debatte gewachsen. Nicht dass es so aussieht, als ob ich Friedensbewegungsnihilismus betreibe. Ich habe eine ganz kritische Meinung, was den Mobilisierungsfaktor angeht, aber ich sehe natürlich, was da überall geleistet wird. Was die Koordinierung angeht, ist es zu allererst gut, dass es viele Initiativen gibt, die sich thematische Schwerpunkte setzen - also von Atomwaffen und Bundeswehr an Schulen über Rüstungsexport und NATO bis zu Zivilklauseln. Das muss auch so sein, weil es viele Zugänge zur Friedensthematik gibt, viele Interessenlagen und Kompetenzen. Allerdings stehen wir bei einer bundesweiten Koordinierung von Aktivitäten auch vor großen Herausforderungen; wir haben veraltete vielleicht sogar überholte Strukturen und nutzen die neuen Technologien zu wenig. Und dann gibt es diese zwei großen bundesweiten Netzwerke, den Bundesausschuss Friedensratschlag und die Kooperation für den Frieden. Sie sind historisch so gewachsen - über Gründe müssen wir uns jetzt nicht auslassen - sie existieren und sie arbeiten an wichtigen Punkten zusammen. Bei dieser Zusammenarbeit ist sicher noch viel Luft nach oben. Dabei haben beide Netzwerke eine Berechtigung auf Eigenständigkeit, aber eine ausstrahlungsfähige bundesweite Zusammenarbeit stelle ich mir anders vor.

MBl: Der Bundesausschuss Friedensratschlag hat sich - wenn ich da richtig informiert bin - auf seiner jüngsten Beratung entschieden, an der bundesweiten Aktionskonferenz am 14. März in Frankfurt teilzunehmen und ruft seine Mitglieder dazu auf?

Reiner Braun: Das begrüße ich sehr. Trotzdem könnte ich mir darüber hinaus eine bessere Vernetzung vorstellen. Wir sind, was eine bundesweite, einheitlichere Aktionsorientierung angeht, deutlich entwicklungsfähiger. Daran sollten wir arbeiten. Wenn wir wieder mehr zu Aktionen kommen, kriegen wir diese Zusammenarbeit auch hin. Da ist - wie gesagt - noch Luft nach oben. Ich würde mir eine institutionalisierte Zusammenarbeit aller wichtigen Friedensinitiativen sehr wünschen. Was mir - auch in der Fragestellung - fehlt, ist der Gedanke, dass sich diese nationale zunehmend einbetten muss in eine internationale Vernetzung. Da gibt es viele Fortschritte, was die Kernländer der NATO angeht, aber auch eine riesige Lücke. Das ist die Zusammenarbeit mit Friedensinitiativen im Osten, in Mittel- und Zentraleuropa, auch in Richtung Russland.

MBl: Vorhin war schon kurz die Rede von der LINKEN und ihrem Verhältnis zur Friedensbewegung. Zwei prominente LINKE, nämlich Wolfgang Gehrcke (MdB) und Christiane Reymann, haben in einem Diskussionspapier betont: "Sie ist keine Bewegung der politischen Linken und darf es nicht werden. Denn Frieden als Grundlage für die Sicherung des Überlebens der Menschheit ist eine Gattungsfrage; sie stellt sich klassenübergreifend." Wie siehst Du das?

Reiner Braun: Linke sind ein ganz entscheidendes Element der Friedensbewegung, unverzichtbar, fast immer Motor. Unverzichtbar auch, weil ein Zusammenhang nur von links in die Debatte gebracht werden kann: "Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich, wie die Wolke den Regen." (Jean Jaurés) Insofern ist die Linke von August Bebel, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht etc. bis heute unverzichtbarer Motor, Impulsgeber der Friedensbewegung. Trotzdem ist sie mehr als eine linke Bewegung und schon gar keine Bewegung irgendeiner Partei. Bestes Beispiel heute ist der Papst. Sein Friedensengagement und seine Aussagen finde ich absolut bewegend und belebend. Und auch in der Vergangenheit waren viele wichtige FriedensaktivistInnen alles andere als Linke. Die Zusammenarbeit mit all denen, die sich gegen Krieg und die Zuspitzung kriegerischer Auseinandersetzungen im Konkreten wenden, ist unbedingt sinnvoll, notwendig, erstrebenswert. Man kann auch aus religiöser, ethisch-moralischer oder konservativ-nationaler Intention gegen Krieg sein, Zugang zur Friedensbewegung finden. Gesellschaftliche Mehrheiten gegen den Krieg müssen möglichst breit sein, so breit es geht, allerdings ohne inhaltlich zu verwässern und ohne die Diskussionsfreiheit innerhalb der Friedensbewegung zu beeinträchtigen. Daran müssen wir festhalten.

MBl: Nicht nur innerhalb der Friedensbewegung wird ja derzeit heftig gestritten, wie breit oder konkreter wie weit Friedensarbeit 'nach rechts offen' sein darf. Gibt es da keine Grenze?

Reiner Braun: Die Friedensbewegung strebt mehr an, als nur eine 'Volksfront'. Insofern finde ich die Entgegensetzung 'Volksfront statt Querfront' historisch und aktuell nicht ganz stimmig. Friedensbewegung muss das Bündnis bis weit ins bürgerliche, liberale, wertkonservative Lager anstreben. Historisch hat sich die Friedenbewegung ja aus zwei Säulen entwickelt. Die eine ist die traditionelle Arbeiterbewegung mit der damaligen Sozialdemokratie als starker Antikriegskraft, was sie im 19. Jahrhundert und zu Anfang des 20. Jahrhunderts ja noch war. Die andere war der bürgerliche - teils kleinbürgerliche - Pazifismus. Berta von Suttner gehörte ja eher zum Großbürgertum, obwohl sie arm war. Beide Säulen waren anfangs völlig getrennt voneinander. August Bebel hat sich lustig gemacht über die kleinbürgerlichen Friedensfreunde. Und das friedensorientierte Bürgertum wollte Zusammenarbeit mit den Sozis nur in aktuellen Kriegssituationen. Da sind wir heute ein Stück weiter.

MBl: Nochmal zurück zur Frage 'Wie weit geht diese Offenheit?'

Reiner Braun: Ganz knallhart, für mich ist der antifaschistische, antirassistische Grundkonsens ein absolutes Muss. Wer das nicht mitträgt, hat mit uns nichts zu tun. Da ist die Grenze. Um diese Grenze muss man kämpfen. Die darf sich um keinen Millimeter verschieben. Das Aufgeben von Antifaschismus und Antirassismus heißt immer: offen sein für Krieg. Deswegen ziehen wir da die Grenze. Da muss man im Einzelfall bei unterschiedlichen Kräften sehr genau hinschauen, hinhören und auch prüfen ob Worte und Taten übereinstimmen.

MBl: Es gibt ja nicht nur die umstrittenen Promis bei den Mahnwachen, auf die sich die Medien gestürzt haben, sondern vor Ort haben ja hier und da auch stadtbekannte Rechtsaußen-Spieler versucht, ein Bein in die Bewegung zu kriegen.

Reiner Braun: Darüber muss man vor Ort streiten. Ich war bei Mahnwachen, die Neonazis in die Wüste geschickt haben. Das Problem ist, dass unser Streit nicht im luftleeren Raum stattfindet. Wenn wir uns nur mit denen streiten müssten, die problematische Positionen vertreten, würden wir ja vielleicht zu tragbaren Ergebnissen kommen. Aber da spielt der politische Gegner ja in vielfältigster Weise medienwirksam mit, wie wir im Herbst gesehen haben. Das macht Klärungsprozesse viel komplizierter, aber da müssen wir durch. Das mussten wir immer, auch früher in den 1980ern, wenn ich an Friedenskonferenzen denke, bei denen alle möglichen Lebensretter und Überlebensfritzen oder Vertreter der doch weit rechts stehenden ÖDP aufgetreten sind, die ähnlich 'nach rechts offene Positionen' hatten. Dieser Kampf ist doch nichts Neues. Ich würde mir da bei uns etwas mehr Souveränität und Vertrauen in die eigene Überzeugungskraft wünschen.

MBl: Der emotionale Aufreger oder gar Spaltpilz in der Friedensbewegung sind doch offensichtlich die Montagsmahnwachen im vergangenen Jahr und einige ihrer Protagonisten. Welche Relevanz haben die denn heute noch bundesweit? Und muss man das nicht trennen vom sogenannten Friedenswinter?

Reiner Braun: Mahnwachen und Friedenswinter sind in der Tat zwei Paar Schuhe. Für mich sind die Mahnwachen in ihrer Entstehung eine mehr oder weniger spontane, eruptiv aufbrechende Bewegung von Menschen, die sich um den Frieden sorgen. Da sind kluge Leute, die mit den ganzen neuen Medien exzellent umgehen können, clever, professionell. Die hören zu, weil sie was lernen wollen. Die Bewegung war zu Beginn hier und da vor Ort sicher nach ganz rechts offen, aber insgesamt findet ein sehr differenzierter Entwicklungsprozess statt. Insofern arbeiten wir nicht pauschal mit den Mahnwachen zusammen, Wir arbeiten mit Menschen von Mahnwachen vor Ort oder auch mit örtlichen Mahnwachen zusammen und schauen uns vorher die Kräfte sehr genau an. Es hat da bei den Mahnwachen einen interessanten Entwicklungsweg gegeben, den die Kooperation für den Frieden maßgeblich mitbeeinflusst hat. Wir haben ihnen im Juni letzten Jahres geschrieben und fünf Kriterien formuliert, wie wir uns eine Zusammenarbeit auf lokaler Ebene vorstellen können. Daraufhin gab es erste Gespräche und im Juli den Auftritt einiger unserer Vertreter bei verschiedenen Mahnwachen. Die Mahnwachen stehen vor einer großen Herausforderung. Sie müssen beweisen, dass es sie als Bewegung noch gibt. Sie wollen einen bundesweiten Relaunch-Day im Frühjahr versuchen. Es gibt derzeit 91 örtliche Mahnwachen zuerst in Großstädten und jetzt erst, sozusagen im Nachtrab in kleineren Städten. Es gibt dort spannende, interessante, kluge, junge Menschen, die ich unbedingt für die kontinuierliche Friedensarbeit, die Revitalisierung der Friedensbewegung gewinnen will.

Selbst wenn die Anzahl der Aktiven an den Mahnwachen zurückgehen sollte (was sich ja einige so sehr wünschen), bleiben ihre dezentralen Strukturen und Vernetzungen erhalten, sowie das Potential, das sie mobilisieren konnten. Die friedensbewegten Menschen sind ja nicht weg. Ich habe Zweifel ob wir "Traditionellen" diese erreichen.

MBl: Was sind aus Deiner Sicht inhaltliche Punkte, die man dort einbringen muss?

Rainer Braun: Ich habe das Gefühl, dass wir uns überlegen müssen, wie wir eine Wiederbelebung des Anti-Imperialismus hinkriegen. Wir müssen schon deutlich machen, was es bedeutet, dass die USA zumindest die militärisch stärkste imperiale Macht sind. Ich bin völlig bei Liebknecht, wir müssen den Hauptfeind im eigenen Land bekämpfen. Aber wir müssen auch vermitteln, was Imperialismus bedeutet. Da waren wir schon mal besser. Da ist Aufklärungsbedarf - auch emotionaler Aufklärungsbedarf. Ich habe jetzt zweimal bei Mahnwachen über Anti-Amerikanismus diskutiert und gefragt: wen meint ihr denn damit? Evo Morales? Fidel Castro? Oder diejenigen die da in Fergusson/USA gegen rassistische Polizeiübergriffe demonstriert haben? Die repräsentieren doch das andere Amerika. Über sowas zu diskutieren halte ich im Sinne von Politisierung der Mahnwachen für eine unserer Kernaufgaben. Da haben wir noch einiges zu tun.

Das zweite ist, wir haben Alternativen: alles, was mit friedlichen Konfliktlösungsstrategien verbunden ist, muss viel stärker thematisiert werden.

MBl: Die Friedensbewegung ist im Augenblick noch nicht so mobiliserunsgfähig, wie sie sein müsste. Warum hauen die Medien der Herrschenden Deiner Meinung nach monatelang auf die Friedensbewegung ein, verschaffen uns eine Publizität, wie wir sie lange nicht gehabt haben?

Reiner Braun: Ein Grund - aber nur einer ist: die Linkspartei ins "Kriegsbett" zu den anderen Bundestagsparteien zu schieben, sie kriegswillig zu machen und als einzige noch im Bundestag vertretene Antikriegspartei zu "killen". Es gibt aber noch andere Gründe. Der herrschende Block hat ja von 1980 auch gelernt. Was die nie wieder wollen ist eine breite Friedensbewegung, die sich spontan, eruptiv, losgelöst von ihnen, eigenständig und massenhaft entwickelt. Die wollen nie wieder einen 10.10. erleben, wo sie erstaunt am Rande stehen und nie wieder einen Krefelder Appell, der mit einem Mal von 2,5 Millionen Menschen unterschrieben wird, während sie noch darüber schwadronieren, dass das niemals mehr als 40.000 aus dem Umfeld der Kommunisten werden können. Dem wollen sie vorbeugen. Sie wissen oder ahnen, dass sich da was entwickeln könnte. Das spüren wir doch auch. Ihre Linie ist also: die Friedensbewegung von vornherein klein halten, klein schlagen, nach innen hin in unsinnige Diskussionen verwickeln, lahmlegen, für Streit und Spaltung sorgen. Das ist ihr zweites Motiv. Warum sind es denn gerade die "rot-grünen" Medien, die da ganz vorne dran sind? Die Haupthetze kommt von der taz und von der Frankfurter Rundschau, von dieser kriegswilligen rot-grünen Kamerillia. Und es gibt einen dritten Grund für die Hetze, der heißt Russland. Sie wollen und müssen das Feindbild Russland wieder gesellschaftsfähig machen. Und das geht nicht, wenn es eine starke Gegenposition gibt. Jetzt gibt es aktuell noch eine entspannungsfreundliche Gegenposition bis weit ins sozialdemokratische und bürgerliche Lager. Und darum muss sie diffamiert werden. Warum wurde sonst auf die 60 prominenten Verständigungsmenschen und ihren Aufruf im Dezember so eingeschlagen, wo die doch fast alle zur politischen Elite gehören. Russland als Dämon, soll die Bevölkerung kriegswilliger machen. Diese drei genannten sind die Kerngründe, die für diese Brutalität und Unversöhnlichkeit in der Auseinandersetzung sorgen. Seit wann regt sich der SPIEGEL auf, wenn etwas nach rechts offen ist. Der regt sich aus ganz anderen Gründen auf. Die taz bietet Antideutschen ein ständiges Forum und regt sich über angebliche Rechtsoffenheit der Friedensbewegung auf? Da muss man doch mal ernsthaft fragen, was deren Interessenlage ist

MBl: ... z.B. alte Legenden von 'rot-brauner Zusammenarbeit' erneuern?

Reiner Braun: Zum Beispiel. Aber dieser Streit um die Mahnwachen lenkt meines Erachtens davon ab, dass es innerhalb der Friedensbewegung und der Linkspartei höchst unterschiedliche Positionen zur Dramatik der Kriegsgefahr gibt. Zugespitzt formuliert in dem Papier von Paul Schäfer (siehe Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2015). Aber das steht ja nicht alleine. "Ist ja alles nicht so schlimm". Und es "überwiegen ja durchaus kooperative Beziehungen" - und dann ist Außenminister Steinmeier plötzlich Entspannungspolitiker. Diese Auseinandersetzung, um eine angeblich nicht oder kaum vorhandene Kriegsgefahr, zu führen, ist viel wichtiger, um deutlicher zu machen, in was für einer dramatischen Situation wir derzeit leben, wenn wir den Ukraine-Krieg sehen der eine unkontrollierbare Kriegsdynamik in sich birgt, die neue NATO-Strategie mit der militärischen Einkreisung Russlands und als i-Tüpfelchen die mögliche Kündigung des INF-Vertrages und die Wiederbelebung der Debatte um Cruise Missiles bzw. die Aufstellung atomarer Mittelstreckenraketen. Da sind ernsthafte Diskussionen nötig innerhalb der Friedensbewegung über die Gefährlichkeit der aktuellen Situation. Bei einem Punkt bin ich bei Steinmeier: die "Welt ist aus den Fugen geraten". Es ist bedauerlich, wenn Linke das nicht sehen.

MBl: Im Kommentar der letzten Marxistischen Blätter schrieb der Autor, dass ihn sein Nachbar seit Veröffentlichung des Aufrufes der 60 Prominenten "Wieder Krieg in Europa? Nicht in meinem Namen!"nicht mehr für einen "unbelehrbaren linken Spinner" oder "Putin-Versteher" hält, weil die Kriegsgefahr für ihn jetzt irgendwie "offiziell" sei. Die Initiatoren sind ja alles andere als traditionelle Friedenskämpfer. Und der Eingangssatz "Niemand will Krieg" ist ziemlich fragwürdig. Aber dieser Aufruf der 60 nützt doch zweifellos der Friedensbewegung?

Reiner Braun: Bei aller Würdigung dieses Appells, als Aufruf zur Entspannungspolitik und Rückkehr zu den Ideen von Willy Brandt teile ich die Kritik. Ich habe noch mehr Kritikpunkte. Das Wort NATO fehlt völlig in dem Aufruf. Wie kann man das fehlen lassen, wenn der Marsch gen Osten einer der wesentlichen Gründe des Konflikts mit Russland ist. Und das Wort Abrüstung taucht auch nicht auf.

MBl: Der 70. Jahrestag der Befreiung Europas vom deutschen Faschismus steht vor der Tür. Das ist natürlich eine große Chance, um Klarheit zu schaffen über die Ursachen von Krieg und Faschismus, als auch über Lehren aus der Geschichte zu diskutieren. Welchen Stellenwert spielt dieser Jahrestag auf der Aktionskonferenz des Friedenswinters am 14.3. in Frankfurt und bei eurer weiteren Aktionsplanung?

Reiner Braun: Was Du bezüglich des 70. Jahrestages sagst, teile ich unbedingt. Die aktuelle Russland-Debatte muss angesichts der Kriegsgefahr aber weit über das Erinnern hinausgehen. Für mich ist eine zentrale Zukunftsfrage: Kommen wir wieder zurück zu einer Politik der gemeinsamen Sicherheit? Also zurück zu einer Politik, in der die Sicherheitsinteressen anderer Staaten genauso akzeptiert werden, wie die eigenen. Lernen wir aus dem Scheitern der ersten Entspannungspolitik, dass sie durch reale Abrüstung materialisiert werden muss, wenn sie nicht zum Scheitern verurteilt sein will? Schaffen wir dafür eine gesellschaftliche Mehrheit? Natürlich ist die Einschätzung Russlands und die Bewertung seiner Politik nicht ganz einfach, aber zur Politik gemeinsamer Sicherheit gibt es unter der Fragestellung Krieg oder Frieden keine Alternative. Wir bereiten mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und russischen Freunden eine Tagung in Moskau vor, in deren Zentrum genau solche Überlegungen zur gemeinsamen Sicherheit stehen sollen.

MBl: Was ist aber nun Ziel und Aufgabe der Aktionskonferenz im März?

Reiner Braun: Kernaufgabe der Aktionskonferenz ist aus meiner Sicht, die nach vorne gerichtete Auswertung des "Friedenswinters" und der Aktionen zur Münchener "Sicherheitskonferenz". Eine kritische Reflexion unter uns ist mehr als notwendig. Unterstützung von der Konferenz sowie vom Friedenswinter insgesamt werden sicher die diesjährigen Ostermärsche erhalten, die ja regional völlig eigenständig vorbereitet werden. Und dann ist gemeinsam - auch mit anderen - zu überlegen, was geht am 8. und 9. Mai? Hier sind die Rahmenbedingungen ein bisschen kompliziert. Wir unterstützen alle dezentralen Aktivitäten, die an den verschiedenen Orten ja schon vorbereitet werden, insbesondere der VVN-BdA und ihrer Partner. In Berliner Friedenskreisen abgestimmt ist eine Demonstration am 10. Mai in Berlin, mit überregionaler Ausstrahlung und Mobilisierung überall dort, wo es keine lokalen und regionalen Aktivitäten gibt. Also keine bundesweite Demonstration, die als Konkurrenz zu anderen Veranstaltungen missverstanden würde. Der 10.5. nach den regionalen Aktionen gibt allen, die es wollen, die Möglichkeit, an einem großen überregionalen Ereignis des Friedens in Berlin teilzunehmen. Für Berlin gibt es einen spezifischen Grund, warum wir hier am 10. aber auch am 9. Mai 2015 als Friedensbewegung präsent sein müssen. An diesem Tag gibt es in Berlin den "Ball des Heeres", eine große Veranstaltung zur 60-Jahr-Feier der Bundeswehr und ihres NATO-Beitritts. Das müssen wir zum Anlass nehmen, dort mit der klaren Stoßrichtung "Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!" Friedensflagge zu zeigen. Im Mittelpunkt steht dabei die aktuelle Friedensbedrohung. Wir denken darüber nach, das mit einem Friedensfest zu verbinden. In die Richtung gehen unsere Überlegungen, die auf der Aktionskonferenz in Arbeitsgruppen diskutiert werden sollen.

MBl: Viel Erfolg und Danke für das Interview. Wir sehen uns auf der Aktionskonferenz am 14. März in Frankfurt.


Reiner Braun ist Geschäftsführer der IALANA und Co-Sprecher der "Kooperation für den Frieden";
www.koop-frieden.de; www.ialana.de

*

Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-15, 53. Jahrgang, S. 29-40
Redaktion: Marxistische Blätter
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Telefon: 0201/23 67 57, Fax: 0201/24 86 484
E-Mail: redaktion@marxistische-blaetter.de
Internet: www.marxistische-blaetter.de
 
Marxistische Blätter erscheinen 6mal jährlich.
Einzelheft 9,50 Euro, Jahresabonnement 48,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang