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MARXISTISCHE BLÄTTER/530: Zu Erwin Strittmatters 100. Geburtstag


Marxistische Blätter Heft 5-12

Die Konturen einer menschlichen Zukunft
Zu Erwin Strittmatters. 100 Geburtstag

von Rüdiger Bernhardt



Viele Menschen erinnern sich an die Werke des sozialistischen Schriftstellers Erwin Strittmatter: an Bücher wie Tinko, Ole Bienkopp, Der Wundertäter und andere, man nennt sie noch heute "prägende Leseerlebnisse" (Joachim Jahns), obwohl die Erlebnisse oft von der Schule ausgingen. Pflichtlektüre aber hinterlässt meist mehr Abwehr als Zuneigung. Was war, was ist bei den Büchern Erwin Strittmatters, die ein riesiges Publikum fanden und finden, das quer durch die sozialen Schichten ging, anders? Begründet die Antwort auch die Zurückhaltung, die das heutige Bildungssystem Strittmatter gegenüber übt?

Zwei Besonderheiten machen - neben den gewählten Themen - Strittmatters Bücher zu dauerhafter Literatur: Zum einen gelang es dem Schriftsteller, schlichte und einfache Menschen seiner Gegenwart erzählen zu lassen und naive Erzähler einzusetzen, die mit den Feinheiten der Politik und Diplomatie, auch des bürgerlichen Umgangs und der die Salons bestimmenden Kunstgespräche nicht umfassend vertraut sind, aber dafür ihren Alltag hartnäckig bewältigen und daraus Gefühle flur Gerechtigkeit und Schönheit entwickeln, die sie zum Maßstab ihres Lebens machen. Tinko, die Titelgestalt des Romans von 1954, ist bereits am Anfang des Strittmatterschen Schaffens eine auffallende Gestalt, der andere folgten. Der Roman ist in mehr als einer Million Exemplaren verbreitet, wurde 1957 verfilmt und 1971 von Hans Dieter Schmidt zum Schauspiel verarbeitet. Das Buch, ursprünglich "Für Leser von 13 Jahren an" vorgesehen, hat sein Publikum in allen Altersklassen gefunden.

Zum anderen haben Strittmatters Erzähler ein Fernziel vor Augen, das utopisch anmutet, aber dessen soziale Konturen man erkennt, wenn man nicht durch die Schwierigkeiten der Gegenwart, von denen es in Strittmatters Romanen und Erzählungen genügend gibt, erstarrt und blind wird, sondern danach fragt, was durch die Arbeit des Menschen flur die Menschen möglich wird. Ole Bienkopp, der Titelheld des Romans von 1963, war beispielhaft: Der Selbsthelfer sucht Verbündete in der Partei, die "bescheidener (ist), geneigter zuzuhören, was man liebt und fürchtet". Gestalten wie Tinko und Bienkopp kamen zu legendärer Berühmtheit. Seine Massenwirksamkeit unterschied Strittmatter von anderen erfolgreichen Autoren der DDR. Christa Wolf hatte ihr Publikum wie Volker Braun vor allem unter Intellektuellen und Akademikern; Hermann Kant fand es insbesondere unter Studenten und der neuen Intelligenz. Allenfalls Erik Neutsch, wie Strittmatter kam auch er vom Journalismus zur Literatur, konnte ein sozial breit gefächertes Publikum fesseln, unterschied sich von Strittmatter jedoch durch die Themen aus Industrie und städtischem Umfeld.

Strittmatters Werk lässt keinen Zweifel an seiner literarischen, politischen und moralischen Bedeutung zu. Die unsäglichen Diskussionen über die Rolle des Schriftstellers im Zweiten Weltkrieg haben ergeben, dass Strittmatter nicht der SS angehörte und ihm Schuld nicht nachgewiesen werden kann.

Joachim Jahns hat Strittmatters Verstrickung in seinem Buch Erwin Strittmatter und die SS (2011) minutiös nachgewiesen und begründet, warum die Zerstörung des Strittmatter-Bildes von bestimmten Kreisen so rigoros betrieben wurde: Sollte die "geschickte Inszenierung" dazu dienen, ihren Erfinder Liersch heute "an die Seite der 'Sieger der Geschichte' zu führen" (Jahns, S. 11)? Strittmatter hat im Zweiten Weltkrieg bei der Polizei gedient, aber das gesamte literarische Werk des Schriftstellers diente der Aufarbeitung dieser Schuld aus faschistischer Zeit, die weit geringer ist als die früherer Bundespräsidenten, Kanzler, Minister und anderer hochrangiger Politiker. Strittmatter jedenfalls sah seine Werke als Bemühung, "meine Verfehlungen zu tilgen" (Jahns, S. 45). Es ergab sich, dass Strittmatter seine Zugehörigkeit zu einer Polizeieinheit in Lebensläufen nicht verheimlicht hatte und dass seiner Tagebucheintragung Glauben zu schenken ist: "Ich kann mich dem Ansturm von Kollektiv-Scham nur entziehen, wenn ich daran denke, dass den ganzen Krieg über keine Kugel meinen Gewehrlauf verliess." (6. August 1963) Anderes blieb Vermutung, Gerücht, Legende. Die Beschädigung Strittmatters passte manchem CDU-Politiker in den Kram, der Stadtrat in Strittmatters Geburtsstadt Spremberg lehnte eine Ehrung des Schriftstellers zu dessen 100. Geburtstag ab: Man konnte sich hinter den Vorwürfen verstecken, um nicht auf Strittmatters Werke eingehen zu müssen, denn das auf soziale Gerechtigkeit und die Beseitigung von Ausbeutung zielende Werk Strittmatters passt samt dem dazugehörigen Weltbild nicht ins heutige Bildungssystem und noch weniger ins Programm der herrschenden Politik.

Die Geschehnisse in Strittmatters Werken sind alltäglich, vollziehen sich im ländlichen Raum, wo alte Hausmittel noch an der Tagesordnung sind; alles unterliegt jedoch Gesetzmäßigkeiten, die aus sozialen Grundlagen entstehen. Am Ende steht immer die Vorstellung einer Gesellschaft, die nie als vollkommen oder vollendet erscheint, sondern in Umrissen erkennbar wird, die auszubauen sind. Die Treue zu dieser Thematik verschaffte den Werken den Eindruck des Dauerhaften, Beständigen und des Aufrichtigen. Dazu trugen auch die eingesetzten ästhetischen Mittel bei, die sich von keiner Mode beeinflussen ließen.

Ein schönes Beispiel ist die Eröffnung des Ole Bienkopp: "Die Erde reist durch den Weltenraum. Der Mensch sendet eiserne Tauben aus und harrt ungeduldig ihrer Heimkehr. Er wartet auf ein Ölblatt von Brüdern auf anderen Sternen." Was in diesen drei Zeilen Handlung wird - eine ähnliche Romaneröffnung verwendete Arnold Zweig in Der Streit um den Sergeanten Grischa -, sind Mythos und Weltgeschichte, Gesellschafts- und Menschheitsprogramm. An die Errettung der Menschen aus der Sintflut wird ebenso erinnert wie an Symbole des Friedens und auf anderen Sternen lebende Wesen werden in ein Programm der Gemeinsamkeit, der Brüder eingefügt, das seine Herkunft aus der Aufklärung zu erkennen gibt. Was mit dem Weltraum beginnt, wird im nächsten Absatz auf ein Dorf übertragen, schließlich auf die Menschen. Der kleine Ausschnitt wird zum Exempel für weltgeschichtliche Vorgänge. Damit der Leser das auch nicht vergisst und weiß, wie sein Wirken auch im Alltäglichen nicht nur Lebensgrund schafft, sondern die Welt mitbestimmt, wird die Eröffnung am Ende des Romans mehrfach variiert. So entstehen Meisterwerke.

Es begann am 24. Februar 1950 mit dem Fortsetzungsabdruck des Romans Ochsenkutscher, der 1951 als Buch erschien, und dessen Held ein kindlicher, naiver Träumer war, der erste der Strittmatterschen Helden. Auch in diesem Roman sind die ersten Sätze ein Programm: "Es klatscht. Lope fährt aus seinem Traum in die Wirklichkeit." Geklatscht hatte die Ohrfeige, die er von der Mutter erhielt, weil er eingeschlafen war, wieder geträumt hatte. Weltliterarische Parallelen sind erkennbar: Dieser Lope, naiv und nach Bildung drängend, ist ein Verwandter von Henrik Ibsens Peer Gynt (aus Peer Gynt), der ein Träumer und ein Lügner ist, wobei Lüge für Phantasie steht. Selbst in der Welt der Katen - Strittmatters Roman handelt in den zwanziger und dreißiger Jahren - vergessen Autor und Erzähler nicht, auf weltliterarische Traditionen hinzuweisen, Leo Tolstoi sei stellvertretend für eine lange Reihe genannt. Lope im Ochsenkutscher liest Tolstois Tagebuch und träumt sich von dort aus "nach dem fernen Lande", einem Land der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens. Strittmatter hatte mit dem ersten Roman seinen Heldentyp, seinen unverwechselbaren Ton und seine Thematik gefunden. Zwar lernte er die "artistischen Tricks" von Hamsun bis Hemingway, von Stifter bis Gerhart Hauptmann, von Puschkin bis Laxness, "aber im Grunde blieb ich, der ich war, vom Ochsenkutscher an", schrieb er rückschauend am 16. Mai 1971 in sein Tagebuch. Noch Strittmatters Erzähler in der späten Romantrilogie Der Laden (1983-1992), die auch zum Fernsehereignis wurde, bekennt sich zu seiner Naivität und setzt sie in Beziehung zu Brecht. Mit ihm hatte Strittmatter zeitweise enge freundschaftliche Beziehungen, entstanden aus gemeinsamer Arbeit an Katzgraben (1953) am Berliner Ensemble.

Um die Naivität seiner Erzähler und Helden wirken zu lassen, setzte Strittmatter sie bei Themen ein, die er kannte, die autobiografisch gesichert werden konnten. Das bedeutete nicht, dass alles Biografische in den Werken seinen Niederschlag fand, wie heute irrigerweise gefordert wird und wie es kein Schriftsteller je erfüllte. Sie schrieben, von Goethe bis zu Gerhart Hauptmann, wenn sie Autobiografien schrieben, Wunschbiografien. Strittmatter schrieb keine Autobiografie. Aber natürlich spielte Erlebtes, auch als Erdachtes auf der Grundlage des Selbsterlebten die wichtigste Rolle. Die thematischen Ähnlichkeiten zwischen der Trilogie Der Wundertäter und der Trilogie Der Laden bestätigen das, waren aber thematische Varianten zu Konflikten, nicht zu biografischen Details. Strittmatters Vorräte an Themen, Figuren und Konflikten schienen unerschöpflich zu sein. Die Vielfalt der Themen in seinem Werk ist die Variation des einmaligen, keineswegs geradlinigen Lebens Strittmatters, in dem es auch fragwürdiges Verhalten gab. Das ist allerdings kein Kriterium für den Wert des Werkes, das sich dem Thema vom tätigen, freien und die Zukunft im Blick habenden Menschen widmet, wobei die Bodenreform entsprechende Besitzverhältnisse als Voraussetzung durchsetzte. Das wurde das Programm in Strittmatters literarischem Werk, wie es Programm seiner Arbeit - ob als Schriftsteller, als Genossenschaftsmitglied und als Verbandspolitiker - wurde. Die Konzentration auf diese Themen und den naiven Helden ließ Politiker selten in seine Werke ein oder zur Karikatur werden wie Frieda Simson in Ole Bienkopp.

Bereits den Ochsenkutscher las die Kritik im Zusammenhang mit der Bodenreform, die im Roman selbst keine Rolle spielte, aber mitgedacht werden konnte. Dem Thema blieb Strittmatter treu; im letzten Band des Ladens ließ er keinen Zweifel daran: "Jener Held Lope Kleinermann, den ich schon in meiner Gartenhütte in Thüringen erfunden hatte, war bisher eine Figur aus Tinte und Papier geblieben. Er ging umher und befürwortete, leis propagandistisch, die Bodenreform und tat so, als ob sie der positive Schluss eines Märchens sei. Mit dem Land, von dem er nicht genau wusste, ob es geschenkt oder gestohlen sei, wollte er glücklich leben bis ans Ende". (Der Laden III, 129). Aus dem Roman Ochsenkutscher, einem Entwicklungsroman, einer von Strittmatter bevorzugten Form, wurde der Gesellschaftsroman Ole Bienkopp, der am Ende, mit der Verwendung des Stafettenprinzips, an Anna Seghers Gesellschaftsroman Die Toten bleiben jung erinnert: Die Kinder, die kommen werden, tragen Tat und Idee der Väter weiter. Ole Bienkopp stirbt - dieser Tod war bei den Lesern umstritten -, aber Oles Geliebte Märtke wird ein Kind von ihm bekommen, in dem Ole weiterlebt: "... ein Zipfelchen Glück, ein Vermächtnis."

Den Biografien der Strittmatterschen Figuren liegt ein Modell zu Grunde: Ole Bienkopp hieß eigentlich Hansen, der Spitzname assoziiert Unruhe: Er hatte einen Bienenschwarm auf seinem Kopf nach Hause getragen. Er ist ein Träumer, der seine Utopien nicht aus dem Rüstzeug der Philosophen ableitet - die er zur Kenntnis nimmt -, sondern aus sozialen Erfahrungen. Der Erzähler lässt keinen Zweifel daran, dass die soziale Erfahrung zu den philosophischen und künstlerischen Entwürfen gehört. Im Ole Bienkopp wird deshalb Goethes Faust zitiert: Ole und sein Freund sind "freie Hirten unter freiem Himmel". Zu Goethes freiem Volk auf freiem Grund ist es ein weiter Weg, auf dem Ole am Ende des Romans ist. Als er Sümpfe trocken legt, um Düngemittel, Mergel, zu finden, stirbt er, nicht eine Illusion wie Faust, sondern einen realen Entwurf der Zukunft vor Augen: "Traktoren rumpeln über die Wiesen. Männer streun Mergel. Sauergräser und Binsen verschwinden. Klee sprießt, Luzerne und Honiggras. Mächtige Kühe, gescheckte Hügel, stehn bis zum Euter im hohen Gras."

Die Werke sind in ländlichen Räumen angesiedelt, in denen Strittmatter lebte und arbeitete, auch in der Genossenschaft. Die Aufbrüche seiner Gestalten in Städte sind selten, beschränken sich auf Kleinstädte (an Spremberg ist zu denken) und scheitern zumeist; die literarischen Figuren kehren in die Ländlichkeit zurück. Der Inbegriff wurde Strittmatters Schulzenhof (Dollgow, Ortsteil Schulzenhof), der sowohl als geographischer Ort wie auch als literarische Wirklichkeit in Briefen existiert. In den literarischen Texten ist die Niederlausitz bestimmend. Der Ausschnitt wird zum Konzentrationspunkt der Welt. Darin handeln meist Menschen, die mit ihrer Naivität Probleme vereinfachen, sie auf den Punkt bringen und erzählbar machen. Das trifft für das Kind Tinko zu, das sich zwischen Großvater und Vater entscheiden muss, die stellvertretend stehen für unterschiedliche Auffassungen von Arbeit und Besitz. Ole Bienkopp ist ein "großes Kind", der Wundertäter Stanislaus Büdner erhält sich seine kindliche Naivität. Esau Matt (im Laden) berichtet zumeist aus naiv-kindlicher Perspektive über "Familienkatastrophen", die Abbild anderer Katastrophen sind. Nichts in den Beziehungen seiner Figuren untereinander entspricht tradierten Normen, der Sonderfall wird gesucht. Strittmatters Texte sind eine besondere Art der Erinnerungsliteratur, die ästhetischen Genuß bereitet und soziale wie gesellschaftliche Einsichten vermittelt, die das Bild einer sozialistischen Gesellschaft erhalten.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-12, 50. Jahrgang, S. 111-114
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. November 2012