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MARXISTISCHE BLÄTTER/527: Religiöser Sozialismus und Marxismus


Marxistische Blätter Heft 4-12

Religiöser Sozialismus und Marxismus

von Reinhard Gaede



I. Marxistisches Denken in den Grundsatzprogrammen des Bundes der religiösen Sozialisten 1918 - 1933

"Durch das Evangelium zum Sozialismus! Durch den Sozialismus zum Evangelium!" So lautete die Losung, unter der verschiedene Gruppen religiöser Sozialisten sich 1926 zum Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands (BRSD) zusammenfanden, der im "Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes" sein Organ hatte. Welcher Sozialismus war gemeint? Die Kundgebung des III. Kongresses vor 1.-5. August 1926 beginnt mit einen Bekenntnis zur internationalen Solidarität der Sozialisten, den Organisationen der Arbeiterbewegung. "Wir religiösen Sozialisten bekennen uns zur Bewegung des internationalen Sozialismus und kämpfen für seine Verwirklichung in der Welt. Wir führen diesen Kampf in lebendiger Fühlungnahme mit dem arbeitenden Volk, seinen Parteien und seinen freien Gewerkschaften."(1)

Interessant ist für diese wie alle folgenden Erklärungen, dass SPD und KPD zugleich als Parteien der Arbeiterbewegung anerkannt werden, schließlich als "Einheit der proletarischen Abwehrfront" im Kampf gegen Nationalismus und Faschismus gewürdigt werden.(2) Noch der Wahlaufruf zum 11. Sept. 1930, der vor den Nazis warnt - sie werden als "Hetzapostel, Hasspropheten", "bezahlte Angriffstruppe der Kapitalisten zum Bürgerkrieg" bezeichnet - appelliert an die Einheitsfront: "Wählt nur die sozialistischen Parteien des werktätigen Volkes! Wählt links! Wählt rot!(3) Wechselbegriff zu dem des "werktätigen" oder "arbeitenden Volkes" ist der des "Proletariats". Die Kundgebung des 4. Kongresses 1928 erläutert, warum es eine Forderung des religiösen Gewissens ist, dem "klassenbewußten Proletariat zuzugehören: "Das Proletarierelend in der kapitalistischen Gesellschaft bedeutet die vollständige Mißachtung menschlicher Würde und die stärkste Hemmung für die Entfaltung eines sinnvollen Menschentums." Deshalb lehnen die religiösen Sozialisten bloße "Rettungsversuche" an der kapitalistischen Gesellschaft ab und fordern in Solidarität "mit dem revolutionären Proletariat" die "sozialistische Neuordnung". Folgerichtig ist vom "Klassenkampf" die Rede, der durch das privatkapitalistische System bedingt ist. Die Richtlinien des 4. Kongresses in Mannheim sehen den Klassenkampf als Wirklichkeit, wie er von der besitzenden und herrschenden Klasse ausgeht und wie die "unterdrückten Massen" sich zu "befreien" suchen. "Das Proletariat führt diesen Klassenkampf gemäß den Erkenntnissen, die es Karl Marx verdankt", sagen die Richtlinien dann. Ihr Verhältnis zur marxistischen Tradition bestimmen sie so: Sie wollen "wie alle anderen Sozialisten die fundamentalen Erkenntnisse der marxistischen Forschungs- und Arbeitmethode studieren, kritisieren und an ihrer Ergänzung und Vertiefung arbeiten. "Marxismus wird vom BRSD also nicht als Dogma, sondern als Methode verstanden. Religiöse Sozialisten erkennen ein Monopol einer Partei oder philosophischen Schule am Sozialismus nicht an, sondern beteiligen sich von ihren Voraussetzungen her am Ringen um den Sozialismus. Dem Marxismus wird eine hervorragende Rolle in der sozialistischen Tradition zuerkannt, aber an einer Einheit der sozialistischen Tradition hält der Bund fest. Innerhalb der Proletarischen Bewegung sieht der Bund seine besondere Aufgabe, wie sie nur Christen und Christinnen erfüllen können, darin, "die Kräfte des Evangeliums für das Leben des einzelnen Menschen und für den Aufbau der sozialistischen Gemeinschaft wirksam zu machen." Das christliche Motiv der Barmherzigkeit, die christliche Hoffnung auf Gottes Reich, spricht dann in der 4. Richtlinie zur Tradition des Proletariats: "Die religiösen Sozialisten sind überzeugt, daß der Sieg des Proletariats nicht aufgehalten werden kann, wenn der aus Not und Elend geborene Kampf der Mühseligen und Beladenen, der Unterdrückten und Ausgebeuteten von der Gewißheit durchdrungen wird: Gott will es, daß wir alle Kräfte einsetzen für die kommende Ordnung, eine Ordnung der Gerechtigkeit, des Friedens und der brüderlichen Gemeinschaft."(4) Eine Fülle von Resolutionen zeigt, dass der Bund seinen Grundsätzen getreu an den Kämpfen der Arbeiterbewegung zur Sicherung und zum Ausbau ihrer Rechte teilgenommen hat und gegen Militarismus und Faschismus die demokratische Republik zu verteidigen suchte.(5) "Wir religiöse Sozialisten anerkennen Marx als grundlegenden Wirtschaftstheoretiker des deutschen Sozialismus. In Christus aber sehen wir den Geistesfürsten und Friedensbringer der Welt." So lautet die Antwort des Bundes auf Hitlers Regierungserklärung, letzte Worte vor dem folgenden Terror der Nazis.(6)


II. Theoretiker des Religiösen Sozialismus
1. Einsprüche gegen den Marxismus

Die Mannheimer Richtlinien sind Ergebnisse einer Diskussion. Auf dem rechten Flügel des Bundes wandte sich Hans Müller, der die internationale Genossenschaftsbewegung vertrat, gegen den Marxismus als eine "direkt religionsfeindliche und widerchristliche Lehre vom Sozialismus". Sie appelliere nur an materielle Interessen der Proletarier, wende sich aber nicht an das ganze Volk; der religiöse Sozialismus sollte den Gemeinschaftsgedanken aus seiner christlichen Weltanschauung ableiten und als sittliche Aufgabe verstehen.(7)

Hans Müller, der Erwin Eckerts marxistische Haltung angriff, trat jedoch im Oktober 1929 aus der SPD (Ortsverein Jena) aus und verließ ebenso den BRSD. Er schloss sich dem bürgerlichen Christlich-Sozialen Volksdienst an.(8)

Auch Eberhard. Lempp forderte dazu auf, den Sozialismus von den "Eierschalen" des Marxismus zu befreien und empfahl die Entwicklung zur Volkspartei, der der religiöse Sozialismus dienen könne. Er warnte vor einem hemmungslosen Klassenkampf, der egoistische und brutale Instinkte wecke.(9)


2. Marxismus als Methode

Für die Linie des BRSD wurde zunächst die Position von Erwin Eckert (1893-1972) maßgeblich. In seinen Aufsatz "Sind wir Marxisten?"(10) lehnt er es ab, Marxismus als Summe aller Auffassungen von Karl Marx zu sehen. Vielmehr soll der Marxismus als "Methode" verstanden werden, die Gesellschaft zu betrachten. Darin stimmte er ausdrücklich Nikolai Iwanowitsch Bucharin zu, der acht Jahre später ein Opfer des Stalinismus wurde. Marxismus als Methode soll auch auf Karl Marx selbst angewandt werden, um seine Äußerungen gegen die Religion einzuordnen: "Die praktische Haltung der soziologisch feudal gebundenen Kirche wird von ihm als durch und durch reaktionär erlebt, so daß es nur zu verständlich ist, wenn er in dem von ihr verwalteten Gut, der Religion, eine reaktionäre Kraft sah."(11) - Zwei Punkte sieht Eckert als wesentlich an für eine Zustimmung zum Marxismus, Marxist nennen kann man sich, 1. wenn man "aus der dialektischen Entwicklungsgesetzlichkeit auch der heutigen Wirtschaft den Weg zur Verwirklichung der sozialistischen Ordnung zu zeigen bestrebt ist; 2. wenn man sich nicht auf die 'sittliche' Einsicht der herrschenden Schichten verlässt, sondern hierin K. Marx recht gibt: "'Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.'"(12)


3. Das Recht der ökonomischen Betrachtung

Als eine "unverlierbare Errungenschaft" seit Karl Marx hat Eduard Heimann (1889-1967) den Ökonomismus bezeichnet, die Erkenntnis der "materiellen Bedingungen des Lebens", der "Herrschaft der Wirtschaft über das Leben", des fundierenden Charakters dieser Sphäre für die anderen Lebenssphären.(13)

Dass eine bestimmte Arbeitsweise zu ihrer Sozialgestalt gehöre, diese Erkenntnis sei grundlegend für alle neuere Soziologie geworden. Ebenso die Frage nach der Triebkraft der Geschichte, die im Protest gegen Idealismus den Begriff "Interesse" findet. E. Heimann fordert: Für den Sozialismus soll der Begriff vertiefte Bedeutung gewinnen. Es geht nicht nur um "Geldinteresse". "Das Interesse geht in Wahrheit auf umfassende Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung der Sozialgestalt, deren Wesen es ausmacht; auf Gestaltung und Umgestaltung des eigenen Lebens und der Welt nach den Wertvorstellungen, die der historischen Gestalt aus ihrem Ursprung notwendig und wesenhaft sind."(14)

Emil Fuchs (1874-1971) sieht im Dialog mir der marxistischen Tradition ebenfalls die "Bedeutung der materiellen Lebensgrundlagen der Gesellschaft". Die Folgerung für die Religion ist: "Religion, die die materiellen Lebensgrundlagen nicht durchdringt, beherrscht, ist Lüge."(15) Nur wenn Gottes Gebote zur "Kraft der materiellen Lebensgrundlagen" werden, können sie wieder Wahrheit für die Menschen werden. Für Religion als "individualistische Weltanschauung" sieht Fuchs die Religionskritik von Karl Marx in Geltung: "Opium des Volkes".(16)


4. Proletariat und Klassenkampf

"Klasse ist Gemeinsamkeit einer wirtschaftlich begründeten Lebenssituation", eine "polare Situation". Diese Definition von Paul Tillich (1886-1965) knüpft an die politisch-ökonomische Analyse von Karl Marx an,(17) ebenso an die marxistische Sozialphilosophie von der Selbstentfremdung des Menschen. Im Dialog mit dem Marxismus spricht Tillich vom Proletariat, im Dialog mit der Tradition des religiösen Sozialismus spricht Tillich von der proletarischen Situation, dem "Ort", an dem die "Bedrohtheit des menschlichen Seins in der Gestalt unentrinnbarer gesellschaftlicher Bedrohtheit ständig erlebte Wirklichkeit ist.(18) Erfahrungen der Bedrohtheit lassen das menschliche Leben zerbrechen: Unsicherheit, Ausgestoßenheit, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit. "Der Klassenkampf ist Schicksal, die Situation kann nicht als sinnvoll oder gottgewollt empfunden Herden. Karl Marx ist zuzustimmen: "Moralische Maßstäbe anzulegen, man solle auf Klassenkampf verzichten oder ihn mindern, wäre lächerlich, da man so verschiedene Sphären verwechselte, oder (wäre) selber Kampfmittel im Klassenkampf. Er ist eine Wirklichkeit, freilich eine dämonische Wirklichkeit, ... durch die jeder einzelne unvermeidlich gezwungen wird, an der zerstörerischen Tendenz des Systems teilzunehmen."(19) Durch diesen Kampf erhält das Proletariat einen Lebenssinn, "es fühlt eine Art messianischer Sendung für sich und die ganze Gesellschaft ... Die Schaffung dieses Bewußtseins war die historische Aufgabe die Marxismus".(20) Tillich sieht hier den Sozialismus als "Ausdruck des Selbstbewußtseins des Proletariats, er ist einerseits Analyse der Lage, andererseits Strategie der Überwindung"(21) Tillich sieht Sozialismus als messianische Sendung und hebt ihn somit in den Rang eines religiösen Phänomens: "Den Sozialismus als religiöses Phänomen verstehen, heißt also sehen, daß in ihm die Bedrohtheit des menschlichen Seins bis hin zur Besessenheit einer ganzen Gesellschaft offenbar wird und daß auf der anderen Seite Elemente eines neuen Sinnglaubens, einer neuen Getragenheit eschatologischen Charakters in Wirklichkeit und Symbol hervortreten. Dieses alles aber auf dem Boden eines religiös abgeklungenen Humanismus und in den Formen eines solchen." Freilich ist es eine "indirekt-religiöse Haltung", ein "verhüllter Glaube", für den Sozialismus ist der Marxismus zum Symbol geworden.(22)


5. Der Mensch. Entfremdung und neues Sein

Paul Tillich hat den marxistischen Begriff Entfremdung aufgenommen, um den traditionellen christlichen Begriff Sünde zu interpretieren: Entfremdung 1. als Unglaube (Abwendung von Gott), 2. als Hybris (zerstörerische Selbstüberhebung), 3. als Konkupiszenz (grenzenlose Begierde nach Erkenntnis, Sexualität und Macht), 4. als Faktum und Akt (universales Schicksal wie persönliche Verantwortlichkeit), 5. individuell und kollektiv (Person und Gruppe). Und er hat seine Lehre von Christus begründet als Lehre von der Erlösung zum 'Neuen Sein'. Die Aufnahme des marxistischen Begriffs 'Entfremdung' hilft hier, die überpersönliche, wenn auch nicht unpersönliche Wirklichkeit des Bösen in den Blick zu bekommen, die zerstörerischen Folgen der Sünde für Mensch, Mitmensch und Umwelt. Es gibt "soziale Dämonien", "Strukturen der Destruktion", die Krieg, Massenelend und Naturzerstörung hervorrufen. Angesichts der universalen Macht des Bösen kann Erlösung nicht vollkommener beschrieben werden, als in der Weise des Apostels "Neue Schöpfung". Nicht in Ruf zur Entscheidung (so im Pietismus) oder in der Rede von der Bedeutsamkeit Jesu (so in der existentiellen Theologie) kann die Aufhebung der Entfremdung des Menschen verkündet werden. Die Botschaft soll sprechen von Jesus als dem Christus, der das Neue Sein bringt, an dem der Mensch teilhaben kann.(23) "Wieder versöhnt sein ist das erste Kennzeichen der neuen Wirklichkeit. Und Wiedervereinigt sein das zweite ... Wo die neue Wirklichkeit erscheint, fühlt man sich mit Gott vereinigt, mit dem Grund und Sinn der eigenen Existenz ... Man nimmt sich selbst an als etwas ewig Bedeutungsvolles, als ewig Geliebtes, als etwas ewig Angenommenes." Und "Wiedererstehen", das dritte Kennzeichen der Neuen Schöpfung meint "die Macht des Neuen Seins, Leben aus Tod zu erschaffen, hier und jetzt, heute und morgen. Wo ein Neues Sein vorhanden ist, da ist Auferstehung, da wird jeder Augenblick dieser Zeit in Ewigkeit verwandelt."(24)


6. Die Aufgabe des Religiösen Sozialismus

P. Tillich sieht sie darin, die Zweideutigkeit des Sozialismus deutlich zu machen. Der Marxismus glaubt an die Wissenschaft - und sie ist doch der Kritik unterworfen. Er glaubt an Politik als Weg zum Reich der Gerechtigkeit - und sie ist doch profan, immer wieder verderbt. Gefahren lauern: Kleinbürgertum als Sicherungsstreben, Enttäuschung, die zur Verzweiflung führt. "Es ist Aufgabe des religiösen Sozialismus, die Kritik am Sozialismus radikal durchzuführen, aber auf dem Boden des Sozialismus", und zwar so, dass "das Gemeinte zur kritischen Norm des Tatsächlichen wird."(25) Unter dem Thema "gläubige Sachlichkeit" sieht Tillich Christentum und Sozialismus in gegenseitiger Beziehung. Zur "Enthüllung und Bekämpfung der sozialen Dämonie" ist das Christentum provoziert, da der Proletarier in der "Fürsorge für die einzelnen Opfer" des Kapitalismus allein kein Christentum erkennen kann. Zur Überwindung des Utopischen wird der Sozialismus provoziert. Auf die "reine oder gläubige Sachlichkeit" soll der religiöse Sozialismus zeigen. "Kairos" nennt Tillich die "Fülle der Zeit", das nahe herbeigekommene Gottesreich, das "gleichsam die Wirklichkeit berührt" und ihr "neue Sinnerfüllung" zeigt; "jede Erscheinung einer Gestalt der Gnade in der Wirklichkeit ist Fülle der Zeit, ohne darum Ziel oder Ende der Zeit zu sein."(26) Später, im Rückblick auf die Weimarer Zeit hat Tillich unterschieden zwischen dem Kairos, in dem die "Mitte der Geschichte" erscheint und den "relativen Kairoi", in denen sich das "Reich Gottes" in einem spezifischen Durchbruch manifestiert. So konnte deutlich das "Verhältnis des Kriteriums zu den, was unter dem Kriterium steht, das Verhältnis der Kraftquelle, zu dem, was von der Quelle genährt wird" bestimmt werden. Mit Kairos oder "Mitte der Geschichte" ist das Erscheinen Jesu als des Christus gemeint. Mit den Kairoi die Augenblicke, in denen ein "neues Verständnis für den Sinn der Geschichte und des Lebens" wächst in prophetischer Vision. Außerdem kann so der "Geist der falschen Propheten, die eine abgöttische Verherrlichung der Nation und Rasse vertraten, unterschieden werden von dem wahren Propheten, wenn an das Kreuz des Christus als das "absolute Kriterium" erinnert wurde.(27)

Innerhalb der sozialistischen bzw. der marxistischen Bewegung sahen die religiösen Sozialisten ihre Aufgabe darin, der "Entwertung der Persönlichkeit" entgegenzutreten. Sie folgt aus dem Fehlen der "Ewigkeitsdimension im Selbstverständnis des Menschen". Die religiösen Sozialisten widmen sich bis heute der Aufgabe, die Tillich in klassischer Weise so formuliert hat: "Wie ist es möglich, daß aus der Situation der Entfremdung Träger des Kampfes gegen die Entfremdung hervorgehen?" Tillich erinnert daran, dass Marx selbst noch, anders als viele seiner Nachfolger, das Ideal der klassisch-humanistischen Persönlichkeit aufrecht erhalten habe.(28)

Leonard Ragaz suchte das Angewiesensein des Marxismus auf christliche Partner dadurch zu demonstrieren, dass er auf die Herkunft von Karl Marx sowie anderer sozialistischer Führer verwies. Sie kamen aus "glänzenden Verhältnissen". Was trieb sie hin zum Proletariat, ließ sie zum Teil in dessen "Not und Lebenschwere" geraten? Der "gleiche Geist, der die Propheten Israels auf ihren Weg trieb."(29) Christen pflegen hier von Mitleid und Barmherzigkeit zu sprechen, die der Bemühung um gerechte Verhältnisse den Impuls gibt. L. Ragaz suchte die humanistische Tradition im Marxismus zu beleben, indem er von "Verpflichtung", "Verantwortung" sprach, die einem Egoismus entgegenstehen. Er sprach von "Ehrfurcht vor dem Menschen", die jeder Gewalttat widerspricht. Und schließlich sucht er die Offenheit des Sozialismus für das Christentum: "Aus der Solidarität kann Liebe, aus der Ehrfurcht vor dem Menschen Bruderschaft werden, der Kampf gegen den Mammon kann in den Weg des Franziskus einmünden; kurz: die Verwirklichung des Sozialismus kann in die Nachfolge Christi auslaufen.(30)


7. Klassenlose Gesellschaft und Reich Gottes

In seinem Aufsatz "Prophetische und marxistische Geschichtsdeutung" 1934-1936(31) hat P. Tillich die Analogien zwischen alttestamentlicher Prophetie und Marxismus untersucht, und ein Ergebnis war: "Der religiöse Sozialismus hat von jeher behauptet, dass der prophetische Geist, der den christlichen Kirchen fast ganz verloren gegangen war, im Marxismus einen, wenn auch religiös unzulänglichen, doch gegenwartsmächtigen Ausdruck gefunden hat. Gemeinsam bei manchen Widersprüchen ist u. a. beiden Deutungen der "Kampf für Gerechtigkeit"(32)

Leonard Ragaz hat diese Erkenntnis in einem schönen Gleichnis ausgeführt, um das Verständnis von Christentum und Sozialismus überhaupt zu bestimmen. Ein Fremder, "umstrahlt vom Glanz des Himmels", hatte einer unglücklichen Familie einen Ring von wunderbarer Kraft hinterlassen; "er schafft aus Traurigkeit Freude, aus Krankheit Gesundheit, aus Streit Frieden, aus Dunkelheit Licht, aus Armut Reichtum, aus Tod Leben." Eines Tages trennte sich die Familie, jede behielt nur eine Hälfte des Ringes und verschmolz ihn mit unechtem Metall, um ihn zu ergänzen. So besaß er nur die halbe Kraft, zum Segen kam auch ein Stück Fluch. "Die Geschichte des Rings ist ... die des Verhältnisses von Christentum zum Sozialismus. Sie sind ursprünglich eine Wahrheit. Diese ist in zwei Hälften zerbrochen worden, von denen jede sich für die ganze hält und mit der anderen streitet. Die ganze Wahrheit wäre die Rettung der Welt, die Teilung wird ihr zum Verderben."(33) "Es ist die Geschichte des Auseinandergehens derer, die an Gott glauben, aber nicht an sein Reich, und derer, die an das Reich Gottes glauben, aber nicht an Gott."(34) "Die Geschichte hat sich ... so abgespielt, daß das Christentum den Neuen Himmel verkündigt, aber die Neue Erde vergessen hat, der Sozialismus aber die Neue Erde verkündigt und den Neuen Himmel vergessen hat",(35) sagt Ragaz in Bezug auf 2. Petr. 3,13. Ragaz hält einerseits an der Vollkommenheit der Offenbarung fest: "Es ist klar, daß die Botschaft vom Reiche Gottes mehr ist als bloß Sozialismus. Sie verkündigt die neue Gotteswelt, verkündigt Sieg über Schicksal, Schuld und Tod, auch über Krankheit und Sünde."(36) Auf der anderen Seite sieht er die Zusammengehörigkeit von Christentum und Sozialismus so, "daß im Reich Gottes der ganze Sozialismus enthalten ist, nicht der moderne, aber "seine 'Grundprinzipien': Heiligkeit des Menschen, bestehend in seiner Gotteskindschaft, dem unendlichen Wert der Seele, in der Bruderschaft, der Gleichheit vor Gott, der gegenseitigen Verbundenheit und Verantwortlichkeit, dem Wert des Geringsten, dem Gottesdienst, der Menschendienst ist, dem Dienen als oberstem Gesetz, der Hoffnung auf die neue Erde, der Botschaft der Gerechtigkeit und des Friedens ... Daß alles was wir haben, Gott und dem Bruder gehört, ist eine der Grundwahrheiten des Neuen Testaments" (Gütergemeinschaft nach Apg. 4.22)(37)

Der Dialog zwischen Christentum und Sozialismus bzw. Marxismus vollzieht sich also so, dass marxistische Erkenntnisse zu kritischen Einsichten über Kirche und Gesellschaft führen, weltanschaulich, zeitgebundene Aussagen des Marxismus abgestreift werden, darüber aber auch die Theologie neu formuliert wird. Bei P. Tillich in der Lehre von der Entfremdung des Menschen und seiner Erlösung zum Heuen Sein, bei L. Ragaz in der Botschaft von Reich Gottes: "Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt, es kommt 'von oben', von Gott her, es ist ganz anders als die Welt und ihre Ordnungen, ... aber es ist für diese Welt, will in diese Welt kommen, will diese Welt erlösen und zur neuen Erde machen, das Leben des Jenseits soll in diese Welt brechen und darin alle Todesmächte überwinden."(38)


8. In welchem Sinn kann ein Christ ein Marxist sein?

Darüber hatte sich unser Freund Aurel von Jüchen (1902-1991) geäußert(39). Drei Missverständnisse des Marxismus lehnt er ab:

1. Eine Lehre, von Behörden verwaltet, welche die freie Suche nach Wahrheit unterdrückt.
2. Eine totale Philosophie, vor der sich religiöse Überzeugungen und wissenschaftliche Bemühungen verantworten müssen.
3. Eine Alles-oder-Nichts-Parole für die Art der Aneignung.

Für den Dialog Marxismus - Christentum gibt er wichtige Stichworte: Viele Bahn brechende Erkenntnisse verdanken wir Karl Marx. Der Mensch ist ein soziales und kommunikatives Wesen. Kollektive Formen des Zusammenlebens finden die Generationen vor, diese Formen sind nicht schicksalhaft und unveränderlich, sind geschichtliches Produkt und legen geschichtliche Verantwortung auf. Gegenüber jeder Reduktion des Menschen auf Eigenschaften, Fähigkeiten, Funktionen ist mit Marx nach dem totalen Menschen zu fragen, auch nach seinen materiellen Interessen, den Interessen der Herrschenden wie der Beherrschten. Auch die Bibel sieht den Menschen als geistig-seelisch-leibliche Einheit. Die Herausforderung von Karl Marx liegt darin, abstrakte Worthülsen zu entzaubern, den Menschen, seine Antriebe, sein Ergehen in den gesellschaftlichen Verhältnissen zu entdecken. Welche Antriebe wirken in der Wirtschaft, welche Spaltungen durchziehen die Gesellschaft, was ist Ausbeutung der Natur, Ausbeutung des Menschen? Vor diese Fragen sind wir gestellt.

Abzulehnen am Marxismus ist ein Determinismus in Biosphäre und geschichtlicher Sphäre ebenso wie andere weltanschauliche Elemente, die religiöses Denken ausschalten. Es bleibt die Bereicherung der Kenntnis vom Menschen, die Hilfe, Gegenwart und Geschichte besser zu verstehen.(40)


Anmerkungen

(1) Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes (SdaV) 1926, 33, Titels.
(2) Zeitschrift für Religion und Sozialismus, ZRS 1930, 5, S. 271
(3) SdaV 1930. 35, S. 277/78
(4) SdaV 1928, 33, S. 174
(5) Vgl. Wolfgang Deresch, Hg., Der Glaube der religiösen Sozialisten, Hamburg 1972, S. 200-218
(6) Der Religiöse Sozialist 1933, 7, S.15
(7) Können religiöse Sozialisten Marxisten sein? Neuwerk 9, 1927-1928, S. 452-460, in: R. Breipohl, Hg,, Dokumente zum religiösen Sozialismus in Deutschland, Theologische Bücherei 46, München 1972, S. 50-58; S. 56
(8) vgl. Friedrich-Martin Balzer, Manfred Weißbecker Hg.: Erwin Eckert/Emil Fuchs. Blick in den Abgrund. Das Ende der Weimarer Republik im Spiegel zeitgenössischer Berichte und Interpretationen, Bonn 2002, S. 17
(9) Der religiöse Sozialismus am Scheideweg 1928, in: A. Pfeiffer, Hg., Religiöse Sozialisten, Ölten 1976, S. 320-329
(10) Zeitschrift für Religion und Sozialismus 1930, 3, S. 163-168, in: Friedrich-Martin Balzer, Hg.: Protestantismus und Antifaschismus vor 1933. Der Fall des Pfarrers Erwin Eckert in Quellen und Dokumenten, Bonn 2011, S. 85-90
(11) ebd., S. 87
(12) ebd., S. 90; vgl. auch Friedrich - Martin Balzer: Klassengegensätze in der Kirche. Erwin Eckert und der Bund der religiösen Sozialisten, prv 36, Köln 1975
(13) Materialistische Geschichtsauffassung 1931, in: R. Breipohl, Dokumente, S. 118-137; 131
(14) ebd., S. 136
(15) Der Bund der religiösen Sozialisten, Monatsblatt der Sozialen Arbeitsgemeinschaft evangelischer Männer und Frauen Thüringens 3, 1928, Nr. 1 S. 2-4, in: R. Breipohl, Dokumente, S. 59-65; S. 61
(16) ebd., S. 61/62; vgl. auch E. Fuchs; Marxismus und Christentum, Leipzig 1952; Christliche und marxistische Ethik, I, II, Leipzig 1956, Leipzig, Hamburg 1959.
(17) Klassenkampf und religiöser Sozialismus, 1928, Gesammelte Werke, GW II, Stuttgart, 1962, S. 175-192
(18) ebd., S. 182
(19) ebd., S. 185
(20) ebd., S. 166
(21) S. Wehowsky: Protestantismus und Proletariat. Paul Tillichs Ansatz zu einem religiösen Sozialismus, Zeitschrift für Evangelische Ethik 1983, 2, S. 183-201; S. 187.
(22) ebd., S. 187
(23) (Systematische Theologie, 3 Bde.; Das Neue Sein, Religiöse Reden II, Stuttgart 1959, S. 28
(24) ebd., S. 30/31
(25) GW II, S. 189
(26) ebd., S. 191
(27) Systematische Theologie III, S. 421/22.
(28) Das religiöse Fundament des moralischen Handelns 1963, GW III, 1965, S. 206/07
(29) Von Christus zu Marx - Von Marx zu Christus, 1929, Nachdruck Hamburg 1972, S. 82
(30) ebd., S. 127
(31) GW VI, S. 97-108
(32) ebd., S. 104.
(33) Von Christus zu Marx. S. 152
(34) ebd., S. 174
(35) ebd., S. 158
(36) ebd., S. 190
(37) ebd., S. 192
(38) ebd., S. 194
(39) CuS 1979, 2, S. 8-23.
(40) vgl. auch A. Rackwitz, Christ und Sozialist zugleich, Hg. G. Jankowski, K. Schmidt, Hamburg 1976, S. 67-84 über Bergpredigt und Kommunistisches Manifest.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-12, 50. Jahrgang, S. 67-73
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2012