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MARXISTISCHE BLÄTTER/493: Marx und Sraffa über Wachstum


Marxistische Blätter Heft 4-11

Marx und Sraffa über Wachstum

von Helmut Knolle


1. Einleitung

Der Komplex von Theorien, die zwischen 1870 und 1920 von bürgerlichen Ökonomen1 entwickelt worden sind, wird heute als Neoklassik bezeichnet. Die Neoklassik war nicht nur gegen Marx gerichtet, sondern auch gegen die frühbürgerliche Politische Ökonomie, insbesondere gegen Adam Smith und David Ricardo. Zunächst stellte sie der Arbeitswertlehre, die Marx von Smith und Ricardo übernommen hatte, eine subjektive Wertlehre entgegen, die als Grenznutzentheorie bekannt geworden ist. Nach dieser Theorie hängen die Marktpreise der Waren nicht vom Arbeitsaufwand ihrer Herstellung ab, sondern von ihrer Knappheit und dem subjektiven Nutzen, den die Kundschaft ihnen zuschreibt. Später stellte sie der Grenznutzenlehre die Theorie der Grenzproduktivität der "Produktionsfaktoren" Arbeit und Kapital an die Seite. Diese Theorie sollte beweisen, dass es im Kapitalismus keine Ausbeutung geben kann. Das erste Lehrbuch auf neoklassischer Grundlage, die "Principles of Economics" von Alfred Marshall, erschien 1890 und war in England lange Zeit das Standardwerk für das Studium der Ökonomie.

Im Jahre 1925 publizierte der junge Italiener Piero Sraffa (1898-1983) einen Artikel, von dem Bertram Schefold in einem Nachwort zur deutschen Ausgabe von Sraffas Hauptwerk schrieb, er habe "das Monument Marshall in Trümmern (zurückgelassen)". Durch diesen Artikel wurde John Maynard Keynes, der Nachfolger von Marshall in Cambridge, auf Sraffa aufmerksam, und er lud ihn ein, nach England zu kommen. Indem Sraffa die Einladung annahm, konnte er nicht nur der faschistischen Diktatur entkommen, sondern fand auch einen äußerst anregenden Kreis von Kollegen und einer Kollegin (Joan Robinson), vor dem er seine neuen Ideen präsentieren konnte. Außer den Fachkollegen gehörten zu seinen Gesprächspartnern in Cambridge der Philosoph Ludwig Wittgenstein und ein Mathematiker, dem er später im Vorwort zu seinem Hauptwerk für die "unschätzbare mathematische Hilfe über viele Jahre hinweg" dankte. Da Sraffa fühlte, dass seine eigenen Ideen noch nicht ausgereift waren, ließ er sich von der Pflicht, Vorlesungen zu halten, entbinden und übernahm die Aufgabe, die Schriften Ricardos vollständig herauszugeben. Die von ihm besorgte zehnbändige Ausgabe der Werke und Briefe Ricardos (Cambridge 1951 ff.) schuf die Grundlage für ein vertieftes Studium dieses Klassikers. Erst 1960 konnte Sraffa endlich sein Hauptwerk "Warenproduktion mittels Waren" veröffentlichen, gleichzeitig in einer englischen und einer italienischen Ausgabe. Die erste deutsche Ausgabe erschien 1974 in der DDR und wurde zwei Jahre später in der BRD nachgedruckt und mit Nachworten von Bertram Schefold versehen [1]. Schon bald fand Sraffa zahlreiche Schüler in England und Italien, während im deutschen Sprachraum bisher nur Schefold (Frankfurt) und Heinz D. Kurz (Graz) als Schüler Sraffas hervorgetreten sind. Ein von Ian Steedman herausgegebenes Sammelwerk in zwei Bänden vermittelt einen Eindruck von dem internationalen Echo, das Sraffas Werk hervorgerufen hat [2].

Obwohl Sraffa sich als Nachfolger Ricardos und entschiedener Gegner der Neoklassik positioniert hatte, wurde er von den meisten Marxisten mit Argwohn betrachtet und von vielen in Bausch und Bogen abgelehnt.

Das ist kaum zu rechtfertigen, denn Sraffa hat mit anderen Methoden ein ähnliches Ziel wie Marx verfolgt, aber er konnte die Widersprüche, die im 3. Band des "Kapitals" zu Tage getreten sind, vermeiden und eine logisch einwandfreie Theorie vorlegen. Dies wird ihm von gut informierten Marxisten auch zugestanden, jedoch mit der Einschränkung, dass seine Theorie "historisch irrelevant" sei [3]. In der Tat fehlen bei Sraffa völlig die Exkurse in die Wirtschaftsgeschichte, die bekanntlich bei Marx einen breiten Raum einnehmen. Das bedeutet aber keineswegs, dass ein Bezug zur Wirtschaftsgeschichte und zu aktuellen Problemen der Wirtschaftspolitik nicht nachträglich hergestellt werden könnte. Davon handelt der letzte Abschnitt dieser Arbeit.

Die Thematik, die Marx im 2. und 3. Band seines Hauptwerks behandelt hat, tangiert mathematische Probleme, auf die er durch seine Universitätsstudien nicht vorbereitet war. Anders als Sraffa hatte er auch keine Freunde und Kollegen, die ihn hätten beraten können. Vor gut hundert Jahren hat Bortkiewicz eine bekannte mathematische Methode angewendet, um das berühmte Transformationsproblem (Transformation der Werte in Preise) einer Lösung näher zu bringen [4]. Seine Anregung wurde aber von deutschen Marxisten nie aufgenommen. Noch in den 1960er Jahren kritisierte Werner Hofmann "das Arbeiten mit Modellen, die, in einer mathematischen Symbolsprache entworfen, nur noch der Umformung im Sinne eines 'relationistischen Kalküls' unterliegen" [5]. Die jüngere Generation, die bei ihm in Marburg studierte, ist ihm darin gefolgt. In dieser Arbeit soll deshalb auch gezeigt werden, dass der Mechanismus der Kapitalakkumulation besser verständlich wird, wenn man ihn, dem Beispiel Sraffas folgend, mit mathematischen Begriffen und Methoden analysiert.


2. Sraffas Preistheorie und die Arbeitswertlehre

Marx illustriert die Arbeitswertlehre an dem Beispiel der Produktion von Garn aus Baumwolle (Das Kapital, 1. Band, 5. Kapitel). Der Wert des Garns setzt sich additiv zusammen aus dem Wert der Baumwolle, dem Wert der verbrauchten Spindeln und der Arbeitszeit der Spinner und Spinnerinnen. Folglich muss der Wert der Baumwolle und der Spindeln bekannt sein, bevor der Wert des Garns bestimmt wird. Die Sache ist einfach, weil die Spinnereien einseitig von den Baumwoll- und Spindelproduzenten beliefert werden, ohne dass sie diese beliefern.

Sraffa betrachtet von Anfang an Modelle mit zwei oder drei Wirtschaftszweigen, die sich gegenseitig beliefern. Er beginnt mit einer geschlossenen Wirtschaft, in der ein Zweig nur Eisen und ein Zweig nur Weizen produziert. Unter Eisen werden hier einfache eiserne Werkzeuge verstanden, die nach einem Jahr abgenutzt sind. Zunächst ist die Produktivität so gering, dass kein Mehrprodukt erzeugt wird. Es gibt also auch keinen Profit. Die Arbeiter werden nicht mit Geld entlohnt, sondern mit Weizen. Im Rahmen der einmal gewählten Technologie müssen die eingesetzten Mengen von Weizen und Eisen in beiden Bereichen in einem festen Verhältnis stehen: jeder Bergarbeiter braucht eine Spitzhacke, jeder Landarbeiter eine Sense, usw. Die Tätigkeit eines Jahres soll durch das folgende Schema beschrieben werden:

8 t Eisen + 120 t Weizen
12 t Eisen + 280 t Weizen


20 t Eisen
400 t Weizen
(1a)
(1b)

Wenn man hier auf der linken Seite in jeder Spalte die Summe bildet, erhält man 20 t Eisen und 400 t Weizen. Die insgesamt eingesetzen Produktionsmittel werden also ohne Mehrprodukt reproduziert.

Über die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in beiden Zweigen wird nichts vorausgesetzt. Man kann zwar von der Menge des Weizens, der an die Arbeiter verteilt wird, auf deren Anzahl schließen, aber das bringt nicht viel. Entscheidend für den Tauschvorgang ist vielmehr die Forderung, dass nach jeder Ernte Weizen gegen Eisen in solcher Proportion getauscht wird, dass der ganze Prozess im nächsten Jahr wiederholt werden kann. Diese Forderung führt zwingend zu dem Preisverhältnis 10:1, denn die Eisenindustrie kann 12 t Eisen abgeben und braucht 120 t Weizen, um ihre Arbeiter zu entlohnen. Auf die Arbeitswertlehre kann also bei der Bestimmung der Preise verzichtet werden. Aber bei Sraffa entscheiden ebenso wie bei Marx objektive Bedingungen der Produktion über die Preise bzw. Werte. Darin unterscheiden sich beide von der Neoklassik, die von einer subjektiven Preistheorie ausgeht.

Im 2. Kapitel von Warenproduktion mittels Waren betrachtet Sraffa noch einmal das Weizen-Eisen-Modell, aber er nimmt an, dass der Weizenanbau aus irgendeinem Grund produktiver geworden ist, sodass mit gleichem Einsatz von Produktionsmitteln 575 t statt 400 t Weizen geerntet werden können. Jetzt sieht das Schema so aus:

8 t Eisen + 120 t Weizen
12 t Eisen + 280 t Weizen


20 t Eisen
575 t Weizen
(2a)
(2b)

Der Überschuss von 175 t Weizen kann jedoch nicht zur Ausdehnung der Produktion von Weizen verwendet werden, weil es keinen Überschuss beim Eisen gibt. Bliebe nun das Preisverhältnis von Weizen zu Eisen 1:10, dann würden dem Agrarunternehmer in einer kapitalistischen Wirtschaft 175 t Weizen als Profit zufallen, was einer Profitrate von 175/400 oder 44% entspräche, während in der Eisenindustrie nach wie vor kein Gewinn abfiele. Wenn aber das Kapital frei beweglich ist, dann haben die Profitraten in verschiedenen Zweigen die Tendenz, sich anzugleichen. Wie kann man nun die Profitrate, die im Gleichgewicht in beiden Zweigen erzielt wird, berechnen? Diese Aufgabe führt auf ein Gleichungssystem, das für den mathematischen Laien ungewöhnlich ist. Bezeichnen wir die Profitrate mit R und die Preise für 1 t Eisen und 1 t Weizen mit p1 bzw. p2, dann lauten die Gleichungen:

(1 + R)( 8 p1
(1 + R)(12 p1
+
+
120 p2)
280 p2)
=
=
20 p1
575 p2

Hier stehen R und die Preise gleichzeitig als Unbekannte. Da man einen Preis willkürlich wählen kann, z.B p2 = 1, haben wir drei Gleichungen für drei Unbekannte. Man kann leicht nachrechnen, dass dieses Gleichunssystem mit R = 0,25, p1 = 15 und p2 = 1 gelöst wird. Das Preisverhältnis ist also jetzt 15 : 1 und nicht mehr 10 : 1. Die Methode, die zu diesem Ergebnis führt, wird unter dem Stichwort "Eigenwerte einer Matrix" in Lehrbüchern der Linearen Algebra behandelt.


3. Voraussetzungen der Akkumulation nach Sraffa

In einer nach Wachstum strebenden Wirtschaft würde aber eine neue Technologie nicht nur die relativen Preise, sondern auch die relativen Mengen verändern. Denn bei dem ursprünglichen Verhältnis 1 : 20 der eingesetzten Mengen entstünde nur beim Weizen ein Überschuss, und dieser könnte mit der gewählten Technologie nicht produktiv verwendet werden, wenn es an Eisen fehlte. Das Problem, ein Mengenverhältnis zu finden, bei dem die Wirtschaft mit der größtmöglichen Rate wachsen kann, führt zu dem Begriff der Standardware, der von Sraffa eingeführt wurde. Die Standardware ist keine einzelne Ware, sondern ein Warenaggregat, das "aus denselben Waren besteht und in denselben Proportionen zusammengesetzt ist wie das (Aggregat) seiner eigenen Produktionsmittel." Die Proportionen der Standardware können mit der gleichen mathematischen Methode berechnet werden wie die Preise. Man findet, dass Einsätze und Aussto der Eisenindustrie mit dem Faktor 1,5 zu multiplizieren sind. Das führt zu dem Schema:

12 t Eisen + 180 t Weizen
12 t Eisen + 280 t Weizen


30 t Eisen
575 t Weizen
(3a)
(3b)

Hier haben wir nun beim Eisen eine Zunahme von 24 t auf 30 t, und beim Weizen von 460 t auf 575 t. Beides entspricht einem Wachstum von 25%. Wenn man im nächsten Jahr je 15 t Eisen in beiden Zweigen einsetzt, außerdem 225 t Weizen in der Eisenindustrie und 350 t Weizen in der Landwirtschaft und die Anbaufläche ebenfalls vergrößert, dann hat man auch im 2. Jahr 25% Wachstum. Bei einem bestimmten Mengenverhältnis ist also ein exponentielles Wachstum möglich, solange die natürlichen, nicht erneuerbaren Ressourcen (Land, Eisenerz) es erlauben.

Nun stellt sich aber noch die Frage: wie kann der Übergang von Schema (2a/2b) zu Schema (3a/3b), der dem Wachstum vorausgehen muss, in der Praxis vollzogen werden? Konkret: Woher soll die Eisenindustrie die zusätzlichen 4 t Eisen Produktionsmittel nehmen? Die Antwort ist: sie könnte vorübergehend weniger Eisen, etwa 10 t, an die Landwirtschaft liefern, die folglich ihr Volumen um 16,7% oder 1/6 reduzieren müsste, und mit den verbleibenden 10 t ihr Volumen in einem ersten Schritt um 25% ausdehnen

10 t Eisen + 150 t Weizen
10 t Eisen + 233 t Weizen


25 t Eisen
479 t Weizen

Wegen des gesunkenen Weizenpreises könnte sie die 150 t Weizen, die sie jetzt braucht, schon mit 10 t Eisen bezahlen. Die Landwirtschaft wäre gezwungen, vorübergehend mit geringerem Einsatz zu arbeiten, könnte aber wegen der gestiegenen Produktivität auch dann noch genügend Weizen produzieren. Dieser Anpassungsvorgang kann sogar ohne jede Kreditaufnahme bei Banken und ohne Geldschöpfung ablaufen. Die These von Hans Christoph Binswanger, dass das Wachstum der Realwirtschaft durch das Wachstum der Geldmenge angetrieben wird, ist daher in Frage gestellt [6].


4. Die Reproduktionsschemata von Marx

Das Weizen-Eisen-Modell von Sraffa soll nun mit dem Reproduktionsschema mit zwei Abteilungen von Marx verglichen werden (Das Kapital, 2. Band, 3. Abschnitt, Einfache Reproduktion). Die eine Abteilung produziert nur Produktionsmittel, die andere nur Konsumtionsmittel. Als konstantes Kapital c bezeichnet Marx das in Produktionsmitteln angelegte Kapital, als variables Kapital v das für Löhne der Arbeiter verwendete Kapital. Ferner ist m der Mehrwert und m/v die Mehrwertrate.Die Arbeiter kaufen mit ihrem Lohn nur Konsumtionsmittel, während die Kapitalisten den Mehrwert für beide Arten von Gütern ausgeben können. Anders als bei Sraffa gehen Kapital und produzierte Waren nur als Wertgrößen in die Rechnung ein. Marx betrachtet dann das folgende Schema (zur Erläuterung: 4000c ist zu lesen als "4000 Geldeinheiten konstantes Kapital", usw.):

I. Produktion von Produktionsmitteln

Kapital        
Warenproduktion

4000c
4000c

+
+

1000v
1000v

+

1000m

=
=

5000
6000


=

4000
c1
+

2000
c2

II. Produktion von Konsumtionsmitteln

Kapital        
Warenproduktion

2000c
2000c

+
+

500v
500v

+

500m

=
=

2500
3000


=

1000
v1
+

500
v2
+

1500
m1 + m2

Jetzt zeige ich, dass das Weizen-Eisen-Modell von Sraffa als Variante des Reproduktionsschemas von Marx aufgefasst werden kann. Eisen und Eisengeräte identifiziere ich mit Produktionsmitteln, ebenso den Teil des Weizens, der als Saatgut gebraucht wird. Der übrige Weizen ist Konsumtionsmittel. Als Geldeinheit wähle ich den Preis von 1 t Weizen. Da wir bereits wissen, dass 1 t Eisen soviel kostet wie 15 t Weizen, haben wir in der Abteilung I:

Kapital        
Warenproduktion
120c
120c
+
+
120v
120v
+
60m
=
=
240
300

In Abteilung II besteht das konstante Kapital aus 12 t Eisen zum Preis von 180 Geldeinheiten und dem Saatgut. Wenn das Kapital die gleiche "organische Zusammensetzung" haben soll wie in Abteilung I, dann muss v=c=230 sein. Dies ist dann der Fall, wenn von den 280 t Weizen, die insgesamt als Kapital eingesetzt werden, 50 t als Saatgut dienen, sodass das konstante Kapital aus 180 Geldeinheiten in Eisen und 50 Geldeinheiten in Weizen besteht. Wenn wir dies annehmen, dann haben wir in der Abteilung II:

Kapital        
Warenproduktion
(180
(180
+
+
50)c
50)c
+
+
230v
230v
+
115m
=
=
460
575

Im obigen Schema von Marx ist die Summe des variablen Kapitals und des Mehrwerts in Abteilung I (1000v + 1000m) gleich dem konstanten Kapital in Abteilung II (2000c). Anders ausgedrückt: v1 + m1 = c2 . Die Abteilung II verbraucht den ganzen Überschuss an Produktionsmitteln im Wert von 2000 Geldeinheiten, sodass für Abteilung I nur Produktionsmittel im Wert von 4000 Geldeinheiten, soviel wie am Anfang, übrig bleiben. Deshalb ist kein Wachstum möglich. Am Schluss des Kapitels "Akkumulation und erweiterte Reproduktion" betrachtet Marx nun das folgende "Ausgangsschema für Akkumulation auf erweiterter Stufenleiter":

Abt.
Abt.
I
II
4000c
1500c
+
+
1000v
750v
+
+
1000m
750m
=
=
6000
3000

Hier ist jetzt v1 + m1 grösser als c2 . Dadurch werden Produktionsmittel im Wert von 500 Geldeinheiten frei, um die Produktion in Abteilung I zu erweitern. Die Abteilung I kann also wachsen, aber sie kann nur dann dauerhaft wachsen, wenn auch die Abteilung II wächst und dadurch mehr Konsumtionsmittel für die Arbeiter der Abteilung I liefern kann. Es folgen langwierige Berechnungen, die anscheinend darauf abzielen, den Prozess der Akkumulation quantitativ zu beschreiben und herauszufinden, welche Veränderungen des Schemas "zum Zweck der Akkumulation" notwendig sind. Man kann darüber streiten, ob die von Marx gewählte Vorgehensweise der Weisheit letzter Schluss ist. Jedenfalls ist es schwierig, in seinen Berechnungen irgendein System zu entdecken.


5. Bezug zu Wirtschaftsgeschichte und -politik

Die Industrieproduktion nicht länger wachsen zu lassen, ist heute in den alten Industrieländern eine Forderung der ökologischen Vernunft. Gegen die Forderung des Nullwachstums wird das Argument ins Feld geführt, dass dadurch die Arbeitslosigkeit zunehmen würde. Hier soll gezeigt werden, dass Nullwachstum ohne Abeitslosigkeit möglich ist, wenn vorher die Wirtschaft in geeigneter Weise umstrukturiert wird. Ähnliche Ausführungen finden sich auch in meinem Buch "Und erlöse uns von dem Wachstum" (Bonn 2010).

Die Betrachtung des Schemas (2a/2b) und seiner Modifikation (3a/3b) hat gezeigt: schnelles Wachstum ist nur möglich, wenn die produzierten Mengen von Produktionsmitteln und Konsumgütern in einem bestimmten Verhältnis stehen. Will man nun erreichen, dass eine Wirtschaft, die jahrzehntelang immer gewachsen ist oder auf Wachstum eingestellt war, zu einem Nullwachstum mit Vollbeschäftigung übergeht, dann darf der Überschuss nicht mehr investiert, sondern muss konsumiert werden. Das ist aber kurzfristig nur bei den Konsumgütern möglich, weil Produktionsmittel nicht für den Konsum geeignet sind. Aus diesem Dilemma gibt es heute zwei Auswege. Entweder muss man mit den gleichen Technologien, die bei der Herstellung von Produktionsmitteln angewendet werden, Konsumgüter (Autos, Chemieprodukte u.a.) herstellen. Oder man muss den Strukturwandel, der das Wachstum ermöglicht hat, mindestens teilweise wieder rückgängig machen.

Diese Überlegungen sollen jetzt angewendet werden auf die Optionen, die sich der deutschen Wirtschaft in den Jahrzehnten vor dem ersten und nach dem zweiten Weltkrieg anboten. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts konnte die deutsche Wirtschaft sehr schnell wachsen, weil Bergbau, Stahlerzeugung und Maschinenbau sehr stark ausgebaut wurden. Umfangreiche Investitionen in die Infrastruktur (Eisenbahnbau) erhöhten die Nachfrage nach Stahl und förderten das Wachstum. Um 1900, als das Bahnnetz vollendet war, hätte man die Kapazitäten der Stahlindustrie wieder reduzieren müssen. Das wurde jedoch von dem reaktionären Bündnis zwischen preussischem Militär und rheinischer Schwerindustrie verhindert, und der überschüssige Stahl wurde für die Aufrüstung verwendet. So blieb es bis 1945. Aber seit der Erfindung des Automobils, des Elektromotors und der Kunststoffe (Plastik, synthetische Fasern) gibt es auch die Option der industriellen Massenproduktion von Konsumgütern. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Autoindustrie in der BRD zu einem der wichtigsten Abnehmer von Eisen und Stahl. Der Erwerb eines eigenen Autos wurde auch für Arbeiter möglich, und sein privater Gebrauch wurde zur bevorzugten Form des Luxuskonsums ("Fordismus"). Die Landwirtschaft wurde immer mehr mechanisiert, Arbeitskräfte wanderten von der Landwirtschaft in die Industrie, die Preise der Nahrungsmittel nahmen ab. Die Wachstumsrate war hoch, aber auch der Konsum der Arbeiter. Sie konnten allerdings nicht ganz beliebige Waren konsumieren, sondern waren in der Hauptsache auf die Produkte der Metall- und Chemieindustrie angewiesen, weil nur diese in ständig wachsender Zahl produziert werden können.

Die negativen ökologischen Folgen des fordistischen Kapitalismus sind bekannt. Um zu einer ökologischen Wirtschaft zu gelangen, müsste die ganze Wirtschaftsstruktur verändert, die Dominanz der Metall- und Chemieindustrie abgebaut werden. Die neuesten Subventionen für die Autoindustrie (Abwrackprämie, Opel) haben zwar kurzfristig Arbeitsplätze gesichert, aber der Strukturwandel, der für ein Nullwachstum ohne Arbeitslosigkeit notwendig wäre, wurde dadurch wieder einmal bis auf unbestimmte Zeit vertagt.


Helmut Knolle, Wohlen b. Bern, Wirtschaftswissenschaftler


Anmerkungen:

[1] Sraffa, P. Production of Commodities by Means of Commodities, Cambridge 1960 (deutsch: Warenproduktion mittels Waren, mit Nachworten von Bertram Schefold, Frankfurt a.M. 1976)

[2] Steedman, Ian. Sraffian Economics

[3] vgl. Napoleoni, C. Grundzüge der modernen ökonomischen Theorien (aus d. Ital.). edition suhrkamp 244. Frankfurt a.M. 1971. Dort heisst es: "Die Vorstellung von einem im Mehrprodukt begründeten Wirtschaftsprozess wurde von den Klassikern in logisch unzureichender aber praktisch relevanter Form formuliert, bei Sraffa ist sie logisch streng aber historisch irrelevant" (S. 141).

[4] Bortkiewicz, L . Zur Berichtigung der grundlegenden theoretischen Konstruktion von Marx im 3. Band des 'Kapitals'. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 1907, S. 319-335

[5] Hofmann, W. Grundelemente der Wirtschaftsgesellschaft. Reinbek 1969

[6] Binswanger, Hans Christoph. Vorwärts zur Mässigung, Hamburg 2009, S. 139


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 4-11, 49. Jahrgang, S. 73-78
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2011