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MARXISTISCHE BLÄTTER/481: Hartz IV und die zynische Arroganz der Macht


Marxistische Blätter Heft 2-11

Hartz IV und die zynische Arroganz der Macht

Von Otto Meyer


Die Herrschaftspolitiker dieses Landes schämen sich nicht, für ihre eitlen Ränkespielchen die Not von Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auszunutzen. Nach der Auflage des Bundesverfassungsgerichts, die Hartz-IV-Regelsätze spätestens bis zum 1.1.2011 grundgesetzkonform zu berechnen und entsprechende Unterstützungssätze zu gewähren, durfte zunächst die z. Zt. im Arbeits- und Sozialministerium residierende Ursula von der Leyen über Monate die besorgte Mutter der Nation geben und allein die Medien- und Politbühnen des Landes bespielen: endlich werde sie als die siebenfach bewährte Mutter die Sache der Armen und Entrechteten - insbesondere die Sache der in den Hartz-Haushalten vernachlässigten Kinder - in die Hand nehmen, was die Vorgänger-Alphamänner von den Konkurrenzparteien Rot und Grün bei der Einführung der Hartz-Gesetze sträflich vernachlässigt hätten.

Nach langwierigen Berechnungen, die offenbar nur mühsam von ihren Ministerialen für die angeblich so maroden Staatskassen "passend" zu machen waren, präsentierte von der Leyen ihre neuen Hilfesätze: Statt der zuletzt seit 2009 gewährten 359 Euro solle der Regelsatz für einen Alleinstehenden mit den prozentualen Abschlägen für MitbewohnerInnen in einer "Bedarfsgemeinschaft" - zum 1. Januar 2011 um ganze 5 Euro angehoben werden. Das wäre eine "Erhöhung" um 1,4 % und würde damit nicht einmal die Hälfte der allgemeinen Teuerung seit 2009 ausmachen; es bedeutete in Wahrheit die Ansage einer nochmaligen realen Kürzung. Tatsächlich ist die schleichende Verminderung der realen Kaufkraft der Hartz-Regelsätze seit ihrer Einführung in 2005 mit damals 345 Euro (West) und 331 Euro (Ost) noch weit höher, denn die ungefähr im Jahresrhythmus bewilligten Mini-"Anpassungen" blieben regelmäßig hinter den Preissteigerungen um gut die Hälfte zurück, sodass die reale Schrumpfung der Hilfssätze seit 2005 inzwischen fast 10 Prozent ausmacht. Dabei lag der Regelsatz schon damals um ca. ein Drittel unter dem vom Sozialgesetzbuch der BRD geforderten "soziokulturellen Existenzminimum", worauf Sozialverbände immer wieder vergeblich hingewiesen haben.

Das Bundesverfassungsgericht hatte gefordert, dass nachweisbare Bedarfsberechnungen vorzulegen seien und nicht Schätzungen je nach Kassenlage. Ministerin von der Leyen behauptet, dass ihr Haus gerade das jetzt erstmals korrekt vorgenommen habe. Kritische Sozialwissenschaftler weisen allerdings darauf hin, dass dies bisher mitnichten der Fall ist, die geforderte untere allgemeine Einkommensreferenzgruppe sei vielmehr mehrfach trickreich nach unten verändert worden, um auf die jetzt vorgelegten, weiterhin viel zu niedrigen Mehrbedarfssätze zu kommen. Um auf ein besonders skandalöses Beispiel hinzuweisen, was Ministeriumsbeamte sich so auszudenken vermögen, wenn sie den Auftrag erhalten, die verhartzten Armen weiter unter die Verelendungsgrenze zu schieben, sei nur folgendes angeführt: Im bisherigen Warenkorb für das soziokulturelle Existenzminimum war auch ein Restaurantbesuch pro Monat enthalten. Der wurde jetzt gestrichen und stattdessen lediglich der Supermarktpreis für die dabei verzehrten Lebensmittel noch eingerechnet. Ebenfalls herausgerechnet wurde der durchschnittliche Bedarf für Rauchwaren und alkoholische Getränke. Auf Letzteres weist die Ministerin gern mit Stolz hin, wahrscheinlich im Vertrauen darauf, Bildzeitungsvolkes Stimme nachzukommen.

Aber für die armen Hartz-Kinder, da werde Frau von der Leyen endlich etwas tun! Die Schmuddelkinder der Nation in den Hartz-Bedarfsgemeinschaften sollten eine vollgepackte Schultüte bekommen, versprach sie. Das Bundesverfassungsgericht habe ja verlangt, dass deren Bedarfe eigenständig zu berechnen seien und nicht einfach wie bisher als verminderter Prozentsatz von den Regelsätzen der Erwachsenen abgeleitet werden dürften; Kinder seien doch mehr als einfach kleine Erwachsene, sie hätten einen eigenen Rechtsanspruch auf ein menschenwürdiges Dasein! Ihr Haus werde jetzt ein "Bildungspaket" vorbereiten und es all diesen Kleinen mit auf den Lebensweg geben. Gedacht sei etwa an Nachhilfestunden und Schulspeisung sowie an Freizeitaktivitäten im Sport- oder Musikbereich. Allerdings werde man dafür nicht etwa den Eltern mehr Geld "in die Hand geben", sondern extra zu beantragende Gutscheine für bestimmte, den Kindern gemäße und ihren jeweiligen Erfordernissen angepasste Aktivitäten. Großzügig übersieht die Ministerin hier z. B. den allseits bekannten Umstand, dass bisher längst nicht in allen Schulen eine warme Mahlzeit in schulischer Gemeinschaft an mindestens drei Tagen in der Woche angeboten wird, was aber im Gesetzestext Voraussetzung für die Gewährung der Kostenübernahme ist.

Bald drängelte sich der SPD-Vorsitzende Gabriel polternd nach vorne und reklamierte für sich und seine angeblich runderneuerte "Arbeiterpartei" den Part des Retters aus dem Hartz-Schlamassel. Etwas verschämt schlossen sich die Grünen an. Beide Parteien behaupteten, sie würden mit Hilfe des Bundesrates, wo CDU und FDP z. Zt. keine ausreichende Mehrheit haben, von der Leyens Gesetzentwurf zu Fall bringen, falls das Vorhaben nicht entscheidend aufgebessert werde. Von der Leyen konterte, so schnell würden SPD und Grüne sich nicht aus der Verantwortung stehlen können, sie hätten schließlich in ihrer Regierungszeit die bisher grundgesetzlich offenbar defizitären Hartz-Gesetze beschlossen - um so geschickt davon abzulenken, dass CDU/CSU ebenso wie die FDP schon damals mittels des Bundesrates kräftig mit im Boot für die Hartz-Gesetze gesteuert und gerudert haben. Ausgebootet, versuchte die "Partei Die Linke" (PDL) vom Rande der Polit- und Medienbühne sich mit halbwegs kritischen Zwischenrufen bemerkbar zu machen, was für das große Massenpublikum allerdings kaum wahrnehmbar ausfiel. Im Bundestag votierten die Regierungsparteien mit ihrer Mehrheit für den Gesetzentwurf, im Bundesrat obsiegte wie angekündigt die Opposition, der Vermittlungsausschuss musste angerufen werden.

Aus dem üblen Ränkespiel der etablierten Parteistrategen - einem zynischen Trauerspiel für die betroffenen Hartz-Abhängigen - wurde endgültig eine Posse, als die SPD wohl erkannt hatte, dass mit dem wuseligen Gabriel oder dem Langweiler Steinmeier nicht mehr viel Staat zu machen war. Sie schickte ihre Stellvertreterin im Parteivorstand, Manuela Schwesig, Sozial- und Gesundheitsministerin in Mecklenburg-Vorpommern, auf die große Berliner Bühne. Für einige Wochen wurde für die mediale Öffentlichkeit ein intimes Kammerspiel der beiden Politdamen von der Leyen und Schwesig inszeniert. Sie sollten für den Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat einen Kompromiss aushandeln. In den Herrschaftsmedien dominierte über Wochen von der Leyen: sie hätte die junge Kollegin von der SPD schon längst auf ihrer Seite gezogen, hieß es. Man wäre sich fast einig, insbesondere das "Bildungspaket" sei eine gute Sache. Aber leider, leider würden immer neue Forderungen von außen durch die Partei-Granden aus SPD und Grünen ins Spiel gebracht: Einführung von Mindestlöhnen; Zuständigkeitsverlagerung für die Bildungspakete von den Arge-Ämtern auf die Sozial- und Jugendämter der Städte und Gemeinden, mehrere Milliarden für diese Arbeit vom Bund an die Kommunen, usw. Und dann die Mega-Forderung: statt der 5 Euro Erhöhung sollten es auf einmal 8 Euro sein, also ganze 3 Euro mehr.

In der ARD-Sendung mit Anne Will am 13.2.2011 unter dem Titel "Das Hartz-Theater - was bekommt die Politik noch gebacken?" trieb man die unwürdigen Politspielchen auf die Spitze; die leicht überforderte Moderatorin war krampfhaft bemüht, die beiden Politikerinnen von der Leyen und Schwesig den Zuschauern als "Duellantinnen" vorzuführen, was nicht so ganz funktionierte: Wer von den beiden Damen habe denn nun für ihre Seite das meiste herausholen können? Anne Will wollte das auch von den MitdiskutantInnen wissen, die sich aber solch üblem Ranking nicht so recht anschließen wollten. Im Laufe der Vorwoche war auch noch den beiden Damen von ihren Politbossen die weitere Ausarbeitung für den Vermittlungsausschuss aus der Hand genommen und an die drei gestandenen Ministerpräsidenten Beck, Böhmer und Seehofer übergeben worden. Dumm gelaufen, kann man da nur sagen. Immerhin wiesen einige der geladenen Mitdiskutanten auf den faden Beigeschmack hin, wie hiermit der Öffentlichkeit doch nur wieder einmal bewiesen worden war: die Frauen schaffen's eh nicht, da müssen schon die Männer ran! Und als Anne Will gar noch per eingeblendeter Kameraaufzeichnungen einen zehnjährigen Jungen in der Wohnung seiner Hartz-Familie vorführte, der in die Linse hinein betteln durfte: "Kann man uns nicht wenigstens die 5 Euro schon mal auszahlen", war die Grenze zur Menschenverachtung und Missachtung der Menschenwürde im öffentlich-rechtlichen Sender der ARD endgültig überschritten.

Inzwischen gilt der Streit um die Ausgestaltung der Hartz-IV-Regelsätze als beigelegt, beide Seiten reklamieren für sich, sie hätten sich mit ihren Forderungen weitgehend durchgesetzt. Die Regierungsseite weist auf das "großzügige Bildungspaket" hin, von dem jetzt auch Kinder aus anderen bedürftigen Familien profitieren sollen. Die SPD hat angeblich erst zugestimmt, als die Kompetenz hierfür den vor Ort agierenden Jugend- und Sozialämtern gegeben und auch eine Kostenübernahme durch den Bund an die Kommunen zugesagt worden war. Niemand hinterfragt mehr den Skandal, dass arme Kinder aus der Gesellschaft der angeblich gleichberechtigten Marktteilnehmer ausgeschlossen und für ihre Mitschüler sichtbar stigmatisiert werden - etwa bei der Essensausgabe in der Schule, wenn sie mit Bezugsscheinen statt Geld hantieren müssen. Auch war es offenbar kein Problem, die öffentliche Demütigung der Eltern als unfähige Erzieherinnen und Erzieher behördlich festzuschreiben. Hinzu kommen die Gängelungen auf den bekannten Ämtern, die wohl viele davon abhalten werden, überhaupt Anträge zu stellen.

Die Politikwissenschaftlerin Jutta Roitsch weist darauf hin, wie fast unmöglich es sein wird, dass bedürftige Kinder z. B. rechtzeitig Nachhilfeunterricht bekommen: Es sei "nach der Gesetzeslage nicht vorgesehen, Nachhilfe zu gewähren, wenn das Sitzenbleiben feststeht oder das Hartz-IV-Kind auf die Idee kommen sollte, mit Nachhilfe seine Noten zu verbessern, um es auf eine weiterführende höhere Schule zu schaffen. Im Zweifel soll der behördliche Vormund in den Schulen nachfragen. Damit stolpern dann die Lehrerinnen und Lehrer in eine Falle: Aus datenschutzrechtlichen Gründen dürfen sie eigentlich nicht wissen, welche Schülerinnen und Schüler von Hartz IV oder Sozialhilfe leben. Andererseits müssten sie Versetzungsprobleme frühzeitig bemerken und den Eltern zu Nachhilfe-Anträgen raten."(1)

Besonders zynisch und arrogant erscheint der Stolz der SPD-Seite, sie habe mehr für die Betroffenen herausgeholt, weil schließlich 8 statt der vorgesehen 5 Euro gezahlt werden sollen. Sie verschweigt dabei, dass es diese lächerlichen 3 Euro mehr erst zum 1.1.2012 geben soll. Das würde aber tatsächlich in realer Kaufkraft wiederum eine Kürzung bedeuten, denn der schon länger nach Gesetzlage im nächsten Jahr vorgesehene Inflationsausgleich auf den zur Zeit noch geltenden Regelsatz von 364 wird damit wiederum nicht einmal halb erreicht. Nein, die SPD hat ihre asozialen Untaten, insbesondere aus der Zeit der Einführung der Hartz-Gesetze, keineswegs aufgearbeitet, wie sie gerne glauben machen möchte. Weder ihre neu aufgebaute Politdame Schwesig noch der altvordere Ministerpräsident und kurzzeitige SPD-Vorsitzende Kurt Beck haben in den Vermittlungsverhandlungen die übrigen fatalen Verschlechterungen für auf Alg. 2 Angewiesene zum Thema gemacht.

Die von Frau von der Leyen im Gesetzentwurf vorgelegten Kürzungen sind nämlich noch viel weitergehender: Ein Hartz-IV-Empfänger hat nach bisheriger Gesetzeslage Anspruch auf angemessenes Wohngeld; nunmehr soll ab 2011 hieraus der Heizkostenzuschuss komplett gestrichen werden. Sarrazin lässt grüßen, er hatte in seiner Zeit als Berliner Finanzsenator (SPD), den auf Sozialhilfe Angewiesenen schon des Öfteren das Anziehen dicker Pullover statt Heizen empfohlen. Des Weiteren ist die Streichung des bisher auch an Hartz-BezieherInnen gezahlten einjährigen Elterngeldes nach der Geburt eines Kindes von monatlich 300 Euro vorgesehen. Zumeist unterschwellig - gelegentlich aber auch schon offen sozial-kulturell rassistisch - argumentieren bei diesem Thema Unions- und besonders FDP-Politiker, die Elterngeldauszahlung an Hilfsempfängerinnen habe sich als ein verkehrter Anreiz zur vermehrten Kinderaufzucht in Unterschichtskreisen erwiesen. "Spätrömische Dekadenz" werde hierzulande mit den Auswüchsen des deutschen Sozialstaats gefördert, warnte der Bundesaußenminister Westerwelle und wollte damit anspielen auf die Ausbreitung eines arbeitslosen Proletariats im antiken Rom, das nur begrenzt und lediglich für einige Jahrzehnte ruhig gestellt werden konnte mittels ausreichender Gewährung von "Brot und Spielen".

Die SPD und die Grünen haben ebenfalls keinen Anstoß daran genommen, dass die Beiträge, die bisher auf niedrigem Niveau für Hartz-IV-Berechtigte an die Rentenversicherungskasse gezahlt wurden, nunmehr gänzlich entfallen sollen. Das bedeutet: noch mehr Armut im Alter und die Abwälzung des Einnahmeausfalls der Rentenkassen auf die Versicherten. Außerdem soll das so genannte "Übergangsgeld zur Förderung der Selbständigkeit", das bisher arbeitslos Gewordene beantragen konnten, komplett gestrichen werden - unabhängig davon, wie viele Jahre vom Arbeitnehmer in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt worden ist. Die Enteignung und Verarmung sowie die permanente Diskriminierung der länger Arbeitslosen soll also gesteigert werden.

Spätestens mit Durchsetzung der Hartz-Gesetze unter Schröder und Fischer hatte die neoliberale Kapitalstrategie der massiven Senkung von Löhnen, Sozialkosten und Unternehmenssteuern in der BRD ihren entscheidenden Durchbruch errungen. Diese beiden ehemaligen Spitzenpolitiker (heute mit hochdotierten Kapital-Vorstandsposten ausgestattet), haben das Ihre getan, um ihre Parteien seinerzeit auf den "rechten" Weg zu bringen. Joschka Fischer rief damals auf einem Grünen-Parteitag einigen Murrenden zu: "Liebe Freundinnen und Freunde, ihr könnt nicht Politik machen gegen die internationalen Finanzmärkte!" Solch alternativlose Kapitallogik muss den grünen "Freunden" eingeleuchtet haben, sie trugen in ihrer Mehrheit die Politik der Verarmung gegen die Lohnabhängigen und zugleich der Vergünstigungen für die Besitzenden mit. Noch offener und im Basta-Stil dekretierte Gerhard Schröder vor GenossInnen wie vor Industriebossen die Notwendigkeit seiner Agenda-2010- und Hartz-Gesetze. Im "Spiegel" (Nr. 15, 2003) wurde über Schröders Ansage, wie seine Regierung jetzt mit dem Problem der Arbeitslosigkeit umgehen werde, das Folgende aus seiner Rede berichtet: "Von den 4,6 Millionen Arbeitslosen sei nur ein Drittel arbeitswillig, 'die suchen und finden'. Ein weiteres Drittel lasse sich immerhin 'ziehen und locken'. Das restliche Drittel hingegen müsse der Staat 'schieben'. Bei diesen Menschen gelte es, 'eine Mentalität zu brechen'."

"Mentalität" bedeutet laut Duden die "Geistes- und Gemütsart; besondere Art des Denkens und Fühlens." Die "Mentalität" gelte es also bei "diesen Menschen" mit den Hartz-Gesetzen "zu brechen"! Das war die offene Ankündigung eines Angriffes auf "die Würde des Menschen" und damit die Ansage eines massiven Verfassungsbruches durch den sozialdemokratischen Kanzler der BRD. Denn immer noch sollen in diesem Land die Grundrechte unabänderlich in Kraft sein, wie sie in Artikel 1 - 20 definiert sind. In GG. Artikel 1 heißt es: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Kein bekannter Hochschuljurist oder Verfassungsrichter reichte damals eine Klage ein; es gab kaum nennenswerten Aufschrei des Entsetzens und kaum Proteste oder Warnungen, weder von den Gewerkschaften noch von den Kirchen. Die anfänglich spontan von Arbeitslosen vor allem im Osten organisierten Montagsdemonstrationen sind inzwischen weitgehend abgeklungen. Immerhin führte der Unmut über die Agenda-Politik bei der SPD zum massiven Mitgliederschwund und letztendlich mit zur Gründung einer neuen, linkssozialdemokratischen Partei, der PDL.

Von Genossen aus der "Partei Die Linke" wie auch von Gewerkschaftlern wird oft beklagt, dass die Hartz-IV-EmpfängerInnen als direkt Betroffene z. Zt. so wenig Protestbereitschaft zeigten. Solche Klagen gehen m. E. in mehrfacher Weise am Kern des Skandals vorbei. Wer länger die Abhängigkeiten von den Arge-Ämtern hat erdulden müssen, ist nicht nur verarmt, sie oder er ist auch vielfach gedemütigt, entehrt und entwürdigt worden. Mutlosigkeit breitet sich aus, das Selbstwertgefühl bleibt nicht unberührt von der allgemeinen Zuschreibung durch die medial zugerichtete Mehrheitsgesellschaft. Die Rausgeworfenen sollen ja nach der Kapitallogik - Fischers "Finanzmärkten" - die Konkurrenz der "Ware Arbeitskraft" anstacheln und damit Druck auf die Löhne insgesamt ausüben. Dazu bedarf es neben der materiellen Verarmung auch einer moralischen Stigmatisierung: Wer keine Arbeit finden kann, soll selber schuld sein, weil faul oder asozial von Geburt. SPD und Grüne propagierten bei der Einführung, sie wollten "fördern und fordern". "Gefördert" wird seither die Zurichtung zu Billiglöhnern, "gefordert" wird mittels Herabstufung berechtigter Lebensansprüche und permanenter Diskriminierungen. Es geht nicht nur um die vorangetriebene materielle Armut, das "Verhartzen" umfasst mehr; es geht zugleich um Entwürdigung und Ausgrenzung ins Elend all derer, die trotz aller "Fördermaßnahmen" der Arge-Ämter (dem "Ziehen und Locken", das Gerhard Schröder seinerzeit dem mittleren Drittel der Arbeitslosen androhte) keinen auskömmlichen Job finden können, weil schlicht von den Kapitalbesitzern zu wenig ausreichend bezahlte Arbeitsplätze angeboten werden.

Man könnte eine historische Parallele anführen und behaupten, dass mit den Hartz-Gesetzen eine Form von modernem "Lumpenproletariat" wieder geschaffen werden soll, strukturell analog zu den Zeiten der "ursprünglichen Akkumulation". In jener Frühphase des europäischen Kapitalismus ging es darum, die Masse der Kleinbauern und Leibeigenen gänzlich zu enteignen und aus ihren vormaligen Existenzbedingungen in die Städte abzudrängen. Konnten sie dort in den aufkommenden Manufakturbetrieben keine Anstellung finden oder verließen sie die Fabrik wegen zu harter Arbeit und zu geringer Entlohnung, blieb ihnen nur das Betteln oder die kaum noch vorhandenen Armenhäuser. Das wurde jedoch streng mit drakonischen Strafen wie Gefängnis, Schlägen und "An den Pranger Stellen" geahndet, zur allgemeinen Abschreckung.

Die Rolle des Prangers scheinen heute die Herrschaftsmedien übernommen zu haben, nicht zuletzt auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten mit ihren inflationär aufgebauschten Talkrunden, wo fast immer ein oder mehrere "arme Betroffene" vorgeführt werden. In abgeklärter Arroganz und ideologischer Überheblichheit dürfen dann die geladenen "Fachleute" den Armen erklären, was sie falsch gemacht haben oder auch, wie man das Ganze vielleicht anders hätte regeln können; aber leider fehlten dem Staat dazu ja die Mittel. Der Zynismus derartiger Behauptungen bei gleichzeitig bereitgestellten staatlichen "Rettungsschirmen" in Höhe von mehreren hundert Milliarden für die Reichen als Banken- und Konzernbesitzer scheint niemandem aufzufallen.

Die für die Öffentlichkeit theatralisch aufbereiteten Machtspielchen der Politiker dienen zwar auch der allgemeinen Unterhaltung und Ablenkung. Doch das eigentliche Ziel ist die Abschreckung der noch brav und gefügig Arbeitenden. Denn der Kurs der Absenkung der Löhne und der noch bestehenden der Sozialleistungen soll unbedingt weitergefahren werden. Und keineswegs sind die deutschen Kapitalmanager bereit, andere Schlüsse aus dem bisherigen Verlauf der weltweiten Wirtschaftskrise zu ziehen, wie sie sich jedem vernünftig Denkenden eigentlich aufdrängen müssten. Doch im Kapitalismus geht es nicht nach Vernunft und richtigem Denken, sondern nach Kapitallogik. Und die ist genuin menschenverachtend.


Otto Meyer. Münster, Pfarrer i.R.


Anmerkung:
(1) Jutta Roitsch, "Grundrechte nur gegen Bezugsschein",
in "Blätter f. deutsche und internationale Politik", S. 31.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-11, 49. Jahrgang, S. 24-29
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2011