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MARXISTISCHE BLÄTTER/473: "Stuttgart 21" nach dem "Schlichterspruch"


Marxistische Blätter Heft 1-11

"Stuttgart 21" nach dem "Schlichterspruch"

Von Klaus Mausner


Im vergangenen Jahr war die Volksbewegung gegen S 21 zum elektrisierenden Symbol herangewachsen, sie wurde zur "Mutmacher-Bewegung", zum Vorbild für erfolgreichen zivilen Widerstand gegen ein monopolistisches Megaprojekt. Nichts schien sie mehr aufhalten zu können!

Da gelang der Überraschungscoup der anderen Seite unter der Regie von Heiner Geissler, diese Bewegung zumindest vorläufig wieder einzufangen, zu "versachlichen" und in die gewohnten Bahnen der "Mediendemokratie" zurückzulenken.

Die Mappus-CDU-Landesregierung war vorher tief in die Defensive geraten. Jetzt musste sie zwar "Kreide fressen", "auf Augenhöhe" mit den Protestlern verhandeln - aber sie kam so "wieder von der Wand weg". konnte eine "geläuterte CDU" simulieren und in Umfragen wieder zulegen! Zur Ausgangslage:

Anfang der 90er Jahre beschloss die Kohl-Regierung mit Unterstützung aller Parteien außer der PDS die Umwandlung der staatseigenen Bundesbahn in die Bahn AG mit dem Ziel der weiteren Privatisierung und des Börsengangs.

Ein Bestandteil dieses Privatisierungskurses war der Verkauf von bahneigenen Immobilien. In diesem Zusammenhang "entdeckte" das unselige Triumvirat vom ersten Bahn-AG-Chef Dürr aus dem Daimler-AEG-Management, CDU-Bundesverkehrsminister Wissmann, dem CDU-Landeschef Teufel und dem CDU-OB von Stuttgart Rommel, dass mitten in der Stuttgarter Innenstadt ca. 100 ha Bahnfläche für andere Nutzung "befreit" werden könnten, vorausgesetzt, der Hauptbahnhof würde "versenkt".

Das widersprach zwar der Stuttgarter Geographie, dem Talkessel, umgeben von Mergelhügeln, und dem gewachsenen Stadtbild, aber mit Hilfe modernster Technik würde das schon gehen. Die Vision eines futuristischen Tiefbahnhofs in Kombination mit einer neuen Zukunfts-City beeindruckte damals viele; eine großangelegte Modernisierung der Schiene erschien sogar ökologisch.

Dürr und die IHK der Region schwärmten von den Standortvorteilen für die "Metropol-Region" Stuttgart, wenn durch dieses "großartige Infrastruktur-Projekt" die ICE-Schnellbahntrasse direkt mit dem Flughafen, der neuen Messe auf den Fildern und der Autobahn verbunden wäre. Die in der Region Stuttgart ansässigen Weltkonzerne wie Daimler, Bosch und Porsche bekämen dadurch endlich die Chance für einen würdigen City-Rahmen in der bisher eher provinziellen Landeshauptstadt.

Durch die "Magistrale Paris-Bratislava" würde die Region geradezu zum "Herzen Europas" aufsteigen. Neue Arbeitsplätze würden entstehen usw. Solchen Zukunftsvisionen gingen nicht nur die bürgerlichen Parteien, sondern auch die Mehrheit der SPD auf den Leim. Selbst viele Gewerkschafter wurden und werden durch diese Propaganda beeindruckt!

Zwar regte sich damals schon erster Widerstand, die Bürgerinitiative "Leben in Stuttgart - Kein S 21" gründete sich aus diesem Anlass ...

Aber gegen Ende der 90er Jahre schien sich die Lage wieder zu beruhigen, weil der zweite Bahn-AG-Chef Ludewig, der einzige, der aus dem bahneigenen Management kam und nicht von Daimler, das Projekt erneut auf seine Kosten überprüfen ließ und es anschließend (kurzzeitig) "als unwirtschaftlich" zu den Akten legte!

Erst sein Nachfolger, der "Rambo" Mehdorn vom Luftfahrtkonzern Airbus (also auch Daimler!), legte S 21 wieder neu auf und machte mit Hilfe des neuen CDU-Landeschefs Oettinger und des neuen Stuttgarter CDU-OB Schuster mächtig Druck. Die verquersten Finanzoperationen durch Land und Stadt sollten die "Wirtschaftlichkeit" von S 21 herstellen: Das Land kaufte 2001 für 176 Mio. Euro noch nicht vorhandene Züge, die angeblich durch S 21 benötigt würden, und die Stadt kaufte der Bahn AG im Voraus für 459 Mio. Euro Gleisgelände ab, das für die zukünftige City-Bebauung vorgesehen ist! Beide Beträge flossen übrigens in die jeweiligen Bilanzen der Bahn AG und sollten den angestrebten Börsengang unterstützen.

So lässt sich unterm Strich formulieren: S 21 ist das gewissermaßen gewalttätige Projekt des "schwäbischen Imperialismus", den für seine Repräsentation würdigen Rahmen zu schaffen - koste es, was es wolle! Und zugleich die strategische Grundkonzeption des Autokonzerns Daimler und der gesamten Autobranche durchzusetzen, wonach die Bahn zurechtgestutzt werden solle zu einem profitablen Verkehrs-Logistik-Konzern mit v. a. Schnellverbindungstrassen für Geschäfts- und Fernreisende, dem Abbau der Schiene in der Fläche und dem Umstellen des Güterverkehrs z. B. auf Giga-Liner-LKWs, Fernbussen nach amerikanischem "Greyhound"-Modell und anderes mehr.

Auf der Strecke bleiben mehrfach Bevölkerungsinteressen: Durch die Verschlechterung der örtlichen und regionalen Bahnverbindungen und des Güterverkehrs; durch die Verschleuderung öffentlicher Mittel in Milliardenhöhe, die dringend für Soziales, Bildung und Kultur gebraucht würden; durch die ökologisch fatalen Folgen einer zusätzlichen Steigerung des Autoverkehrs; und nicht zuletzt durch die weitere Zerstörung ihrer jetzt schon arg als "autogerechte Stadt" gebeutelten Landeshauptstadt. Aus einer noch einigermaßen liebenswerten Provinzhauptstadt soll endgültig das "Muster-Profitopolis" werden!


Das "Wunder von Stuttgart"

Aller Widerstand schien zwecklos. Die Sammlung von 67.000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren gegen S 21 im Jahr 2007 wurde von der Stuttgarter Stadtverwaltung als "zu spät" und "rechtlich nicht zulässig" in den Papierkorb geworfen. Alle "staatstragenden Parteien" einschließlich der SPD unterstützten das Projekt; alle Parlamente von Stadt, Region, Land und Bund, alle Gerichtsentscheidungen, alle wesentlichen Medien, prominente Wissenschaftler/Experten, die Großunternehmen der Region, IHK, Daimler usw. standen dahinter. Alle Verträge zwischen Bahn AG, Bund, Land und Stadt waren abgeschlossen. Selbst die Grünen hatten das Projekt als nicht mehr aufhaltbar erklärt und wollten es nur noch "kritisch begleiten" - da geschah im Verlauf des Jahres 2010 das "Wunder von Stuttgart":

Gegen die versammelte und geballte Macht der herrschenden Klasse regte sich zunehmend trotziger Widerstand! Zuerst klein, dann immer weiter anschwellend, versammelten sich vor dem Hauptbahnhof allwöchentlich "Montags-Demonstrationen" mit der Losung "Wir sind das Volk!" und "Oben bleiben!".

Angeblich waren es zunächst vorrangig Vertreter der "Halbhöhenlagen" von Stuttgart, hochqualifizierte Angehörige der Mittelschichten, denen der Kragen platzte. Aber es waren von Anfang an auch viele aktive Gewerkschafter dabei, linke Aktivisten aus den verschiedensten Zusammenhängen.

Zwar hat die Protestbewegung gegen S 21 den Charakter einer Ein-Punkt-Bewegung, aber von Anfang an floss in diesen Protest auch viel Unzufriedenheit und Zorn über andere Fragen, über soziale Verschlechterungen, ökologische Zumutungen, Abbau demokratischer Rechte, den Hochmut der Regierenden usf. zusammen. Immer mehr Leute kamen dazu, denen "immer mehr stinkt"!

Je mächtiger die Bewegung anschwoll, desto größer war auch der Anteil aus der Arbeiterklasse, wenn auch überwiegend von qualifizierteren und organisierteren Teilen. Schließlich gelang es auch, dass alle wesentlichen Gewerkschaftsgliederungen von DGB, ver.di und IG Metall formale Beschlüsse fassten (z. T. gegen große Widerstände von SPD-organisierten Spitzenfunktionären!), um die Protestbewegung zu unterstützen. Es bildete sich eine Initiative "Gewerkschafter gegen S 21".

Wenn die Verknüpfung von S 21 mit sozialen Themen angeschnitten wurde, gab es immer großen Beifall. Dennoch ist diese thematische Verbindung eher indirekt und braucht zum Verständnis mehr Wissen und Nachdenken. Entsprechend schwierig gestaltete sich bisher eine größere Mobilisierung aus den Betrieben.

Viele der S 21-AktivistInnen sind empört darüber, dass allein die Stadt Stuttgart direkt oder über Umwege, z. B. durch Beteiligung an der Flughafen-AG, etwa 1 Mrd. Euro zur Finanzierung von S 21 beiträgt, aber z. B. laut dem "christlichen" OB Schuster kein Geld übrig hat für kostenloses Schulessen für bedürftige Kinder (ca. 1 Mio. Euro).

Auf der anderen Seite gibt es eine Initiative "Unternehmer gegen S 21", eine "Jugendoffensive gegen S 21", die "Parkschützer" mit mittlerweile über 30.000 Unterstützern, die mit zivilem Ungehorsam das Fällen der Parkbäume im Bahnhofsumfeld verhindern wollen, eine Initiative "Bei-Abriss-Aufstand" usw.

Eine Stärke dieser Bewegung liegt in ihrer Vielfalt und Bündnisbreite, vom bürgerlichen Lager über die Grünen bis zu uns Kommunisten und anderen Linken. Objektiv ist dies der Ansatz für ein breites antimonopolistisches Bündnis!

Aber aus dieser Stärke resultiert auch das Problem, dass diese Bewegung eben nicht homogen ist. Das macht sie anfälliger für Manöver der anderen Seite - und durch die über die Medien verstärkte Rolle der Grünen zugänglicher für taktisch-parlamentarische Interessenlagen.

Dennoch: Trotz all dieser Probleme ist es fantastisch, dass alle Spaltungsversuche bisher gescheitert sind. Bei zunehmender Politisierung und Radikalisierung der Bewegung konnte das solidarische Miteinander verteidigt werden, auch in der Verzahnung von Aktionsformen wie Massendemos, gewaltfreie Blockaden, Bau-, Bagger- und Baumbesetzungen als Aktionen des friedlichen zivilen Ungehorsams.

Der Charakter dieser Bewegung entfaltete sich immer mehr zur kreativen Lernbewegung. Bei jeder Kundgebung sprachen andere Experten, Architekten, Denkmalschützer, Künstler, Lehrer, Betriebsräte, Bahnexperten, Ökologen, Elternbeiräte (auch von Kitas), Gewerkschafter, Unternehmer ... Selbst von bürgerlichen Medien bestaunt entstand eine echte Volkshochschule unter freiem Himmel. Bemerkenswert ist auch der kreativ umgestaltete Bauzaun, der mittlerweile im Museum landete, und die unglaubliche Vielfalt von selbstgemachten Losungen und Schildern.

So sammelte sich in zehntausenden von Köpfen immer mehr Sachkompetenz in jeder Richtung, von Bahneffizienz bis zu Mineralquellen ..., sicher mittlerweile der Kompetenz vieler Parlamentarier überlegen.

Mit den Fragen "Wessen Bahnhof ist der Bahnhof? Wessen Stadt ist die Stadt? Wessen Geld ist das Geld?" usw. wurden Zusammenhänge weit über den Bahnhof hinaus thematisiert.

Wer regiert wirklich das Land? Wessen Interessen stehen dahinter? Sind es nicht vor allem Profitinteressen von Baukonzernen, Immobilienspekulanten, Kaufhauskonzernen, Bohrfirmen, Banken usw.? Welche Rolle spielt der mächtige Daimlerkonzern, der drei der vier Bahnchefs seit der Privatisierung aus seinem Management stellte?


Wessen Demokratie ist die Demokratie?

Nach dem Grundgesetz geht alle Staatsgewalt vom Volke aus! Aber hier soll es demonstrativ übergangen werden! Das Volk muss direkt bestimmen, wir brauchen direkte Demokratie! Die "repräsentative Demokratie" hat sichtbar versagt, die meisten Parlamentarier haben sich als Repräsentanten nicht des Volkes, sondern der herrschenden wirtschaftlichen Interessen erwiesen. Der Filz zwischen Politikern und "der Wirtschaft" wurde immer heftiger diskutiert, eben die "Maultaschen-Connection". OB Schuster und CDU-Ministerin Gönner, "ganz zufällig" in der Stiftung des ECE-Konzerns für die Planung eines Groß-Kommerz-Projekts bei S 21, CDU-Finanzbürgermeister Föll "ganz zufällig" im Aufsichtsrat der Baufirma, die den Bahnhof-Nordflügel abriss, Lothar Späth "ganz zufällig" Aufsichtsratsvorsitzender der Tunnelbohrfirma Herrenknecht usf. So konnte ansatzweise die Funktionsstruktur von Staat und Monopoly begriffen werden.

Auch die Rolle des Staatsapparats selbst kommt immer schärfer in den Fokus der Bewegung: Hieß es im Sommer manchmal noch "Wessen Polizei ist die Polizei?" "Unsere Polizei!", so ist nach den brutalen Erfahrungen des "schwarzen Donnerstags" diese Losung in Nachdenklichkeit übergegangen!

Die Bewegung schwoll trotz des demonstrativ und gewalttätig inszenierten Abrisses des Bahnhof-Nordflügels vor den Augen empörter ProtestiererInnen weiter an, und es war die Siegeszuversicht trotz allem nicht zu brechen. "Die schaffen das nicht, gegen solche Proteste über 15 Jahre lang zu bauen" rief unterm Jubel Zehntausender Gangolf Stocker, Stadtrat der SÖS und Sprecher der Initiative "Leben in Stuttgart - Kein S 21".

Mit dem Polizei-Desaster des 30.9., wo die Mappus-Regierung ein abschreckendes Exempel statuieren wollte, wurde das genaue Gegenteil erreicht! Als Antwort kam eben nicht kleinlautes Nachgeben, sondern der wütende Protest von über 100.000 und die Woche danach 150.000 Teilnehmern! Das Land geriet in eine unberechenbare Stimmung, fast ein Hauch von Unregierbarkeit wehte durchs Ländle.

Die seit 1953 in Baden-Württemberg ungebrochene CDU-Herrschaft schien auch in Umfragen ins Wanken zu kommen. Die tausendfachen Sprechchöre wie "Lügenpack" und "Mappus weg" taten ihre Wirkung ... Die Demonstranten-Massen begannen sich ihre Stadt zurückzuerobern


Dann kam der "Retter" Heiner Geissler

Festzuhalten bleibt, dass der Vorschlag für einen "Schlichter" Geissler ursprünglich von den Grünen kam! Welche hintergründigen Absichten sie damit verbanden, kann nur spekuliert werden. Auf jeden Fall bauten sie Mappus die goldene Brücke. In seiner defensiven Not griff er diesen Vorschlag auf, die Protestbewegung saß in der Falle!

Die "Schlichtungs-Gespräche" pauschal abzulehnen, ging nicht, weil man sich sonst von großen Teilen der Bevölkerung isoliert hätte. Da Geissler (als attac-Mitglied) durchaus Sympathien für die S 21-Kritiker zeigte und sich als von seiner Partei "unabhängiger Kopf" gab, erwarteten viele von seiner Vermittlung eine Lösung.

Es gab zwar nichts zu vermitteln, denn einen Kompromiss zwischen einem Kellerbahnhof und einem oberirdischen Kopfbahnhof gibt es eben nicht. So war das einzige realistisch-positive Ziel, wenigstens vor aller Öffentlichkeit - mit Baustopp - die Offenlegung aller Fakten zu verlangen und einen gleichberechtigten "Fakten-Check auf Augenhöhe" durchzusetzen.

Dies wurde sogar weitgehend erreicht. In den wochenlangen Erörterungen mit Fernseh-Live-Übertragung schlugen sich die Vertreter der Protestbewegung wirklich wacker: Ihre Argumente erwiesen sich eindeutig als überlegen, die Alternative K 21 war als wesentlich weniger kostspielige Lösung der Vernunft vor aller Augen (mit bis zu 1 Mio. Einschaltquote) erwiesen.

Problematisch wurde es erst, als Geissler wenige Tage vor Schluss in einem FAZ-Interview andeutete, dass er trotz allen Verständnisses für die Kritiker ein aufgebessertes "S 21-Plus" vorschlagen werde.

Deshalb hätten die Vertreter der Protestbewegung noch vor dem "Schlichterspruch" aussteigen und erklären müssen, dass Geissler dafür keine demokratische Legitimation habe und dass nur eine Volksbefragung die Lösung sein könne. Dass das versäumt wurde, war der eigentliche taktische Fehler. So überließ man Geissler die Medien-Show, die er mit Genuss und Raffinesse inszenierte und sich als "Retter der CDU" feiern ließ! Weil man ihm nicht sofort und deutlich genug in die Parade fuhr, konnte der Eindruck erzeugt werden, als ob der "Schlichterspruch" auch von den Vertretern der Protestbewegung akzeptiert worden wäre!

Daraus entstand einige Verwirrung, die sich prompt auch in Meinungsumfragen niederschlug. Die CDU kam wieder aus ihrem Tief heraus, die Zustimmungsrate für ein "verbessertes S 21" nahm wieder zu - auch wenn in verschiedenen Umfragen durchaus widersprüchliche Ergebnisse zutage kamen, was erneut beweist, dass v. a. durch die Fragestellung mit Meinungsumfragen gezielt Meinung gemacht werden kann!


Wie geht es weiter?

"Fakten-Check" und " Schlichtungsgespräche" werden von den herrschenden Medien als große Errungenschaft und wichtige begleitende Maßnahme für künftige Großprojekte gepriesen. So sei die repräsentative Demokratie durch "Elemente direkter Demokratie anzureichern", um eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung (für die Vorhaben der herrschenden Klasse!) zu erreichen.

Doch wenn in der Sache wenig verändert werden kann ist der demokratische Zugewinn minimal. Es hat sich wieder einmal bewiesen: Nicht in erster Linie durch Gesprächsrunden, sondern nur durch konsequente Massenaktionen können Erfolge durchgesetzt werden!

Diese Position wird mittlerweile auch von den meisten Vertretern des Protestbündnisses formuliert, verbunden mit selbstkritischem Eingeständnis taktischer Fehler. Aufhorchen lassen müssen allerdings einige Stellungnahmen von Spitzen-Grünen wie Cem Özdemir, der voll hinter Geisslers Spruch steht, oder von Boris Palmer, der durch Geisslers "S 21-Plus" mit allen Zusatzkosten das Projekt "von alleine als erledigt" ansieht. Das ist bestenfalls eine Selbsttäuschung, schlimmstenfalls eine bewusste Irreführung der Bewegung!

Dennoch wird der Kampf um den "Stress-Test", der als Ergebnis der "Schlichtung" von der Bahn AG akzeptiert wurde, durchaus von höherem Stellenwert sein. Damit soll durch Computersimulation die angeblich höhere Leistungsfähigkeit des Keller-Bahnhofs in Verkehrs-Spitzenzeiten überprüft werden. Die Bahn AG erklärte bereits, dass sie diesen Test erst nach den Landtagswahlen und zunächst alleine durchführe und erst danach weiteren Experten vorlege.

Die Protestbewegung hat dies bereits zurückgewiesen und erklärt, dass in dieser Form der "Stress-Test" unbrauchbar wäre ("Diese Simulanten der Bahn kennen wir schon"!) und dass nur bei sofortiger Einbeziehung von Experten der Bewegung dieser Test objektiv und akzeptabel wäre. Es gilt also, wachsam zu bleiben!

Doch wenn es gelingt, im Neuen Jahr die Protestbewegung neu zu entfachen - und es sieht ganz danach aus - dann hat sie weiterhin echte Chancen, S 21 doch noch zu verhindern. Gegen den Geisslerschen Unsinn-Plus wird zum "Widerstand-Plus" aufgerufen. Bis zur Landtagswahl sind außer den Montagsdemos drei Großkundgebungen bereits geplant! Am 5. März soll es einen landesweiten dezentralen "Kein S 21-Tag" in allen 70 Wahlkreisen geben. Und die Landtagswahl soll zu einer "Abrechnung mit der S 21-Prügelpolitik von Mappus & Co werden". Dafür braucht die Bewegung allerdings Autonomie von den Grünen und anderen Parteien.

Die Landtagswahl am 27. März hat zwar einen gewissen Stellenwert, aber sie wird nicht die Rettung bringen. Selbst eine Grüne-SPD-Landesregierung böte nicht die Garantie für die Ablehnung von S 21. Der schlimmste vorstellbare Supergau wäre, wenn eine solche Landesregierung mit oder ohne Volksbefragung S 21 bauen würde! Oder eine modifizierte CDU-Grüne-Landesregierung, die eine abgespeckte Geisslersche "S 21-Plus-Lösung" durchsetzte oder eine CDU/SPD-Koalition, die mit geringfügigen Zugeständnissen der Bewegung das Genick zu brechen versuchte.

Nicht die Landtagswahl, sondern der neu entfachte Druck wird S 21 verhindern.

Wir unterstützen die Forderung nach einer verbindlichen Volksbefragung: Zu S 21 in der Region Stuttgart und zur Neubau-Strecke nach Ulm im ganzen Land. Dabei muss die Fragestellung von der Bewegung mit formuliert werden und außerdem muss es vor der Abstimmung zu einer gleichberechtigten Informationspolitik kommen. Der Aspekt der Gegenöffentlichkeit ist ein entscheidender Aspekt direkter Demokratie.

Wir werden als unseren unersetzbaren Beitrag weiterhin antikapitalistisch aufklären, natürlich mit möglichst viel Sachverstand und Ideenreichtum. Und so ist in unseren Augen eines der entscheidenden und weiterwirkenden Erfolgskriterien der Bewegung, wie weit sie antikapitalistisch dazulernen kann.

Doch selbst wenn das unmittelbare Ziel, S 21 zu verhindern, nicht erreicht werden könnte, so hat die Bewegung heute schon Gigantisches geleistet. Zehntausende von AktivistInnen werden das Gelernte nicht mehr vergessen, weder in direkten Sachfragen noch in weitergehenden gesellschaftspolitischen Fragestellungen - noch das großartige Gefühl, diese Stadt mindestens zeitweilig wieder zu ihrer gemacht zu haben!

Stuttgart ist heute schon eine andere Stadt geworden und auch das Land hat sich verändert! In den Gewerkschaften rumort das aufstachelnde Beispiel weiter, nicht umsonst war die Stuttgarter Gewerkschaftskundgebung am 13.11. die größte der Republik. Diese Erfahrungen gehen nicht verloren und die sicher bevorstehenden Kämpfe können von günstigeren Voraussetzungen aus geführt werden. Schon allein das lässt sagen: Es hat sich gelohnt, zu kämpfen!


Klaus Mausner, Stuttgart, Bildhauer, Mitglied des Sprecherkreises der DKP Baden-Württemberg


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-11, 49. Jahrgang, S. 5-10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. März 2011