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MARXISTISCHE BLÄTTER/441: Burgfrieden in der Behindertenpolitik?


Marxistische Blätter Heft 2-10

Burgfrieden in der Behindertenpolitik?

Von Wolfgang Trunk


Politische Diskurse sind in den Augen der Regierenden lästige Erscheinungen, die bei der Ausrichtung der Gesellschaft auf die globale Konkurrenz nur stören; sie wollen sich deshalb der demokratischen Auseinandersetzung über ihre politischen Richtungsentscheidungen entziehen. Eine Standardvariante dieses Verhaltens besteht darin, Grundsatzdiskussionen als realitätsfern einzuschätzen und für überflüssig zu erklären. So sei es unumgänglich, dass sich Deutschland an Kriegen beteiligt, und wer dagegen Stellung nimmt, der habe die veränderte Weltlage noch nicht begriffen. Auch dass die Studiengänge an den Universitäten verschult werden, sei eine notwendige Antwort auf die Anforderungen der Bildung in einer globalisierten Welt - also nicht der vorläufige Endpunkt einer langjährigen Strategie, mit der die Wissenschaft den Profitinteressen des Kapitals untergeordnet wird. Meinungsverschiedenheiten könnten allenfalls über die Art und Weise des jeweiligen Vorgehens bestehen oder darüber, wie professionell die Regierung eine notwendige Maßnahme durchführt. Politik soll nicht als ein Ausdruck des Gewollten, sondern als die "Kunst des Machbaren" verstanden werden. Diese Haltung stellt eine Entpolitisierung des Politischen dar, denn hier werden interessengeleitete Positionen als Notwendigkeiten ausgegeben, zu denen keine Alternative besteht. Die Gesellschaft wird dabei nicht als ein kollektives Subjekt aufgefasst, sondern als ein spontanes, naturgleiches Geschehen.

Zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus macht sich die bürgerliche Sachzwang-Logik nun auch im Bereich der sozialen Hilfen für Behinderte breit. Dieses Handlungsfeld ist nicht "systemrelevant" und man sollte annehmen, dass Diskussionen jeder Art hier problemlos geführt werden können. Allerdings kosten soziale Hilfen Geld, und wenn die Regierenden in diesem Bereich finanzielle Reserven erschließen wollen, dann können sie letztlich keine Gruppe verschonen, schon gar nicht jene, bei denen etwas zu holen ist. Die Behindertenhilfe blieb ja lange Zeit unangetastet, vor allem vor dem Hintergrund der Verbrechen, die der deutsche Faschismus an behinderten Menschen begangen hatte; eine Rolle spielte wohl auch die konservative Ansicht, nach der man Behinderte quasi bevorzugt behandeln darf, da sie schuldlos in ihre Lage geraten seien, im Unterschied etwa zu Obdachlosen, Drogenabhängigen, misshandelten Frauen und anderen, bei denen eine Mitschuld an ihrer Hilfebedürftigkeit bestehe. Innerhalb der Sozialarbeit nahm die Behindertenhilfe eine privilegierte Stellung ein und über lange Zeit waren es vor allem die guten Verbindungen zu den entscheidenden Stellen, auf die man im gesellschaftlichen Verteilungskampf setzte. Von Bedeutung war dabei auch, dass die kirchlichen Organisationen in der Behindertenhilfe traditionell stark engagiert sind und dass die Behindertenhilfe generell kein Milieu ist, das zur Opposition neigt. Es ist eine unvermeidliche Konsequenz solcher Verhältnisse, dass die Akteure nicht darauf eingestellt sind, für ihre berechtigten Ansprüche zu kämpfen. Vor diesem Hintergrund wird die Behindertenhilfe von ihrer aktuellen Deklassierung auf dem falschen Fuß erwischt; weder politisch noch ideologisch ist sie gerüstet, um den neoliberalen Angriffen entgegenzutreten.


Fortschritt und Wertgesetz

Auf dem Feld der Ideologie bedienen sich die Regierenden einer bewährten Technik: sie spielen über Bande, um ihre Intentionen als objektive Erfordernisse auszugeben. Willkommen sind da entsprechende Vorgaben von überstaatlichen Institutionen, gegenüber denen man im Wort sei, und die man umzusetzen habe. Im konkreten Fall der Behindertenpolitik ist hier eine Konvention der UNO zu nennen, die im Jahr 2009 ratifiziert worden ist und in der "die Rechte von Menschen mit Behinderungen" behandelt werden (UNO 2006). Diese Konvention wurde besonders von den Grünen begrüßt, die gerne als Bannerträger der Integrationspolitik auftreten. Aber auch die anderen Bundestagsparteien beziehen sich zentral auf die UNO-Konvention und setzen sie als Messlatte für die Behindertenfreundlichkeit von politischen Positionen und Regelungen ein. Die Akzeptanz wird dadurch begünstigt, dass die Konvention offensiv daher kommt und insofern nicht als politische Restriktion erscheint; es gehe darum, die Situation der Behinderten zu verbessern, und bei diesem Projekt sollten alle an einem Strang ziehen. Für die Inhalte der Konvention wird Allgemeingültigkeit reklamiert und sie wird behandelt, als wäre sie eine Leitlinie für den behindertenpolitischen Fortschritt. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieser Anspruch als unhaltbar.

Das Kriterium für den historischen Fortschritt im Umgang mit behinderten Personen ist die Überwindung des Wertgesetzes. Behinderte müssen über die gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten verfügen können, und zwar unabhängig von der Frage, wie konsumkräftig und wie leistungsfähig sie sind. Das betrifft vor allem die Erwerbsarbeit selbst; für Behinderte wie für Nicht-Behinderte gilt, dass die Lebensqualität maßgeblich von der sozialen Handlungsfähigkeit einer Person bestimmt wird und dass der Hebel dieser Integration die Teilhabe am Berufsleben ist. Nun gehen die Funktionsbeeinträchtigungen einer Behinderung regelmäßig mit Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit und Einsatzfähigkeit einher. Eine Beteiligung von behinderten Personen an der Erwerbsarbeit setzt deshalb voraus, dass ihr Arbeitsverhältnis nicht vom Prinzip des Äquivalententauschs bestimmt ist. Auch wenn der Gedanke gewöhnungsbedürftig sein mag - das Recht auf Arbeit kann es erfordern, dass man Beschäftigungsmöglichkeiten organisiert, wohl wissend, dass der Aufwand größer ist, als der Ertrag es sein wird. Behinderte Personen müssen auch dann die Möglichkeit der Berufstätigkeit haben, wenn ihr Beitrag zur Wertschöpfung unter den Kosten liegt, die für die Reproduktion ihrer Arbeitskraft entstehen. Die Nagelprobe darauf ist die Situation jener behinderten Personen, die sich zwar im erwerbsfähigen Alter befinden, die aber nicht erwerbsfähig sind: wird ihnen eine Teilhabe am Berufsleben zugestanden? Oder müssen sie ein Leben in faktischer Arbeitslosigkeit führen mit allen destruktiven Folgen, die das für die Persönlichkeit hat? Auf diese Fragen gibt die UNO-Konvention keine Antwort; die berufliche Teilhabe von nicht-erwerbsfähigen Behinderten wird weder gefordert noch erwähnt.

Es ist durchaus keine Zukunftsmusik, wenn man mit Blick auf die Behinderten die Überwindung des Wertgesetzes thematisiert. In Deutschland leben etwa 270.000 geistig und psychisch behinderte Personen, für die schon jetzt das soziale Verhältnis eneicht ist, um das es geht: sie beteiligen sich an der Arbeit in einer Werkstatt für Behinderte, wenngleich ihre Arbeitskraft nur in geringem Maß verwertbar ist. Diese Personen haben einen Lebensinhalt und sie erleben auch den Sinn ihrer Tätigkeit; Werkstattmitarbeiter schaffen Produkte, leisten nützliche Dienste, erzielen ein Arbeitseinkommen, erweitern ihre Fähigkeiten, gehen Beziehungen zu anderen Personen ein und pflegen gemeinsame Interessen. Die Werkstätten können Zentren der Persönlichkeitsentwicklung sein, weil durch die Arbeit reale Anforderungen für das Handeln der behinderten Mitarbeiter gegeben sind; sie stellen Zentren der sozialen Teilhabe dar, weil sie über die Kunde-Lieferanten-Beziehungen zum gegemseitigen Vorteil mit der Gesellschaft verbunden sind. Richtig ist, dass solche Einrichtungen weit mehr kosten, als sie ökonomisch einbringen; orientiert man sich an der UNO-Konvention, dann bäuchte es sie nicht zugeben.


Arbeit und Teilhabe

Konvention zur Hand nimmt. Die Konvention erklärt zwar die "volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft" zum Zweck aller politischen Bemühungen [Art. 3], aber der Bereich "Arbeit und Beschäftigung" wird als ein untergeordnetes Thema behandelt und erscheint erst in der zweiten Hälfte des Textes [Art. 27]. Zuvor wird eine ganze Reihe von Aspekten angesprochen, die in allgemeiner Hinsicht wohl relevant, aber für Behinderte auffallend unspezifisch sind, wie etwa das "Recht auf Leben" [Art. 10], der "Zugang zur Justiz" [Art. 13], das "Recht der freien Meinungsäußerung" [Art. 21] oder die "Achtung der Wohnung und der Familie" [Art. 23]. Der Schlüssel zum Verständnis für dieses Profil liegt im politischen Ansatz der Konvention: sie ist vom Gedanken der "Gleichberechtigung" [Art. 5] geleitet und kann als Versuch angesehen werden, den Staaten eine Art Parallel-Verfassung vorzugeben, in der die Geltung der üblichen Verfassungsartikel für den Personenkreis der Behinderten bekräftigt wird. Hinter der Forderung nach "Gleichberechtigung" steht im Wesentlichen die Vorstellung, dass die Probleme der Behinderten die Folge ihrer "Diskriminierung" seien [Art. 5] und dass es deshalb zentral darauf ankomme, in der Gesellschaft ein "Bewusstsein" für die Rechte der Behinderten zu schaffen [Art. 8]. Vorgetragen wird diese Politik seit langer Zeit; sie steht in der Kontinuität der Anti-Diskriminierungs-Kampagne, die zu Beginn der neunziger Jahre zu einer entsprechenden Ergänzung des Grundgesetz-Artikels 3 geführt hat; Wortführer sind in der Regel höher qualifizierte Behinderte aus der lohnabhängigen Mittelschicht.

Der Ansatz der "Gleichberechtigung" führt dazu, dass die UNO-Konvention den Bereich der Berufstätigkeit systematisch unterbewertet. So wird für Behinderte keineswegs das Recht auf Arbeit, sondern nur "das gleiche Recht auf Arbeit" gefordert [Art. 27; Hervorheb. WT]. Da in Deutschland das allgemeine Recht auf Arbeit nicht normiert ist, gibt es auch keine entsprechende Regelung für die Behinderten. Der Gleichbehandlung ist damit Genüge getan, und das ist keine juristische Spielerei, sondern politisch ernst gemeint. Im Herbst 2009 hat der Hessische Landtag eine Neufassung des hessischen Gleichstellungsgesetzes debattiert; es versteht sich von selbst, dass bei dieser Gelegenheit die UNO-Konvention von allen Seiten bemüht worden ist. Zwar enthielt das Gleichstellungsgesetz bereits einen Abschnitt zur "Teilhabe am Leben in der Gesellschaft", aber die Berufstätigkeit hatte man hier ausgespart. Die Fraktion der Linkspartei hat deshalb beantragt, dass man in den Text einen Paragrafen aufnimmt, der fordert, dass die Beschäftigung von behinderten Arbeitnehmern gesichert wird und dass die berufliche Teilhabe von solchen Behinderten ermöglicht wird, die nicht oder nur eingeschränkt erwerbsfähig sind. Mit ihrem Antrag hat sich die Linkspartei auf die Verfassung des Landes Hessen berufen, die in ihrem Artikel 28 bestimmt, dass jeder ein Recht auf Arbeit hat, und zwar jeweils "nach seinen Fähigkeiten", was ja gerade für behinderte Personen von Bedeutung ist. Erwartungsgemäß hat die Mehrheit von CDU und FDP den Antrag der Linkspartei abgelehnt. Das zentrale Thema der beruflichen Teilhabe von behinderten Mitbürgern bleibt im hessischen Gleichstellungsgesetz auch weiterhin unerwähnt; dafür wird allerlei anderes behandelt, wie etwa die Gestaltung von amtlichen Vordrucken für Sehbehinderte oder die Untertitelung von Fernsehsendungen für Hörbehinderte (ein Gebot, dem private Anbieter allerdings nur "im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten" zu folgen haben).


Entwertung der Arbeitskraft und Ausgliederung

Es geht wohl auf ein bestimmtes Grundverständnis von Gesellschaft und Persönlichkeit zurück, wenn die UNO-Konvention den Stellenwert der Berufstätigkeit verkennt. Leider muss man feststellen, dass die Konvention auch in empirischer Hinsicht den Gegebenheiten nicht gerecht wird, die man in Deutschland vorfindet. Der Artikel "Arbeit und Beschäftigung" der Konvention setzt im Prinzip die folgende Situation voraus: die Behinderten im erwerbsfähigen Alter stellen eine Menge von Personen dar, die willens und fähig sind, sich an der Erwerbsarbeit zu beteiligen; auf Grund einer allgemeinen Diskriminierungstendenz werden sie aber davon abgehalten, die Barriere zu überwinden, die zwischen ihrer Behinderung und einem regulären Arbeitsverhältnis besteht; so bleibt ihnen ein normales Berufsleben verwehrt, und an einen beruflichen Aufstieg ist nicht zu denken; deshalb ist es die Hauptaufgabe, dass man die berufliche Eingliederung der Behinderten gewährleistet, vor allem durch Maßnahmen der Qualifizierung, der Arbeitserprobung und der Stellenvermittlung. Diese Analyse und ihre Konsequenz gelten weithin als selbstverständlich, und dementsprechend ist die Losung von der "Eingliederung" seit Jahrzehnten die tragende Säule der bürgerlichen Behindertenpolitik. Ebenso lange stellt sich allerdings das Problem, dass man auf diesem Weg nicht vorankommt.

So wenig sich die allgemeine Arbeitslosigkeit auf ein Vermittlungsproblem reduzieren lässt, so wenig ist die Eingliederungspolitik geeignet, die Beschäftigungsprobleme der Behinderten zu lösen. Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass alle Versuche zur Vermittlung Behinderter auf einen gesättigten Arbeitsmarkt treffen. Behinderung ist seit Langem eine Massenerscheinung in der Arbeitswelt. Etwa 6,9 Millionen Menschen sind in Deutschland als schwerbehindert anerkannt; etwa die Hälfte davon befindet sich im erwerbsfähigen Alter. Allgemein ist davon auszugehen, dass die meisten Personen, die als schwerbehindert anerkannt sind, entweder als Arbeitnehmer erwerbstätig sind oder es waren. Diese Personen bedürfen größtenteils keiner Maßnahmen zur Vermittlung, denn entweder gehen sie noch einer regulären Arbeit nach, oder sie haben ihr Erwerbsleben bereits hinter sich.

Bei der großen Masse der anerkannt Schwerbehinderten handelt es sich um reguläre Arbeitnehmer, die sich im Laufe ihres Arbeitslebens eine Beeinträchtigung zugezogen haben, und zwar überwiegend aufgrund der modernen Volkskrankheiten, also arbeitsbedingten Erkrankungen mit chronisch-degenerativem Charakter. Vor allem den großen Unternehmen wachsen behinderte Personen ständig von innen nach. So kann man feststellen, dass die meisten Unternehmen "ihre" Behinderten aus der eigenen Belegschaft rekrutieren, und es ist oft genug ein Indiz für gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen, wenn ein Betrieb seine gesetzliche Pflicht zur Beschäftigung Behinderter erfüllt. Unter den Bedingungen der Konkurrenz und der Rationalisierung neigen die Unternehmen dann dazu, sich von jenen Mitarbeitern zu trennen, die sich einen irreversiblen Gesundheitsschaden zugezogen haben und deren Leistungsfähigkeit oder Einsatzfähigkeit dauerhaft eingeschränkt ist.

Dem hehren Ziel der "Eingliederung" steht die alltägliche Realität der Ausgliederung von Behinderten entgegen. So haben die Integrationsämter im Jahr 2007 insgesamt 23 084 Kündigungsschutzverfahren für Schwerbehinderte durchgeführt, von denen 16 962 Verfahren, also 73 Prozent, mit dem Verlust des Arbeitsplätzes endeten [BIH 2008, 38]; von der Statistik nicht erfasst werden die Ausgliederungen, die im Einvernehmen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbart werden. Der ständige Ausgliederungsprozess schlägt sich in der geringen Erwerbsbeteiligung der Behinderten nieder. Im Jahr 2006 waren 787 912 Schwerbehinderte erwerbstätig; die Zahl der offiziell arbeitslosen Schwerbehinderten betrug 197 405 Personen [ebd., 15]. Die Summe der behinderten Erwerbspersonen belief sich demnach auf 985 317 Personen; gleichzeitig befanden sich aber ca. 3,5 Millionen Schwerbehinderte im erwerbsfähigen Alter. Das lässt den Schluss zu, dass etwa 2,5 Millionen Schwerbehinderte vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden waren. Diese Personen müssen insoweit dem Bereich der verdeckten Arbeitslosigkeit zugerechnet werden, wie sie noch in der Lage wären einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, wobei eine behinderungsgerechte Gestaltung dieser Arbeit vorauszusetzen wäre. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Kosten der Behinderung ist jedenfalls festzustellen, dass es sich um eine Menge von Personen handelt, die fast zehnmal so groß wie die Menge der Werkstattmitarbeiter ist, und deren Umfang durch präventive Maßnahmen zum Wohle aller Beteiligten verringert werden könnte.

Die Erwerbsbiographie beinhaltet ja vielfach einen Prozess der Arbeitskraft-Entwertung, der damit endet, dass der Träger dieser Arbeitskraft vorzeitig ausgegliedert wird und damit seine soziale Stellung verliert. Nun liegt es auf der Hand, dass die Unternehmen vor dem Hintergrund ihres Bestandes an Schwerbehinderten und ihrer Ausgliederungspolitik kaum daran interessiert sein können, zusätzlich behinderte Personen von außen aufzunehmen. Diese Einschätzung wird durch die allgemeine Erfahrung bestätigt. Die hohe Zahl der Schwerbehinderten in den Belegschaften schränkt die Chancen der Personen ein, die als Behinderte ohne Arbeit sind und eine Eingliederung anstreben. Natürlich sind hier unterstützende Maßnahmen erforderlich, um auch jenen behinderten Personen zu einer Arbeit zu verhelfen, die erwerbstätig sein wollen und die dafür auf den Arbeitnehmerstatus angewiesen sind. Aber angesichts der Problemstruktur ist es weder für die Arbeitsmarkt- noch für die Sozialpolitik angebracht, den Schwerpunkt der Behindertenarbeit auf die Eingliederung am allgemeinen Arbeitsmarkt zu legen. Was die Arbeitnehmer in den regulären Betrieben angeht, so sind diese Personen objektiv an Maßnahmen des vorbeugenden Gesundheitsschutzes und der Beschäftigungssicherung interessiert, damit sie ihr Berufsleben nicht vorzeitig als Behinderte beenden müssen. Parallel geht es darum, das errungene Recht der nicht-erwerbsfähigen Behinderten auf Mitarbeit in einer Werkstatt zu erhalten und extensiv anzuwenden. In beiden Fällen ist nicht die Eingliederung am allgemeinen Arbeitsmarkt das Mittel der Wahl - es geht vielmehr darum, Ausgliederungen zu verhindern und soziale Rechte zu verteidigen.

In der UNO-Konvention wird der Kausalzusammenhang von Arbeit, Krankheit und Behinderung ausgeblendet; nur am Rande wird bemerkt, dass es Personen gibt, "die während der Beschäftigung eine Behinderung erwerben" [Art. 27]. Die Konvention fordert zwar allgemein den "Schutz der Unversehrtheit der Person" [Art. 17], aber diese Forderung wird nicht spezifiziert, denn der Fokus liegt auf der "Gleichberechtigung": Behinderte sollen "gleichberechtigt mit anderen" das Recht auf Unversehrtheit haben [ebd.]. Dasselbe gilt für die Ausführungen zum Thema Gesundheit, die sich im Wesentlichen auf die Forderung beschränken, dass die medizinische Versorgung der Behinderten "von gleicher Qualität" sein soll wie jene der Nicht-Behinderten [Art 25]. Erneut wird hier deutlich, wie die abstrakt-allgemeine Herangehensweise der "Gleichberechtigung" dazu führt, dass die Problemfaktoren unerkannt bleiben und dass die Ansatzpunkte für eine fortschrittliche Politik nicht greifbar werden. Als Ersatz für die Analyse der realen Verhältnisse dient die idealistische Annahme einer allgemeinen Diskriminierungstendenz, von der das Verhalten der Bevölkerung geleitet ist, und die in der sozialen Benachteiligung von Behinderten ihre Inkarnation findet. Sicher kann man im Alltag den Eindruck gewinnen, dass behinderte Personen diskriminiert werden, und fraglos kann dieser Eindruck empirisch erhärtet werden, aber das Gemeinsame solcher Erscheinungen stellt noch keine wesentliche Einsicht dar und erlaubt noch keine Ableitung einer politischen Strategie.


"Inklusion" und Sozialabbau

Auf Grund ihrer substanziellen Schwäche kann die UNO-Konvention zur Steilvorlage für den weiteren Sozialabbau in Deutschland funktionalisiert werden. Im Fadenkreuz befinden sich dieses Mal die Werkstätten für Behinderte. Von der Sozialpolitik in Deutschland werden die Werkstätten als Sonderstruktur interpretiert, die neben der normalen Gesellschaft existiert und die dazu beiträgt, Behinderte auszusondern, statt sie zu integrieren. Die wahre Integration sei nur dann gegeben, wenn sich Behinderte als Individuen in den regulären Strukturen der Gesellschaft bewegen können und wenn sie dort nicht aus-, sondern eingeschlossen sind. Es gelte deshalb die allgemeinen Sozialräume "inclusiv" zu gestalten und Sonderstrukturen zurückzudrängen. Für diese Linie fungieren die Grünen seit langer Zeit als Stichwortgeber und es sind die anderen neoliberalen Kräfte, die das dankbar aufgreifen. Die UNO-Konvention kann dieser Strömung als Referenz dienen, weil sie auf die "Gleichberechtigung" fokussiert, die Benachteiligung Behinderter auf "Menschenrechte und Grundfreiheiten" beschränkt [Art. 2] und dabei sozial-politische Belange weitgehend ignoriert. Auch die Parole von der "Inklusion" ist in der englischen Fassung der Konvention enthalten [Art. 3 cX; sie wird seither als Leitbild für einen Wechsel in der Behindertenpolitik benutzt, obwohl die entsprechende Textstelle in der deutschen Fassung der Konvention nicht mehr bedeutet als "Einbeziehung in die Gesellschaft" [ebd.] - ein Prinzip, dem die Behindertenhilfe ohnehin verpflichtet ist.

Auch in politischer Hinsicht spielen die Regierenden über Bande, um ihre Vorhaben als Reaktionen auf Anforderungen Dritter erscheinen zu lassen. So hat die Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) im Herbst 2009 der Bundesregierung den Gefallen getan, ein Gesetz zur "Reform" der Eingliederungshilfe zu verlangen, also jener sozialen Leistungen, die auf der Grundlage der Sozialgesetzbücher 9 und 12 für behinderte Personen gewährt werden. Für diese Initiative bot die UNO-Konvention nur den willkommenen Anlass. Hintergrund sind die steigenden Fallzahlen im Bereich der Behindertenhilfe, die auch zu steigenden Kosten führen. Im laufenden Jahr werden etwa 14 Milliarden Euro aufgewandt; sie machen den größten Brocken der kommunalen Sozialhilfeleistungen aus und diese Kosten will man begrenzen und nach Möglichkeit verringern. Die kontinuierliche Platzzahlsteigerung spiegelt im Bereich der Werkstätten den Umstand wider, dass immer neue Jahrgänge behinderter Personen aufgenommen werden, ohne dass es bereits zu entsprechenden Abflüssen kommt, da die Altersstruktur bei den Behinderten verzerrt ist; wegen der sogenannten Euthanisiepolitik des deutschen Faschismus sind die älteren Behinderten derzeit noch stark unterrepräsentiert. Die Entwicklung der Kosten ist somit einer objektiven Tendenz geschuldet. Sie muss nicht als Problem angesehen werden, wenn man bedenkt, dass bei aller Kostensteigerung im Sozialwesen die Quote der sozialen Transferleistungen ja stabil bleibt, ganz zu schweigen davon, dass sich die Werkstätten zu 19 Prozent selbst finanzieren und dass sie Mittel aus öffentlichen Kassen nicht nur erhalten, sondern auch Mittel in diese Kassen abführen (Arnold 2008).

Das Hauptinstrument der Kostendämpfung soll nach dem Willen der ASMK eine "personenzentrierte" Leistungsfinanzierung werden, die nach offizieller Lesart als Katalysator der "Inklusion" wirken soll. Dazu stellt Evelin Schönhut-Keil von den Grünen in dankenswerter Offenheit fest, dass "der eigentliche Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe" im Wegfall der "Platz- bzw. Angebotsfinanzierung" bestehe, die zu wenig passgenau sei, um gleichermaßen den Sparzwängen der öffentlichen Hand und der gestiegenen Nachfrage Rechnung zu tragen [2008, 10]. Der Clou besteht bei diesem Ansatz darin, dass man den eindeutigen Zusammenhang von Einrichtungstyp und Leistungsangebot aufbrechen will, um die Finanzierung nicht mehr an Einrichtungen, sondern an Einzelleistungen zu binden. Im Prinzip geht es darum, dass man die Versorgung ausdünnt. Auf diese Weise glaubt man Kosten für bestimmte Leistungen vermeiden zu können, die im konkreten Fall nicht als erforderlich angesehen werden, deren Inanspruchnahme jedoch nicht vermeidbar ist, solange man sich im pauschalen Leistungsrahmen einer Einrichtung bewegt. Bezogen auf eine Werkstatt für Behinderte würde dies bedeuten, dass man bestimmte Leistungen zur Disposition stellen müsste, die sich als unterstützende Elemente im Prozess der Rehabilitation erwiesen haben, seien es die Möglichkeit von Sport und Entspannung während der Aufenthaltszeit in der Werkstatt, das gemeinsame Mittagessen, gemeinsame Arbeitszeiten in einer Gruppe, die persönliche Betreuung durch einen werkstatteigenen Sozialdienst oder gar die berufliche Bildung in der Werkstatt.

Ein besonderes Instrument der Kostendämpfung soll auch im Werkstattbereich die "Eingliederung" werden. Es besteht die Vorstellung, dass man weniger Werkstattplätze braucht, wenn möglichst viele Behinderte in reguläre Arbeitsverhältnisse vermittelt werden. Das sei im Sinne der "Inklusion" und diene gleichzeitig der Kostendämpfung, es sei also besser und billiger. Diese Politik ist abwegig, denn unter den geistig und psychisch Behinderten in den Werkstätten gibt es nur wenige Grenzfälle, die auf Grund ihrer Leistungs- und Einsatzfähigkeit für eine reguläre Erwerbstätigkeit in Frage kommen; in Hessen betrifft das derzeit etwa 0,3 Prozent der Werkstattmitarbeiter, wobei die Geringfügigkeit hier nicht an einem Mangel an besetzbaren Arbeitsplätzen liegt, sondern am Fähigkeitsniveau der Personen. Ein erheblicher Anteil der Mitarbeiter, die aus der Werkstatt in eine reguläre Beschäftigung wechseln, kehrt nach einiger Zeit wieder in die Werkstatt zurück. Solche Fakten haben die Bundesregierung allerdings nicht daran gehindert, in ihrem Behindertenbericht die Leistung der Werkstätten allein unter dem Aspekt der Vermittlung zu bewerten (BMAS 2009).


Angebote und Maßnahmen

Neben den Inhalten ist am Beschluss der ASMK zur "Reform" der Eingliederungshilfe auch die Einstimmigkeit bemerkenswert. Keine der Landesregierungen hat gegen die Vorlage gestimmt oder sich wenigstens enthalten, auch jene nicht, an denen Politiker der Linkspartei beteiligt sind. Das ist bedauerlich, denn die linken Kräfte haben keinen Grund, sich im Zeichen der UNO-Konvention auf einen behindertenpolitischen Burgfrieden einzulassen. Das Programm einer fortschrittlichen Politik für Behinderte muss sich deutlich von den Vorgaben der Konvention unterscheiden, und seine Umsetzung wird mit Sicherheit keine Sache konsensualer Vereinbarung:

Durch betriebliche Maßnahmen des vorbeugenden Gesundheitsschutzes in der Arbeitswelt müssen die abhängig Beschäftigten davor geschützt werden, dass sie sich im Laufe ihres Arbeitsiebens eine Behinderung zuziehen; durch betriebliche Maßnahmen der Beschäftigungssicherung müssen die behinderten Beschäftigten davor geschützt werden, dass sie ihr Arbeitsverhältnis vorzeitig verlieren; durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen muss gewährleistet werden, dass arbeitslose Behinderte eingegliedert werden, soweit sie nicht nur formell, sondern auch faktisch noch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen; durch arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen müssen Beschäftigungsmöglichkeiten auch für die große Zahl der Behinderten geschaffen werden, die vorzeitig ausgegliedert worden sind und die an einem Zuverdienst interessiert sind; durch sozialpolitische Maßnahmen muss gewährleistet bleiben, dass die nicht-erwerbsfähigen Behinderten am Berufsleben teilhaben können.

Die meisten Behinderten sind auf besondere Angebote und Maßnahmen angewiesen, wenn sie ihre Einbeziehung in die Gesellschaft realisieren wollen. Dabei muss die Besonderheit keine Aussonderung bedeuten. Wenn etwa eine Werkstatt ein Bistro in einem Gewerbegebiet betreibt, dessen Mittagstisch von den Angestellten der umliegenden Firmen angenommen wird, dann stellt dies eine gelebte Form der Integration dar, die für die behinderten Mitarbeiter erfahrbar und bedeutsam ist. Für die Arbeitsiosen, die Ausgegliederten und die Nicht-Erwerbsfähigen sollte deshalb die bewährte Struktur der Werkstätten zu einem öffentlichen Sektor der beruflichen Teilhabe Behinderter ausgebaut werden. In diesem Punkt könnte man sich sogar auf die UNO-Konvention beziehen, die immerhin feststellt, dass "besondere Maßnahmen, die zur ... Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung erforderlich sind, ... nicht als Diskriminierung" gelten [Art. 5,4].


Wolfgang Trunk, Frankfurt/Main, Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Hessen e.V.



Literatur:

Arnold, Ulli; Untersuchungsprojekt "Finanzierung der Werkstätten für Menschen mit Behinderungen"; Universität Stuttgart, 2008

ASMK; 86. Arbeits- und Sozialministerkonferenz; Beschluss zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen; 11.2009

BIH; Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen; Jahresbericht 2007 / 2008; Wiesbaden 2008

BMAS; Bundesministerium für Arbeit und Soziales; Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderungen für die 16. Legislaturperiode; Bonn 2009

Schönhut-Keil, Evelin; Fazit und Ausblick: Fit für die Zukunft? in: Kunze, Heinrich, et al.; Der Reiz des Unentdeckten; Bonn 2008

UNO; Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen; New York 2006


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-10, 48. Jahrgang, S. 86-93
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2010