Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

MARXISTISCHE BLÄTTER/437: Tarifkampf in der Krise


Marxistische Blätter Heft 2-10

Tarifkampf in der Krise

Von Manfred Dietenberger


Selbst erfahrene Gewerkschafter, die mit den in den letzten Jahren ausgehandelten niederen Tarifabschlüssen unzufrieden waren, fragten sich zu Beginn der Tarifrunde 2010, ob man ausgerechnet in der Krise für höhere Löhne kämpfen kann, und wenn ja, wie. In der wirtschaftlichen Prosperität lässt sich es jedenfalls komfortabler kämpfen. Dass die kapitalistische Produktion sich in bestimmten periodischen Zyklen bewegt, wusste auch schon Karl Marx: "Sie macht nacheinander den Zustand der Stille, wachsender Belebung, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation durch. (...) ... während der Phasen der Krise und der Stagnation ist der Arbeiter, falls er nicht überhaupt aufs Pflaster geworfen wird, einer Herabsetzung des Arbeitslohns gewärtig. (...) Wenn er nicht bereits während der Prosperitätsphase (...) für eine Lohnsteigerung kämpfte, so käme er im Durchschnitt eines industriellen Zyklus nicht einmal zu seinem Durchschnittslohn ..." ("Lohn, Preis und Profit", 1865, MEW). Dem ist nur hinzuzufügen, dass diese Tarifauseinandersetzung inmitten der Weltwirtschaftskrise eben nicht nur zur Anhebung der Löhne und Gehälter, sondern als Abwehrkampf gegen die Angriffe des Kapitals auf den gesamten Lebensstandard der arbeitenden Menschen geführt werden müsste. Ob dies gelungen ist? Ein nicht durch Pulverdampf getrübter Rückblick auf die Tarifauseinandersetzung der beiden größten deutschen Gewerkschaften, also IG Metall und ver.di, zu Beginn des Krisenjahres 2010 lohnt und hilft bei der Beantwortung der Frage. Eine Studie des WSI der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung im September 2008 stellte fest, dass die Reallöhne in Deutschland zwischen den Jahren 2000 und 2008 um 0,8 Prozent zurückgegangen sind. Demgegenüber seien die Löhne in allen anderen EU-Staaten seit der Jahrtausendwende auch preisbereinigt gestiegen. Und was überrascht: gleich in mehreren mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern legten die realen Bruttolöhne in diesem Zeitraum um mehr als 100 Prozent zu. In den Ländern der alten EU hatten die Niederlande, Schweden, Finnland, Dänemark, Großbritannien, Irland und Griechenland mit Werten zwischen 12,4 und 39,6 Prozent die höchsten Reallohnsteigerungen. Im gleichen Zeitraum wuchsen in Frankreich die Bruttolöhne seit 2000 um 9,6 Prozent und in Österreich, dem Land mit der zweitniedrigsten Wachstumsrate, immerhin auch noch um 2,9 Prozent. Dr. Thorsten Schulten vom WSI in der HBS stellte dazu fest: "Deutschland hat eine hoch problematische lohnpolitische Sonderstellung, die sich zunehmend zugespitzt zeigt." Trotz im EU-Vergleich niedrigen Inflationsraten liege die Bundesrepublik bei der Reallohnentwicklung konstant hinten. Das gelte für die längerfristige Betrachtung ebenso wie für die Entwicklung im Aufschwungjahr 2007. Ein wichtiger Grund für diese schwache Entwicklung liegt nach Schultens Analyse in der so genannten negativen Lohndrift, die ebenfalls eine deutsche Eigenheit darstelle. Während in anderen Ländern die Effektivlöhne häufig deutlich stärker ansteigen als die Tariflöhne, war es in der Bundesrepublik in den letzten Jahren zumeist umgekehrt: Die Beschäftigten bekamen im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt niedrigere Lohnerhöhungen als in den Tarifverträgen vereinbart wurde. Wesentliche Ursachen dafür seien die rückläufige Tarifbindung sowie Möglichkeiten, auf betrieblicher Ebene von tarifvertraglichen Standards nach unten abzuweichen. Unter anderem verantwortlich für diese Entwicklung ist, dass der Flächentarifvertrag mehr und mehr an Bedeutung verliert und damit die Tarifbindung rapide gesunken ist. Aber auch in den noch tarifgebundenen Unternehmen wurde und wird "dank" der mit den Gewerkschaften ausgehandelten Öffnungsklauseln von jeder Lohnerhöhung immer weniger ankommen, als in den Tarifverträgen vereinbart wurde. Da inzwischen jeder dritte Beschäftigte sein Geld in einem Mini-, Midi-, 1-Euro-Job oder Zeitarbeitsvertrag verdient ist klar, dass der Aufschwung an der Bevölkerung vorbeigegangen ist. Im Jahre 2008 hatte es vor dem Hintergrund außerordentlicher Gewinne nominal höhere Abschlüsse gegeben.

Die vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführte Studie "Reallöhne in Deutschland über mehrere Jahre rückläufig" stellte fest: "Die Netto-Reallöhne sind in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre kaum gestiegen. Von 2004 bis 2008 gingen sie sogar zurück, eine in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Entwicklung, denn nie zuvor ging ein durchaus kräftiges Wirtschaftswachstum mit einer Senkung der realen Nettolöhne über mehrere Jahre einher. Maßgeblich hierfür ist nicht etwa eine höhere Belastung der Lohneinkommen durch Steuern und Sozialabgaben, sondern die - auch im internationalen Vergleich - außerordentlich schwache Steigerung der Entgelte. Dieser Befund ist umso bemerkenswerter, als sich die Qualifikation der beschäftigten Arbeitnehmer im Durchschnitt erhöht hat, was für sich genommen einen deutlichen Anstieg der Verdienste hätte erwarten lassen dürfen. Im Gegensatz zur Lohnentwicklung sind die Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit sowie aus Kapitalvermögen in den vergangenen Jahren kräftig gestiegen, sodass die Arbeitnehmer einen immer geringeren Teil des Volkseinkommens ausmachen." Den deutschen Gewerkschaften ist es also über viele Jahre nicht mehr gelungen die Lohnquote zugunsten der Arbeiter bzw. ungunsten der Kapitalisten zu verändern. Die Lohnquote ist nicht nur ein Gradmesser der gesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse, sondern auch der Stärke bzw. der Schwäche der Gewerkschaften. 2009 schlug die Weltwirtschaftskrise voll auf die Geldbeutel der deutschen Arbeiterschaft durch. Das statistische Bundesamt meldete Anfang März 2010, dass erstmals seit 60 Jahren in der Bundesrepublik der Bruttolohn gesunken ist. Wie das Statistische Bundesamt bekannt gab, verdiente der deutsche Arbeitnehmer 2009 vor Abzug von Steuern und Sozialabgaben durchschnittlich 27 648 Euro - das sind 0,4 Prozent weniger als 2008! Immerhin: Das Minus an Geld ging einher mit einem Plus an erzwungener Freizeit via Kurzarbeit. Als Hauptgründe für den Pro-Kopf-Rückgang werden in der Studie der Ausbau der Kurzarbeit sowie der Abbau von Überstunden genannt. Doch auch diese Bruttolohnsteigerung wurde z. B. von den Mehrkosten für Energie kompensiert und real blieb das Einkommen konstant.

Zu Beginn des Jahres 2010 standen die Tarifverhandlungen für insgesamt 9,4 Millionen Menschen bevor. Die größten Bereiche sind die Metallindustrie mit über 3 Millionen Beschäftigten und der Bereich Bund und Kommunen des öffentlichen Dienstes mit 1,6 Millionen Beschäftigten. Den Tarifrunden voraus gab es schon Ende 2009 erste Positionsbestimmungen. Die IG Metall, die im letzten Jahr noch mit der Forderung nach 8 Prozent ins Rennen ging, gab überraschend und ganz ohne Not schon vorzeitig zu erkennen, dass sie auf Lohnerhöhungen diesmal gar nicht so erpicht ist. Auf der Neujahrspressekonferenz 2010 verlautbarte Berthold Huber von der IGM, dass die wirtschaftliche Lage im neuen Jahr weiter schwierig bleibe. "Wir gehen von bis zu 700 000 bedrohten Arbeitsplätzen in unseren Branchen bis Ende 2012 aus." Damit befand sich der Kollege Vorsitzende im Gleichklang mit Arbeitgeberchef Martin Kannegiesser, der davon sprach, dass seine Branche bis 2012 aus dem Tal nicht heraus komme und, um seine Einschätzung zu unterstreichen, feststellte: "Das sieht übrigens auch die IG-Metall so. Selten habe ich erlebt, dass beide Seiten in der Lagebeurteilung derart übereinstimmen." Und so kamen beide zu dem Schluss, die Sicherung von Beschäftigung sei bei dieser Tarifrunde vorrangig. Im Interview mit der Stuttgarter Zeitung vom 26.10.2009 kündigte der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber für die kommende Tarifrunde Anfang 2010 eine zurückhaltende Lohnpolitik seiner Gewerkschaft an. "Ich sehe im Moment nicht, dass wir große Entgeltforderungen stellen werden", "Eine Krise ist für die Gewerkschaften nie der Fanfarenstoß für Erfolge an der Entgeltfront." Damit war es raus: die IG Metall wird 2010 keine Lohnforderung im üblichen Sinne aufstellen. Denn Huber ergänzte noch, mit der bisher üblichen Formel zur Aufstellung der Tarifforderung, also Inflationsausgleich plus Produktivitätsentwicklung, "werden wir diesmal nicht weiterkommen". Denn die Produktivitätsentwicklung sei negativ, da in Folge der Kurzarbeit weniger produziert werde. Die Inflation liege im Gesamtdurchschnitt des Jahres bei 0,3 Prozent. Und außerdem "hatten wir in den letzten Monaten eine negative Preissteigerungsrate". Das Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute sehe für 2010 eine Inflationsrate von 0,6 Prozent voraus. "Sodann haben wir noch eine Altlast zu erfüllen, indem wir 0,4 Prozent zur Finanzierung der Altersteilzeit einbringen", sagte der IGM-Boss. "Alles in allem ist die Luft wirklich dünn." Dagegen werden die Themen Beschäftigung, Verhinderung von betriebsbedingten Kündigungen und Übernahme von Auszubildenden "die großen Herausforderungen sein, um die es in der Tarifrunde geht". Er sei zutiefst überzeugt davon, dass dies dem Gefühl vieler Mitglieder entspreche. Vieles stehe und falle allerdings mit der Frage, ob die Regelung zum Kurzarbeitergeld ins nächste Jahr verlängert werde. Seinen Kurs verteidigte Berthold Huber, indem er darauf verwies, dass die IG Metall in der Tarifpolitik letztlich immer einen pragmatischen Kurs gefahren habe. 1995 hätten die Arbeitgeber eine Absenkung der Löhne um fünf Prozent gefordert. Am Ende habe es neben dem Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung eine schwarze Null aus Arbeitnehmersicht gegeben. "Heute höre ich keine Forderung der Arbeitgeber nach einer Absenkung der Tarifentgelte", sagte Huber. "Insofern haben sie offensichtlich etwas dazu gelernt." Auch an der Gewerkschaftsbasis erkenne er im Moment keine zugespitzte Debatte über Lohnforderungen. "Unser Motto 'Keine Entlassungen' trägt", sagte Huber der "Stuttgarter Zeitung". "Wenn das nicht mehr hält, sieht alles anders aus", warnte er die Arbeitgeber vor einer Kündigungswelle.

Zu Beginn der Tarifauseinandersetzung klingt die Lageeinschätzung durch ver.di deutlich anders als bei den Metallern. Während die IG Metall von Anfang an auf Kuschelkurs mit den Bossen geht und sich in Sachen Lohnerhöhung äußerst zurückhaltend gibt, fordert der Chef der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Frank Bsirske, in den ersten Interviews und Stellungnahmen zur Forderungsstruktur für 2010 trotz wirtschaftlich schwieriger Zeiten höhere Löhne. "Lohnverzicht", so Bsirske, "ist in einer Zeit, in der wir uns am Rande einer Deflation bewegen, der falsche Weg." "Zudem gibt es auch Branchen wie den Energiebereich, die gute Gewinne machen. Für uns bleibt der Ausgleich von Preissteigerung und Produktivitätszuwachs der Maßstab". Damit widersprach Bsirske indirekt seinem Amtsbruder Huber von der IG Metall. Für sein Statement pro Lohnerhöhungen erntete Bsirske die öffentliche Kritik des neuen IG-BCE-Vorsitzenden Michael Vassiliadis, der vortrug, es sei aus gutem Grund bisher Usus, dass keine Gewerkschaft zu Tariffragen Stellung nehme, von denen sie nichts verstehe. Vassiliadis warnte gleichzeitig vor einer konfrontativen Politik gegenüber der schwarz-gelben Regierung, und mit dem neuen FDP-Wirtschaftsminister könne man gut auskommen. Warum Bsirske trotz Wirtschaftskrise auf eine aktive Lohnpolitik setzt, begründete er auch in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 5.12.2009 so:

"Wir müssen den Fehler vermeiden, den Japan in den 1990er Jahren gemacht hat. Die Politik hat zu früh auf einen Konsolidierungskurs gesetzt. Und das Lohnniveau ist über Jahre gesunken. Das war auch deshalb möglich, weil die Flächentarifverträge aufgebrochen und durch Haustarifverträge ersetzt wurden. Und die schaukelten sich gegenseitig nach unten. Sparpolitik und Lohnsenkung haben dazu geführt, dass Japan seit 20 Jahren in der Deflationskrise steckt. Wir müssen aus solchen lohnpolitischen Fehlern lernen. Das heißt: Ein Lohnplus ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht dringend nötig. Wir müssen die Binnennachfrage stützen, damit die Wirtschaft nicht wieder in die Krise gerät."

Auf die Frage, wie Bund, Länder und Kommunen angesichts ihrer Rekordverschuldung das geforderte Lohnplus finanzieren sollen, konterte Frank Bsirske: "Keine Frage: Die Lage in vielen Kommunen ist dramatisch. Es gibt Städte, denen die Kommunalaufsicht inzwischen verbietet, auszubilden, das gilt etwa für Duisburg und Oberhausen. Es gibt Städte, die ihr gesamtes Personal entlassen könnten - und ihr Haushalt wäre nach mehreren Jahren immer noch nicht konsolidiert. Glaubt man dem Finanzplanungsrat, wird sich die finanzielle Lage der Kommunen in den nächsten Jahren noch drastisch zuspitzen. Diese gigantischen Probleme sind mit Lohnzurückhaltung nicht zu lösen - selbst mit 50 Jahren Lohnpause nicht." "Gut gebrüllt, Löwe", wäre man verführt zu sagen. Bsirske sagt jedoch selbst, dass das Tarifergebnis "weniger ist als viele erhofft hatten und was notwendig gewesen wäre". Das Unglaubliche geschah: Bei den Tarifverhandlungen der IG Metall und auch bei ver.di kam es trotz der schwersten und allseitigsten kapitalistischen Wirtschaftskrise seit mindestens 80 Jahren zu keinen ernsten Konflikten. Noch einige Monate zuvor warnten DGB-Chef Sommer und andere vor drohenden Massenstreiks und "sozialen Unruhen". Ganz im Gegenteil: schneller und geräuschloser als je zuvor verständigten sich die Verhandlungsführer auf einen Kompromiss - mit starker Schlagseite zuungunsten der Beschäftigten. Nicht wenige bürgerliche Kommentatoren sehen daher schon jetzt das Wiedererblühen der alten, auf Konsens ausgerichteten Sozialpartnerschaft und frohlocken. Wohl nicht ohne Absicht wurden von der IGM die Verhandlungen mit den Kapitalisten schon innerhalb der Friedenspflicht zu führen begonnen. Die Gewerkschaftsspitze wollte keinen Arbeitskampf und signalisierte das so auch dem Gegner.

Inzwischen (Mitte März 2010) ist die Tarifrunde für die beiden größten Gewerkschaften gelaufen. Es waren, genau besehen, eigentlich nur Tarifgesprächsrunden. (Man stelle sich aber nur mal ganz kurz vor, es hätte 2010 eine klassische, dem Ernst der Lage entsprechende Tarifauseinandersetzung gegeben. Was wäre anders? Sie wäre noch nicht beendet, es liefen Warnstreiks, Urabstimmungen und großartige Demos, auf denen Generalstreiksteilnehmer aus Griechenland, Italien und Frankreich von ihren Kämpfen berichteten und ihre deutschen Kollegen begeisterten!) In der Realität war es aber so: sehr früh waren sich die Spitzen der IG Metall und IG-BCE mit den Unternehmerverbänden einig, dass "Beschäftigungssicherung" bei Lohnverzicht, flankiert von Maßnahmen durch die Bundesregierung, favorisierte Einigungsziele sind. Den Begriff Tarifbewegung sollten wir daher nur im Zusammenhang mit Kampf gebrauchen. Wird statt gekämpft gekuschelt, bleibt am Ende nur das Kuschen. So auch in diesem Fall. Natürlich kann man es auch positiv formulieren: dafür, dass dies alles ohne großen Kampf erreicht wurde ging's ganz gut.

Wie sich das IG-Metall-Tarifergebnis in der betrieblichen Wirklichkeit verortet sei hier kurz am Beispiel der Zahnradfabrik Friedrichshafen AG (ZF-F) demonstriert Die ZF-F am Bodensee ist das Stammwerk des weltweit operierenden Unternehmens. Als einer der weltweit größten Getriebehersteller und drittgrößter Automobilzulieferer hat er dort an seinem Produktionsstandort für Nutzfahrzeugantriebe enorm mit der Absatzkrise zu kämpfen. Der sehr auf Co-Management orientierte mehrheitlich IG-Metall-Betriebsrat hat kurz nach dem Tarifabschluss millionenschwere Kürzungen akzeptiert. Wie Mitte März vom Unternehmen veröffentlicht wurde, sollen damit die Personalkosten allein bei ZF in Friedrichshafen bis 2012 um jährlich 60 Millionen Euro reduziert werden. Die Vereinbarung sieht weiter vor, dass nach Auslaufen der Kurzarbeit, maximal nach 24 Monaten der "Beschäftigungssicherungstarifvertrag" zur Anwendung kommt. Der Vereinbarung zufolge kann die Wochenarbeitszeit - bei geringem Lohnausgleich - bis auf 26 Stunden abgesenkt werden. Außerdem wird die ab April tariflich in Kraft tretende Einkommensverbesserung von 2,7 Prozent die nächsten anderthalb Jahre auf übertarifliche Zulagen angerechnet werden.

Der Betriebsrat hält sich zugute, dass der Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen bis 2013 vereinbart werden konnte. Dies gilt allerdings nur für die Stammbelegschaft und natürlich nur, wenn ... Die derzeit 550 Zeitarbeiter unter den insgesamt rund 8000 Friedsrichshafener ZF-Beschäftigten werden noch im laufenden Jahr 2010 auf die Straße geschmissen. Konzernbetriebsratschef Johann Kirchgässner wertet den Vertrag positiv. Er verteile die Last des Sparpakets auf viele Schultern. Nicht nur die Beschäftigten am Stammsitz werden vom Abbau betroffen. Bundesweit sollen die Ausgaben um 600 Millionen Euro reduziert werden, davon allein die Personalkosten um 200 Millionen Euro. Trotz tiefster Wirtschaftskrise konnten Merkel und Kapital auch unter Nutzung der Tarifrunde 2010 ihre Stellung im System festigen. Durch die in den letzten Jahren gelungene Fusion des Sozialpartnergeschwafels mit dem Evangelium der Standortpolitik ist eine neue, noch gefährlichere Form der institutionalisierten Regelung der Kooperation von Kapital, Arbeit und Regierung gelungen. Der bisher vorherrschende Sozialkorporatismus wurde aufgegeben; der neue Wettbewerbskorporatismus strebt den Konsens zwischen Gewerkschaften, Kapital und Regierung in dem Ziel an, das Überleben des Standorts Deutschland in der globalen Krise zu sichern und nach der Krise noch besser gegen die Weltmarktkonkurrenz aufgestellt zu sein. Dabei akzeptieren die Gewerkschaften eine 'vernünftige Lohnpolitik', die Existenz von Leih-Arbeitern zweiter Klasse, ja einen Niedriglohnsektor sowie den "sozialverträglichen" Umbau der Sozialsysteme. Im Gegenzug hierfür anerkennen die Arbeitgeber die Gewerkschaften als Verhandlungspartner, akzeptieren Flächentarifverträge "mit weiten Fenstern" und versprechen gar Arbeitsplatzsicherheit. Während viele Gewerkschaftsaktivisten nach der von den Konservativen im September 2009 gewonnenen Bundestagswahl gebannt nach Berlin schauten, blieb IG-Metall-Vorsitzender Huber gelassen: "Ich setze auf die Vernunft von Angela Merkel. Die Bundeskanzlerin hat bisher gegenüber Arbeitnehmern einen fairen Kurs gefahren." Merkel ihrerseits lobt, wo sie kann, die Gewerkschaften für ihr verantwortliches Verhalten in der Wirtschaftskrise. Gar "vorbildlich" nennt sie den gerade erst ausgehandelten Tarifvertrag. Merkel und Huber, ja die können es irgendwie miteinander. Das wird honoriert und so steigt IG-Metall-Chef Huber in die Bewirtungsklasse von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann auf. Kanzlerin Angela Merkel spendiert ihm am 17. März 2010 im Kanzleramt ein Abendessen - in Berlin. Zum Essen eingeladen sind laut "Süddeutsche Zeitung" neben Huber und dessen Frau der Chef des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Martin Kannegiesser, VW-Chef Martin Winterkorn, Siemens-Chef Peter Löscher und der DGB-Vorsitzende Michael Sommer sowie mehrere Gesamtbetriebsräte großer Konzerne. Aus der Bundesregierung kommen außer Merkel auch die Arbeitsministerin Ursula von der Leyen und Kanzleramtschef Ronald Pofalla (beide CDU) und auch Wirtschaftsminister Rainer Brüderle von der FDP. Prominente SPD-Politiker fehlten auf der Liste, obwohl Merkel und Huber die Gästeliste miteinander abgestimmt haben sollen.


Schlussfolgerungen:

Angesichts der verheerenden Auswirkungen der größten kapitalistischen Krise auf die Kapazitätsauslastung vor allem der exportorientierten Beriebe, besonders der Automobilbauer und in der Maschinenbauindustrie und ihrer Zulieferer; und eingedenk der katastrophalen Lage der öffentliche Haushalte waren für 2010 lange und harte Tarifkämpfe zu erwarten. Es kam anders. Schnell, viel zu schnell wurde der (Tarif-)Friede geschlossen, der trügerische Burgfrieden hergestellt. Mehr noch als das Tarifergebnis ist die Art und Weise, wie dieser Tarifabschluss zustande kam, zu kritisieren! Es fehlten zur Diskussion und Aufstellung der richtigen Forderungsstruktur für die Tarifrunden 2010 zur Vorbereitung z. B. genügend hierfür genutzte Betriebsversammlungen, große, mobilisierende Funktionärskonferenzen, betriebliche und außerbetriebliche Aktionen. Die innergewerkschaftliche Demokratie - Lebenselixier der Arbeiterbewegung - blieb zu Gunsten einer staatstragenden "Kabinettsdiplomatie" auf der Strecke! Berthold Huber scheint harmoniesüchtig zu sein. Zwischen Kapital und Arbeit kann es aber keine Harmonie geben. Nie, aber schon gar nicht in der Krise, kann der Grundwiderspruch zwischen beiden Kräften zu beider Vorteil aufgelöst werden. Lohnfragen sind Machtfragen und daher müssen in der Gewerkschaftspolitik künftig wieder grundlegend andere Wege gegangen werden. Der Kapitalmacht ist gewerkschaftliche Gegenmacht entgegenzusetzen. Der Bruch mit der Sozialpartnerschaftsideologie ist der grundlegendste, erste Schritt auf diesem neuen Weg. Statt des Schulterschlusses mit Kapital und Regierung ist der Schulterschluss mit allen Ausgebeuteten, ob Arbeitern, prekär Beschäftigten und Arbeitslosen zu suchen und gemeinsam der Kampf aufzunehmen. Der zweite notwendige Schritt ist der Bruch mit der Verzichtmentalität: Gewerkschaften müssen offensiv die Interessen der Arbeiterschaft vertreten. Arbeitsplätze in der Automobilindustrie rettet man nicht mit der an die Regierung gerichteten Forderung des Gewerkschaftsvorsitzenden nach einer Abwrackprämie, sondern im Kampf für eine auch gesellschaftlich nützliche Produktkonversion - also schrittweise Umstellung der Produktion zugunsten von Schiffen, Bahnen und Bussen usw. Metall-Arbeitsplätze rettet man auch nicht, indem der Gewerkschaftsboss von der Regierung den Kauf von Militärflugtransportern fordert. Nur die sofortige Wiederaufnahme des Kampfes um Arbeitszeitverkürzung in jeder Form, also: her mit der 32-Stunden-Woche bei vollem Gehalts- und Personalausgleich (nicht nur zur Sicherung und zum Erhalt von Arbeitsplätzen, sondern auch für mehr Lebensqualität und Möglichkeit zu mehr gesellschaftlichem Engagement), weg mit der Rente mit 67!, her mit betrieblicher und außerbetrieblicher Weiterbildung und weg mit der Leiharbeit! Verbinden wir den sozialen Kampf mit dem Friedenskampf! Sparen wir uns die Rüstung! Und was hindert uns von Merkel und Co. zu fordern, die zig Milliarden von nicht abgerufenen Geldern aus dem Banken-Schutzschirm in Beschäftigung und öffentliche Daseinsvorsorge umzuleiten? Und wir brauchen höhere Einnahmen aus Besteuerung der großen Vermögen und Gewinne.

"Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals." "Gleichzeitig ... sollte die Arbeiterklasse die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen Kämpfe nicht überschätzen. Sie sollte nicht vergessen, dass sie gegen Wirkungen kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen; dass sie zwar die Abwärtsbewegung verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert; dass sie Beruhigungsmittel anwendet, die das Übel nicht kurieren. Sie sollte daher nicht ausschließlich in diesem unvermeidlichen Kleinkrieg aufgehen, der aus den nie enden wollenden Gewalttaten des Kapitals oder aus den Marktschwankungen unaufhörlich hervorgeht. Sie sollte begreifen, dass das gegenwärtige System bei all dem Elend, das es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Formen, die für eine ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sind. Statt des konservativen Mottos: 'Ein guter Lohn für gute Arbeit!' sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: 'Nieder mit dem Lohnsystem!'" Karl Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW 16, 151.


Manfred Dietenberger, Albdruck, Rentner, ehem. DGB-Kreisvorsitzender


*


Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 2-10, 48. Jahrgang, S. 47-53
Redaktion: Marxistische Blätter
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Tel.: 0201/23 67 57, Fax: 0201/24 86 484
E-Mail: Redaktion@Marxistische-Blaetter.de
Internet: www.marxistische-blaetter.de

Marxistische Blätter erscheinen 6mal jährlich.
Einzelheft 8,50 Euro, Jahresabonnement 45,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2010