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MARXISTISCHE BLÄTTER/399: Unser Beitrag in der "Erinnerungsschlacht" um die DDR


Marxistische Blätter Heft 3-09

Unser Beitrag in der "Erinnerungsschlacht" um die DDR

Von Ekkehard Lieberam, Roland Wötzel


I. Schwarz-Weiß-Malerei zwanzig Jahre später

Die "Erinnerungsschlacht" um das DDR-Geschichtsbild angesichts der bevorstehenden "Jubiläumsjahre" 2009 und 2010 ist bereits im vollen Gange. Sozialisten und Kommunisten sollten in ihr eigenständige Positionen beziehen und sich "zur Legitimität der Herausbildung sozialistischer Gesellschaftsformationen im 20. Jahrhundert bekennen".(1) Als breit gefächerte, staatlich gesteuerte und finanzierte ideologische Kampagne zielt sie darauf ab, den Bürgerinnen und Bürgern in Ostdeutschland das Geschichts-, Traditions- und Werteverständnis der alten BRD aufzudrängen. Nunmehr bald "20 Jahre später" ist es in Deutschland so, als ob die Schlachten des kalten Krieges wieder aufs Neue geschlagen werden sollen. Vorrangig geht es offenbar jetzt darum, das Alltagsbewusstsein von "DDR-Nostalgie" zu säubern. Fernsehsendungen, Richtlinien für den Schulunterricht, vor allem Filme suggerieren, die DDR habe als "SED-Diktatur", als gleichgeschaltetes, unterdrücktes und militarisiertes Land die nazifaschistische Diktatur fortgesetzt. Im Übrigen sei sie pleite gewesen. Die ehemaligen DDR-Bürger bedürfen unbedingt der geistigen Führung westdeutscher Politiker, Politikwissenschaftler, Journalisten und Regisseure, um ihr eigenes Leben überhaupt richtig begreifen zu können.

Überall sind Geßlerhüte aufgestellt, die es zu grüßen gilt. Durch den Gebrauch von vorgegebenen Sprachregelungen wie "ehemalige DDR", "Unrechtsstaat", "zweite Diktatur" oder "Bekämpfung jeglichen Extremismus" kann die/der Ostdeutsche Signale der Bereitschaft aussenden, sich dem offiziellen Gut-Böse-Schema und den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu unterwerfen. Es lebt sich dann unter Umständen ruhiger, aber keineswegs besser. Der Anspruch solcher Propagandafilme wie "Die Frau vom Checkpoint Charly" auf authentische Darstellung des wirklichen Lebens in der DDR darf nicht hinterfragt werden, zumindest nicht mit Wirksamkeit in einer öffentlichen Debatte. Hinweise auf krasse Verfälschungen der Wahrheit haben dort keine Chance, Gehör zu finden. Freiheits- und Einheitsdenkmale, in Berlin auf dem Sockel des wilhelminischen Nationaldenkmals, kündigen Höhepunkte und Sinn neuer Einheitsfeiern an. Hingegen werden gleiche Tariflöhne und Renten für Ostdeutsche in weite Ferne gerückt. Eine nicht mehr zu übersehende Kapitalismuskrise wird infolge der "Allseitigkeit ihres Schauplatzes" wie der "Intensität ihrer Wirkung", ähnlich wie kurz nach der Reichsgründung im Jahre 1873, allerdings "selbst den Glückspilzen" eines vereinigten Deutschlands wiederum "Dialektik einpauken".(2)


II. DDR-Verunglimpfung als Prävention gegen Kapitalismusfrust

Der aktuelle Aufwand zur Verunglimpfung der DDR ist erstaunlich, sowohl angesichts des seit dem Untergang der DDR vergangenen Zeitraumes als auch der bisherigen aufwändigen Bemühungen, an der DDR kein gutes Haar zu lassen. Der Schluss liegt nahe: die DDR, viele Erinnerungen an die DDR werden nach wie vor als akute Gefahr für Gegenwart und Zukunft des Kapitalismus in Deutschland betrachtet. Die DDR-Bürger haben zwei Gesellschaftssysteme erlebt, eine vormundschaftliche Vereinigung, die allgemeine Abwertung ihrer Lebensleistung und ein über Jahre hinweg von der Treuhand beherrschtes diktatorisches Wirtschaftssystem, das nur ihr Bestes wollte, ihre Betriebe, ihr Land und ihr Geld. Sie konnten aus eigener Sicht und Erfahrung Vergleiche und Schlussfolgerungen ziehen. Ostdeutsche und Westdeutsche sind heute "spezifische Gruppen mit spezifischen Denk- und Verhaltensstrukturen, Werten, Wertorientierungen und Erwartungen sowie Vergangenheits- und Gegenwartsbewertungen".(3) Die Erinnerung an eine ganze Reihe von Lösungen gesellschaftlicher Probleme in der DDR fällt positiv aus, die kapitalistische Produktionsweise, auch das derzeitige politische System kommen nicht gut weg. Im Jahre 2006 betrachteten sich trotz der mittlerweile erfolgten Bevölkerungserneuerung und -wanderungen nur 34 Prozent als "Gewinner der deutschen Einheit". 63 Prozent erklärten, sich nicht als "richtige Bundesbürger" zu fühlen. 15 Prozent wollten die DDR wiederhaben (1998 neun Prozent, 2003 elf Prozent). Von den Arbeitslosen wollten dies 24 Prozent und von den unter 25-Jährigen erstaunlicherweise 23 Prozent.(4) Befragungen zum "Sozialismus als gute Idee" ergeben regelmäßig über 70 Prozent Zustimmung, deutlich mehr als in Westdeutschland. Aus der aktuellen Studie "Leben in den neuen Bundesländern 2008" des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg e. V. im Vergleich mit entsprechenden Studien seit 1990 folgt unter anderem, dass seit 1994 der Anteil der Ostdeutschen, die mit der praktischen Gestaltung der Demokratie "zufrieden" sind, von 17 auf 12 Prozent gesunken ist. Damals erwarteten noch 28 Prozent Verbesserungen hinsichtlich der "demokratischen Entwicklung", heute nur noch sechs Prozent. Nur ein Viertel meint, "dass die Teilhabe an der repräsentativen Demokratie im Sinne von Wahlbeteiligungen ausreichend sei". Drei Viertel sind der Meinung, dass Privatisierungen an den Bedürfnissen der Bürger vorbeigehen.

Das in Ostdeutschland besonders ausgeprägte kapitalismuskritische linke Alltagsbewusstsein ist eng mit Erfahrungen einer nicht-kapitalistischen Gesellschaftsordnung verbunden. Offenbar deshalb ist es auch so zählebig, voller Gefahren für die Sicherung von Massenloyalität für die herrschende Klasse und aktivierbar im Falle einer weiteren drastischen Verunsicherung und Verschlechterung der sozialen Verhältnisse. Die DDR-Geschichte wird so auch vor allem deshalb immer unverfrorener als Kriminalgeschichte hingestellt, weil verhindert werden soll, dass im Verlaufe eines krachenden Kapitalismus die Forderung nach einer sozialistischen, gemeinwirtschaftlichen Gesellschaft in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen rücken könnte.


III. Der halben Revolution folgte eine ganze Konterrevolution

Der Herbst 1989 war das Vorspiel für den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik. Aber er war auch mehr. Er war zunächst ganz wesentlich auch Aufbruch einer Bewegung für einen reformierten Sozialismus, für eine erneuerte DDR, für eine Demokratisierung ihres politischen Systems, für rechtsstaatliche Verhältnisse, insbesondere für die Gewähr; leistung politischer Grundrechte. Gegenüber der SED hatte sich im Verlaufe der achtziger Jahre eine tiefgehende Vertrauenskrise entwickelt. Die SED-Führung tat im Verlaufe des Jahres 1989 viel, um diese Vertrauenskrise zu verschärfen. Zum einen beschönigte sie die Lage, negierte den Verfall der Großstädte wie gerade auch in Leipzig, fälschte die Statistik und blockierte jeden Ansatz einer Volksdiskussion über die anstehenden Probleme. Zum anderen verstrickte sie sich in einen Teufelskreis von Unwahrheiten über die tatsächliche Situation und sich daraus ergehenden Zwängen: Die Unwahrhaftigkeit der Parteiführung bei der Einschätzung der Lage wie auch zunehmende Repressionen gegen Kritiker der Wirtschaftspolitik und der Wahlfälschungen (im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen im Mai 1989), die abstruse Kampagne gegen die "Nörgler und Meckerer" in den eigenen Reihen verschärften die Vertrauenskrise bis hin zur offenen Rebellion von Hunderttausenden. Die SED-Führung war objektiv mit einem nicht mehr lösbaren Dilemma konfrontiert. Mobilisiert sie gegen die Bürgerbewegung, mobilisiert sie gegen die von der Mehrheit der Bevölkerung geforderte Erneuerung. Mobilisiert sie für die Bürgerbewegung und Erneuerung, wird ihr alsbald die politische Macht entgleiten. Sie tat ernsthaft weder das eine noch das andere und büßte innerhalb weniger Wochen ihre politische Führungsrolle ein.

Bereits im Dezember 1989 wurde deutlich, dass ein Konzept zur Erneuerung der DDR nicht durchsetzbar war, an den Realitäten scheitern musste. Der Sozialismus konnte 1989 weder auf reformistischen Wege von oben noch auf revolutionären Wege von unten demokratisiert, erneuert bzw. bewahrt werden. Die reale Situation und die Dynamik der Entwicklung ließen den Befürwortern eines reformierten Sozialismus keine Atempause, der Wille in der Bevölkerung zur Erhaltung der DDR war gering. Die Zusammensetzung der Demonstranten in Leipzig änderte sich zu Gunsten der Befürworter eines baldigen Endes der DDR. Die DDR-Gesellschaft hatte für einen Großteil der Massen ihre Attraktivität verloren. Die Machtstrukturen des gesamten Warschauer Vertrages, auch der Sowjetunion, waren ins Wanken geraten. Die DDR-Wirtschaft war nicht tauglich, den Systemwettbewerb mit der BRD erneut, noch dazu ohne Stützung durch die Sowjetunion, ohne deren Rohstofflieferungen und unter den Bedingungen eines offenen politischen Systems, aufzunehmen. Die Arbeiterklasse in der DDR, die Arbeiter in den Betrieben zeigten (im Gegensatz zur Mehrheit der Genossenschaftsbauern) nur vereinzelt Bereitschaft, das sozialistische Eigentum zu verteidigen, geschweige denn Initiativen, eigene neue Machtorgane zu bilden. Die Überlegenheit und die Attraktivität der BRD hinsichtlich der Arbeitsproduktivität und des Konsumangebots waren unübersehbar. Die Herrschaftsapparate der BRD stellten sich darauf ein und waren alsbald in der Lage, das in der DDR entstandene Machtvakuum auszufüllen. Die Losung "Wir sind das Volk" war bereits im Dezember durch die Losung "Wir sind ein Volk" abgelöst worden. Der Aufbruch einer zwiespältigen und recht diffusen Volksbewegung für einen reformierten Sozialismus wurde schnell zur Stunde des westdeutschen Kapitals. In diesem Sinne kann man mit Karl Marx sagen: "Es antwortete ihrer halben Revolution mit einer ganzen Konterrevolution."(5) Im Unterschied zur Bourgeoisie im Jahre 1848 hatten allerdings die Verfechter einer "Revolution" zur Verbesserung des Sozialismus im Jahre 1989 keine Chance, sich durchzusetzen.


IV. DDR: Ergebnis einer außergewöhnlichen geschichtlichen Konstellation

Weder die Entstehung und die Geschichte noch die geschichtliche Bedeutung der DDR lassen sich von ihrem Ende her oder isoliert aus sich selbst heraus begreifen, auch nicht hauptsächlich aus der Sicht des Handelns ihrer führenden Politiker. Bereits die Entstehung der DDR ist nur zu verstehen, wenn man sie als Resultat von zumindest vier längerfristigen Tendenzen und geschichtlichen Konstellationen untersucht und bewertet.

Erstens kam es nach dem zweiten Weltkrieg, nach der militärischen Kapitulation des nazifaschistischen Staates gegenüber der Antihitlerkoalition, in ganz Deutschland zur Beseitigung der zentralen und mittleren staatlichen Machtinstitutionen und zu einer außerordentlichen Schwächung der Kapitalherrschaft. Die Macht ging in den vier Besatzungszonen in die Hände der Besatzungsmächte über. Die großkapitalistische Machtspitze war infolge ihrer Liierung mit dem nazifaschistischen Regime und dessen ungeheuerlichen Kriegsverbrechen weitgehend handlungsunfähig. Zusammen mit dem Kapitalismus saß sie mit auf der Anklagebank. Im politischen Alltagsdenken hatte die Naziideologie tiefe Spuren hinterlassen. Aber zugleich wuchs bei vielen unter dem Einfluss des Erschreckens über die begangenen Verbrechen, von Not und Elend, gerade auch der Trauer über Millionen Tote in Deutschland die Erkenntnis, dass es nur ein konsequentes Mittel gegen Faschismus und neue Kriege gibt, die Beseitigung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse.

Zweitens war im Osten Deutschlands insofern eine einmalige geschichtliche Situation gegeben, als die Sowjetunion, jener Teil der Menschheit, der 1917 den Ausbruch aus dem kapitalistischen Weltsystem gewagt und entscheidenden Anteil an der Niederlage der Naziwehrmacht hatte, in der sowjetischen Besatzungszone die Macht inne hatte und gewillt war, diese Macht gegen die Nazi- und Kriegsverbrecher und damit gegen das Großkapital einzusetzen. Unter Stalin hatte sie den Sieg über Hitlerdeutschland erkämpft. Unter Stalin war es zu bürokratischen Deformationen der sozialistischen Staatsmacht, zur Dogmatisierung des Marxismus, zur physischen Vernichtung eines großen Teils der führenden Kader der Oktoberrevolution und auch der in Moskau lebenden Politiker der Kommunistischen Partei Deutschlands gekommen. Die Sowjetunion war als Besatzungsmacht "der große Bruder" und Klassenverbündeter bei der Schaffung einer antifaschistisch-demokratischen Ordnung, aber auch Zuchtmeister mit politischer Richtlinienkompetenz, der in seiner Besatzungszone besonders ab 1948 auf eine Politik der harten Hand gegen tatsächliche und angebliche Abweichler setzte.

Drittens ergab sich unter den gegebenen Bedingungen zumindest im Osten Deutschlands die reale Möglichkeit, ab 1945 Voraussetzungen dafür zu schaffen, den seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts geführten Kampf der deutschen Arbeiterklasse, der deutschen Sozialisten und Kommunisten, für eine sozialistische Gesellschaft zu verwirklichen. "Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein",(6) hatte Karl Marx 1847 geschrieben. Mit der SPD unter August Bebel und Karl Liebknecht hatte sich im deutschen Kaiserreich eine einflussreiche Arbeiterpartei gebildet, die den Kampf für eine neue Gesellschaft aufnahm. In der Novemberrevolution 1918 folgte dem Kampf um eine Räterepublik eine schwere Niederlage. In der Weimarer Republik verkörperten die Arbeiterparteien KPD und SPD politisch organisierte und ideologische Gegenmacht. Nicht zuletzt die Gefahren, die hiervon für die Herrschaft des Kapitals ausgingen, hatten die herrschende Klasse veranlasst, auf den Nazifaschismus zu setzen. Die Spaltung, das Gegeneinander der Arbeiterparteien im praktisch-politischen Kampf, hatte die faschistische Machtergreifung erst ermöglicht. Im Jahre 1945 war offensichtlich die Stunde gekommen, einen neuen erfolgversprechenden Anlauf im Kampf um eine neue Gesellschaft zu nehmen. Die aus den Konzentrationslagern, der Emigration und der Illegalität kommenden führenden Kommunisten und Sozialisten im Osten Deutschlands nahmen diese durch hegemoniale Herrschaftskonstellation zu Gunsten der Sowjetunion gegebene Chance wahr. Der Kapitalismus war enorm geschwächt, befand sich in einer tiefen Legitimationskrise. Es gelang, im Zusammenhang mit der Bodenreform und der Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher eine breite, von der Arbeiterklasse getragene gesellschaftliche Bewegung für grundlegende Reformen zu entwickeln. Die Arbeiterparteien vereinigten sich. Sie verfügten im Jahre 1946 als SED mit 1,8 Millionen Mitgliedern über eine Massenpartei, wie es sie in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung vorher nicht gegeben hatte.

Viertens ist die Entwicklung der sowjetischen Besatzungszone zur DDR nur zu verstehen, wenn man sie im Kontext zum 1946 beginnenden Kalten Krieg und zur Restauration der kapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnisse in den Westzonen betrachtet. 1948 verschärfte sich der Kalte Krieg in Deutschland erheblich. Die auch in den Westzonen zunächst in Gang gekommene Bewegung für die Vergesellschaftung der großen Produktionsmittel und eine antifaschistisch-demokratische Erneuerung verlor deutlich an Kraft. Das Großkapital gewann an Kraft. Die Länder der amerikanischen, englischen und französischen Besatzungszonen kehrten zur "Normalität" des kapitalistischen Deutschlands zurück, beendeten die Entnazifizierung, nahmen Kurs auf die Bildung eines separaten Weststaates und brachten die Masse der Nazibeamten in führende und mittlere Positionen dieses Staates. Im Osten Deutschlands waren von unten nach oben antifaschistisch-demokratische Staatsorgane aufgebaut worden. Bekannte Persönlichkeiten der Emigration entschieden sich für die Übersiedlung in den Osten Deutschlands. Zugleich waren Parteiausschlüsse, Prozesse gegen ehemalige Mitglieder der KPO in der SED oder der Übertritt prominenter Sozialdemokraten in die Westzonen Begleiterscheinung einer Kampagne zur Verwandlung der SED in eine "Partei neuen Typus", weniger orientiert an Lenin als an den Regeln der KPdSU unter Stalin. Sowohl die andauernden Reparationsleistungen für Gesamtdeutschland an die Sowjetunion als auch die Festlegung der Ostgrenze an der Oder-Neiße belasteten das politische Ansehen der SED. Diese initiierte gemeinsam mit den anderen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen vor allem der sowjetisch besetzten Zone eine Volkskongressbewegung für eine gesamtdeutsche Verfassung, letztlich ohne Erfolg. Am 23. September 1949 wurde für die westdeutschen Länder das vom Parlamentarischen Rat im Mai 1949 beschlossene Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft gesetzt. Am 7. Oktober folgte die Gründung der DDR auf der Basis der Volkskongress-Verfassung.


V. Von der Konfrontation zur Politik des Wandels durch Annäherung

Die Geschichte der DDR vollzog sich in ständiger Wechselwirkung mit der Geschichte der BRD. Deutschland war über 40 Jahre hinweg ein in zwei Staaten mit zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen geteiltes Land. Gerade auch Einschränkungen der Demokratie in der DDR - hinsichtlich des Wahlrechts, der innerparteilichen Demokratie, des Leerlaufens der Verfassungsbestimmungen über Volksbegehren und Volksentscheide, des Misstrauens gegenüber Betriebs- und Arbeiterräten - waren immer zugleich beides: Konsequenz des Einflusses der Sowjetunion und bürokratischer Interessen sowie Notwendigkeiten bzw. vermeintliche Notwendigkeit, um die DDR gegen eine Politik der Aufweichung seitens der BRD zu schützen.

Dabei muss immer auch beachtet werden, dass die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR, der 1952 verkündete und Stalin regelrecht abgetrotzte Kurs des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus, auch die gesellschaftliche Umgestaltung auf dem Lande in ihren Anfängen, sich bis 1961 unter den Bedingungen einer offenen Grenze gegenüber Westberlin vollzog, verbunden mit Verlusten in Höhe von mindestens 128 Milliarden Mark.(7) Die Massenproteste gegen die Regierung am 17. Juni 1953 waren Resultat von Fehlern der Parteiführung, von Aktivitäten alter Nazis und der Einflussnahme aus Westberlin. Sie machten zugleich die Instabilität und die Gefährdung der politischen Verhältnisse in der DDR in dieser Zeit deutlich.

Umgekehrt beeinflusste auch die DDR (bzw. die Existenz des europäischen Realsozialismus in seiner Gesamtheit) im erheblichen Maße die Methoden und Formen der Herrschaftsausübung in Westdeutschland. Strafrechtliche Repressionsgesetze und Verbotsverfügungen gegen zahlreiche Organisationen, insbesondere auch das Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 16. August 1956 gegen die KPD, machten den Willen der Bundesrepublik deutlich, auf jegliche Versuche der politischen Einflussnahme seitens der DDR mit Repression zu antworten und dabei Verfassungsrechte zu negieren. Die seit Ende der fünfziger Jahre vermehrten sozialen Zugeständnisse und Reallohnerhöhungen entwickelten sich zu einem asymmetrischen Klassenkompromiss, geeignet, im Systemwettbewerb mit der DDR erfolgreich eine Massenloyalität der Arbeiterklasse mittels Abmilderung der Klassengegensätze zu erreichen.

Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte 1952 deutlich gemacht: "Was östlich von Werra und Elbe liegt, sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung."(8) Bis in die zweite Hälfte der sechziger Jahre hinein bestimmte dieser militante Kurs die Sicht auf die DDR (und bis in die achtziger Jahre hinein den Anspruch auf Gebiete Polens und der UdSSR). Für die Bundesrepublik war die DDR im Grunde genommen kein Staat, gegenüber dem das Völkerrecht galt, sondern ein vorübergehend von Aufständischen besetztes Gebiet, vergleichbar etwa mit der Bayerischen Räterepublik 1919, nur mit dem Unterschied, dass die Grenze zur DDR zugleich Grenze der bestehenden zwei Weltsysteme war und die Präsenz der Sowjetarmee einen militärischen Einmarsch unmöglich machte. Die Propagandaformel vom "Unrechtsstaat DDR" ist die Fortsetzung des Alleinvertretungsanspruchs der Alt-BRD, das "ganze Deutschland" zu vertreten.

Auf die im Zeichen des Kalten Krieges geführten, ununterbrochen andauernden ideologischen Attacken gegen die DDR als "totalitäres Regime hinter dem eisernen Vorhang" (ungeachtet dessen, dass die Grenze in Westberlin offen war) antwortete die DDR mit entsprechenden kräftigen Vokabeln. Die Rede war von "Kriegsbrandstiftern", vom "Adenauer-Regime", von den "Bonner Ultras". Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre änderte sich das politische Klima. Mit der neuen Ostpolitik unter Willy Brandt bekamen jene Kräfte der herrschenden Klasse das Sagen, die auf "Wandel durch Annäherung" setzten. Man behandelte die DDR verbal freundlicher. Begriffe wie "totalitär" wurden zurückgezogen. Aus heutiger Sicht war das nicht nur ein Zeichen der gewachsenen Stärke der DDR, wie damals angenommen. Der Kurswechsel war ebenfalls dem Umstand geschuldet, dass die DDR im ökonomischen Systemwettbewerb zurückfiel und die Verfechter der neuen Politik in Bonn nicht ohne Grund darauf hofften, mittelfristig den Aufbruch im Osten Deutschlands zu einer sozialistischen Gesellschaft beenden zu können.


VI. NÖS-Reformen als aussichtsreiches Konzept im Systemwettbewerb

Die Geschichte der DDR ist eng mit dem Schicksal und dem Scheitern des Realsozialismus als globales System verbunden. Die DDR war nicht zuletzt das Resultat der Besatzungspolitik der Sowjetunion. Nicht zuletzt daraus resultierte, dass sie allein nicht existenzfähig war. Für ihren Platz in der Geschichte ist allerdings auch wichtig, inwieweit sie als Staat in den Auseinandersetzungen um die Wettbewerbsfähigkeit der sozialistischen Länder gegenüber dem kapitalistischen Weltsystem auf der Höhe der Zeit war. Das Urteil "der Geschichte" wird da sehr differenziert ausfallen.

Vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren fielen Entscheidungen darüber, ob grundlegende Strukturreformen in den Volkswirtschaften der sozialistischen Staatengemeinschaft vorgenommen werden müssen, um im ökonomischen Wettbewerb bestehen zu können. Streitig war, welche Reformen für die sozialistische Ökonomie erforderlich waren. Es ging vor allem um die Fähigkeit, die Arbeitsproduktivität entschieden zu steigern, die kapitalistischen Länder darin zu übertreffen. Marx und Lenin hatten keinen Zweifel gelassen, dass daran die Überlebtheit der kapitalistischen Produktionsweise und die Überlegenheit der neuen Gesellschaft zu messen sei.

Nach Stalins Tod hatte sich für die mit der SU verbündeten Länder eine komplizierte Gesamtsituation ergeben: Die Fehlentwicklungen und Verbrechen der Stalin-Zeit, auch die Fortführung des Stalinschen Kommandosystems in der Wirtschaft, standen einer Erneuerung und Vitalisierung des sich entwickelnden Sozialismus entgegen. Die Sowjetunion war dabei, sich von den schweren Verwüstungen im Gefolge der Aggression Hitlerdeutschlands zu erholen. Sie hatte auf dem Wege der Industrialisierung wichtige Erfolge zu verzeichnen. An die Stelle des "Sozialismus in einem Lande" gab es nunmehr 13 Staaten, die den Sozialismus aufbauen wollten. Wesentliches Merkmal der internationalen Beziehungen waren der Zusammenbruch des Kolonialsystems und die Politik des USA-Imperialismus, den "Ostblock" wieder aus der Welt zu schaffen. Erwartungen von Stalin, es werde in den kapitalistischen Industriestaaten kaum noch eine Entwicklung der Produktivkräfte geben, erwiesen sich als falsch.

Auf diese Situation regierte die Sowjetunion unter Chruschtschow nicht strategisch, sondern moralisch, unrealistisch und halbherzig. Der XX. Parteitag der KPdSU 1956 und die beiden folgenden Parteitage waren mutig hinsichtlich der Abrechnung mit Stalin, aber hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Zielsetzungen illusionär. Der Aufbau der kommunistischen Gesellschaft wurde im Programm der KPdSU von 1961 zur praktischen Aufgabe erklärt. Das Volumen der Industrieproduktion sollte innerhalb von 20 Jahren auf mindestens das Sechsfache und die Arbeitsproduktivität in der gleichen Zeit um das Vier- bis Viereinhalbfache steigen.(9) Die bürokratisch-zentralistischen Strukturen wurden zwar z. T. in Frage gestellt, aber letztlich nicht angetastet. Allerdings ließ Chruschtschow 1962 die "Liberman-Diskussion" um grundlegende Wirtschaftsreformen zu. Neben Ungarn war es vor allem die DDR unter Walter Ulbricht, die nach dem Mauerbau 1961 (zunächst drei Jahre mit Rückendeckung von Chruschtschow) sich nachdrücklich um ein strategisches Konzept ökonomischer Reformen, das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖSPL), bemühte und zugleich vorsichtige Schritte unternahm, um das politische System zu demokratisieren.

Ziel war, durch die Betriebe und andere wirtschaftende Einheiten unter Nutzung solcher Marktkategorien wie Preis, Zins und Kredit, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zur raschen Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Senkung des Material- und Energieverbrauchs zu forcieren und für den Binnen- und den internationalen Markt gefragte Waren entsprechend den staatlichen Vorgaben in konkurrenzfähiger Qualität zu produzieren. Besser sollte das Prinzip, dass das, was dem einzelnen nutzt, auch der Gesellschaft nutzt (und umgekehrt), durchgesetzt werden. Die in einzelnen Betrieben und Wirtschaftszweigen durchgeführten Experimente verliefen positiv und führten in diesen Bereichen zu einem schnelleren und effizienteren Produktionswachstum als in anderen. Das an der betrieblichen Rentabilität und der Erhöhung des Nationaleinkommens orientierte Prinzip der Eigenerwirtschaftung der Mittel wirkte auf die Veränderung des ökonomischen Denkens in den Betrieben. In den Betrieben, die eigenverantwortlich ihre Außenwirtschaftsbeziehungen organisieren konnten, wuchs nicht nur das Exportvolumen und entwickelte sich die Devisenstabilität bedeutend positiver als in der Volkswirtschaft insgesamt, sondern es nahm auch die Verantwortung der am Export beteiligten Kollektive für die Qualität ihrer Produkte und den Service auf den Außenmärkten zu. Die Zeit von 1962/1963 bis Herbst 1970, in der das NÖS konzipiert und teilweise eingeführt wurde, war für die DDR "eine Zeit des Aufbruchs, Jahre des Vorwärtsgehens und Vorankommens, der Entdogmatisierung und des Infragestellens bisheriger Konzepte, eine Zeit großer Entwürfe und neuer Ideen. Die sechziger Jahre waren die eigentliche Reformperiode in der Geschichte der DDR, die einzige Periode, welche die Möglichkeit alternativer Entwicklungen zu einem demokratischen und leistungsfähigeren Sozialismus in sich trug."(10) Der Sozialismus wurde dabei als "lange Periode" in der Art verstanden, "dass der Sozialismus nicht eine kurzfristige Übergangsperiode in der Gesellschaft ist, sondern eine relativ selbständige gesellschaftliche Formation".(11) Die ersten Schritte bei der Umsetzung des Nös-Konzepts in der ersten Hälfte der sechziger Jahre stimmten optimistisch. Von 1962 bis 1966, in fünf Jahren, erhöhte sich die Industrieproduktion in der DDR um 25 Prozent, im Bereich der Mess-, Steuer- und Regelungstechnik um 85 Prozent.(12)

Dieses Konzept scheiterte letztlich am Widerstand der Sowjetunion unter Leonid Breshnew und an einer voluntaristischen Praxis der SED-Parteiführung. Eine Realisierungschance hätte es auch nur als konzertierte Aktion der sozialistischen Staatengemeinschaft gehabt. Unter Erich Honecker kehrte die DDR zu einem zentralistischen System zurück, in dem die Wirtschaft des Landes wie ein großer Betrieb geleitet wurde. Nicht zuletzt auch daraus resultierten innenpolitische Konsequenzen, die die Gesellschaft zersetzten: Bürokratisierung, Verweigerung einer realistischen Lageeinschätzung, Entleerung von Mitbestimmungsformen, die Unmöglichkeit, innovatives Eigentümerverhalten zu entwickeln. Die produktive Investitionsrate fiel, die Konsumtionsrate stieg. Die Gesellschaft lebte von der Substanz. Die Verbindlichkeiten gegenüber den kapitalistischen Ländern erhöhten sich außerplanmäßig. Die Unfähigkeit der Führung, mit allen gesellschaftlichen Kräften die Wirtschaft der DDR so zu reformieren, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt im volkswirtschaftlichen Rahmen effizient umgesetzt werden kann, wurde zu einem entscheidenden Grund für den Untergang der DDR.


VII. Kapitalistische Restauration als Fremdbestimmung

Die Restauration des Kapitalismus in der DDR und dann in Ostdeutschland ab 1990 hatte gegenüber den anderen sozialistischen Staaten in Europa eine Besonderheit: die Existenz eines staatlichen Zentrums zum Vollzug der Konterrevolution. Dieses Zentrum war der westdeutsche Staat und im besonderen Maße die Bundesregierung und die Treuhandanstalt (THA). Die Bundesregierung hatte nach der "Wende" im November 1989 sehr schnell alle Fäden in der Hand und erwies sich als handlungsfähiger politischer Akteur, zusammen mit ihren Ministerien, eng verbunden mit den großen Massenmedien, Spitzenmanagern der Banken, Konzerne, Unternehmerverbände und mit den maßgebenden Politikern der Bundestagsfraktionen. Die kapitalistische Restauration vollzog sich als Fremdbestimmung in einer Form, die deutlich Merkmale einer Kolonialisierung hatte. Nicht wenige Funktionsträger der DDR erwiesen sich als Wendehälse. Ein Teil der DDR-Bürgerrechtsbewegung war bereits ab Frühjahr 1990 nicht viel mehr als eine spezielle Propagandatruppe der Bundesregierung. Die Regierung de Maizière war Befehlsempfänger und Vollstrecker der Richtlinien der Bundesregierung. Verbal war sie beweglich. In der Sache gab es keinen gravierenden Fall von Widerstand, weder gegen die schockartige Aufwertung im Rahmen der Währungsunion um 300 Prozent und die Politik "Rückgabe vor Entschädigung" noch gegen die Verwandlung Ostdeutschlands in eine verlängerte Werkbank des Westens. Die kapitalistische Restauration vollzog sich vor allem über die Treuhandanstalt, unter der Modrow-Regierung zur "Wahrung des Volkseigentums und seiner Verwaltung im Interesse der Allgemeinheit" gegründet. Die in eine Enteignungszentrale verwandelte THA zerstörte mit einer radikalen Privatisierung die Industrielandschaft Ost-deutschlands und verschleuderte das Volkseigentum. Dabei machte sie aus dem von Detlef Carsten Rohwedder auf 600 Mrd. DM geschätzten Vermögen der volkseigenen Betriebe 270 Milliarden DM Schulden.(13)

Die industrielle Produktion verringerte sich 1991 gegenüber 1989 in Ostdeutschland auf etwa ein Drittel. Exakte Angaben über den Anteil westdeutscher und ausländischer Erwerber sind spärlich. Michael Benjamin schätzte ein, dass 80 Prozent der Betriebe in die Hände westdeutscher und 10 Prozent in die Hände ausländischer Erwerber übergingen.(14) Von dem noch im Einigungsvertrag (Artikel 25, Abs. 6) fixierten Anteilsrechten der DDR-Bürger am volkseigenen Vermögen war keine Rede mehr. Zugleich vollzog sich im Zuge der kapitalistischen Restauration eine regelrechte Abwicklung der Arbeiterklasse und eine Säuberung der staatlichen und politischen Einrichtungen. Von den 9,2 Millionen Erwerbstätigen Ende 1989 in der DDR waren bereits Ende 1992 in Ostdeutschland noch 6,3 Millionen (ohne Westpendler) übrig geblieben. Arbeiter und Arbeiterinnen wurden "vom ziemlichen Souverän zum wichtigsten Kostenfaktor".(15) Die Arbeitskraft wurde wieder zur Ware. Ende 1989 waren im verarbeitenden Gewerbe der DDR 3,5 Millionen Personen beschäftigt gewesen. 1995 waren es nicht einmal eine Million. Von 86.000 industriellen Forschern der DDR gab es 1992 noch 26.300. Ein Viertel aller Lehrer, 75 Prozent der Hochschullehrer und Wissenschaftler, z. B. auch 22 560 Mitarbeiter im Bereich des Bundesministeriums für Verkehr wurden entlassen, 14.716 blieben.(16) Von den in den Jahren 1994 bis 1999 berufenen 1.878 Professorinnen und Professoren kamen 1.769 oder 94,7 Prozent aus Westdeutschland. Ungefähr 30.000 Politiker und Beamte aus der Alt-BRD besetzten bis 1992 staatliche und politische Schlüsselpositionen in Ostdeutschland. Von 1990 bis 1992 stieg die Zahl der Arbeitslosen von 240.000 auf 1,35 Millionen. Die herrschende Klasse Westdeutschlands dehnte das Territorium ihrer Herrschaft einfach aus. Um die Mitte der neunziger Jahre fand die "konterrevolutionäre" Phase in Ostdeutschland ihren Abschluss. "Die Konter-Revolution ist in die Konter-Evolution übergegangen."(17)


VIII. Die DDR als Erfahrungsobjekt sozialistischer Neuorganisation

Es sollte selbstverständlich sein, dass Sozialisten und Kommunisten der staatlich gelenkten Diskeditierungskampagne gegen die DDR und der Propaganda entgegentreten, die DDR-Bürger hätten, soweit sie nicht in Bautzen oder Waldheim waren, mit zitternden Knien und gebeugtem Rücken gelebt. Sie haben die Unterstützung der Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland, die es satt haben, darüber belehrt zu werden, wie sie gelebt haben und hätten leben sollen, auf ihrer Seite, wenn sie dabei für ein gerechtes und differenziertes Bild der DDR eintreten. Die Kampagne der Regierenden ist als das zu kennzeichnen, was sie auch ist: ein politisches Ablenkungsmanöver zum Schutze von Kapitalherrschaft, Renten- und Einkommensungerechtigkeiten, Sozialabbau und Kriegsführungspolitik.

Für Sozialisten und Kommunisten sollten die Jahre 2009 und 2010 zugleich eine Zeit sein, in der die Debatte um DDR-Geschichte, insbesondere um die gewonnenen Erfahrungen sozialistischer Gesellschaftsgestaltung positiver und negativer Art, zu einer Bilanz dieser Erfahrungen verdichtet wird. Es gibt dazu bereits eine Vielzahl profunder Untersuchungen und recht überzeugender Erkenntnisse. Was allerdings fehlt, ist eine Verständigung über die DDR und deren Geschichte als "'Erfahrungsobjekt' für eine sozialistische Neuorganisation",(18) denn die gegenwärtige Ordnung ist offensichtlich nicht das letzte Wort der Geschichte. Die DDR war "das Projekt eines neuen Deutschland und sollte auch als dieses entsprechend gewürdigt werden."(19)

Die DDR war aus dieser Sicht vor allem eines: ein lehrreicher Versuch, unter komplizierten Bedingungen eine neue Gesellschaft als Alternative zur kapitalistischen Profit- und Klassengesellschaft zu schaffen, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, Wolfsmoral, Bildungsprivilegien und Kriegsgelüste. Diese Werte und Politikbereiche sind es auch, die im Alltagsbewusstsein der Menschen heute noch Anerkennung finden. Die DDR war eine Gesellschaft mit einem hohen Maß an Gleichheit, wo die Einkommen allenfalls zwischen 1 und 6 differierten (in der heutigen BRD zwischen 1 und 2000). Elemente dieser Gesellschaft sind auch heute noch zu finden, natürlich mehr im Wertebewusstsein als in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Den Staat DDR konnte man sehr schnell zu Fall bringen und beseitigen. Die "Abwicklung" der DDR-Gesellschaft war und ist weitaus schwieriger. Ihre Diffamierung etwa als "verwahrlost", als vom "Anspruchsdenken" geprägt, kam nie richtig an.

Der größte Mangel der DDR, der ihr allerdings nur mit Einschränkung angelastet werden kann, war das Niveau der Produktivkraftentwicklung, zudem im Rahmen einer Staatengemeinschaft, für deren einzelne Staaten (abgesehen von der CSSR) ein noch weitaus niedrigeres Niveau typisch war. Die DDR entstand im ärmeren Teil Deutschlands. Auf ihrem Territorium gab es weitaus mehr Kriegsschäden an Industrieanlagen. Sie musste lange Zeit für ganz Deutschland an die SU Reparationsleistungen zahlen. Die offene Grenze bis 1961 zehrte massiv an ihrer Wirtschaftskraft. Aus der sowjetisch besetzten Zone bzw. der DDR gingen etwa 3 Millionen Menschen nach 1945 nach Westdeutschland; etwa 250.000 (nach anderen Schätzungen 450.000 kamen aus dem Westen in die DDR. Die DDR war beteiligt an dem osteuropäischen Versuch sozialistischer Gesellschaftsgestaltung unter Bedingungen, da im Bereich der Produktivkräfte entscheidende Voraussetzungen für eine neue Gesellschaft noch nicht gegeben waren. "Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind."(20) Insofern war es ein Frühsozialismus, der in der DDR in kapitalistischer Umkreisung und in Konfrontation mit der BRD versucht wurde. Es gab eine "(relative) Armut der Gesellschaft, unter der die Bedürfnisse der Individuen restriktiv behandelt werden müssen."(21) Allein eine erfolgreiche Strategie der Schaffung dieser "materiellen Existenzbedingungen" hätte die Voraussetzungen geschaffen, um sukzessive die Bedürfnisse besser befriedigen und Einschränkungen von Demokratie insgesamt abbauen zu können (womit allerdings unzureichende Bemühungen um einen höheren, der bürgerlichen Demokratie, überlegenen Demokratietypus in keiner Weise gerechtfertigt werden können). Der DDR ist fairerweise zuzugestehen, dass dieses Problem unter Walter Ulbricht klar erkannt und mit einem recht überzeugenden strategischen Konzept beantwortet wurde.

In diesem Zusammenhang, aber auch darüber hinaus gibt es eine Reihe von Erkenntnissen und Erfahrungen des sozialistischen Aufbaus in der DDR, die es für eine zukünftige Sozialismusgestaltung zu nutzen gilt. Sie belegen, dass der Sozialismusversuch in der DDR mit beachtenswerten Ergebnissen gesellschaftlicher Zukunftsbewältigung einherging. Insgesamt ist das Scheitern der DDR zuvörderst Konsequenz des Zurückfallens des Realsozialismus im Systemwettbewerb auf dem Gebiet der Ökonomie. Gesichert ist die Erkenntnis, dass der Sozialismus der politischen Macht der arbeitenden Klassen bedarf und eine lang andauernde Gesellschaftsordnung ist, mit eigenen ökonomischen Gesetzen und Prinzipien, mit einer hohen Eigenverantwortlichkeit der Betriebe, mit marktwirtschaftlichen Elementen, mit vielfältigen Anforderungen an ein demokratisches und effektives System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft. Die Ergebnisse der Großexperimente zur Erprobung des NÖS in den sechziger Jahren bedürfen ebenso der Verallgemeinerung wie die positiven Erfahrungen mit dem genossenschaftlichen Eigentum in der Landwirtschaft oder die negativen Erfahrungen einer weitgehende Unfähigkeit des politischen Systems, zwischen kritischen Bürgern und wirklichen Gegnern zu unterscheiden und "Demokratie von unten" nicht als Bedrohung, sondern als Wesenselement sozialistischer Demokratie zu verstehen.


Ekkehard Lieberam, Prof. Dr., Leipzig, Politikwissenschaftler

Roland Wötzel, Dr., Leipzig, Rechtsanwalt


Anmerkungen:

(1) Anregungen des Ältestenrates der Partei DIE LINKE zum Umgang mit der Geschichte, in: Sozialistischer Dialog, Oktober 2008, S. 7.
(2) Karl Marx, Nachwort zur zweiten Auflage, Das Kapital, Erster Band. MEW, Band 23. Berlin 1975, S. 28.
(3) G. Winkler (Hrsg.), Sozialreport 2004, Berlin 2004. S. 9.
(4) Sozialreport 2006. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, erarbeitet im Auftrag der Volkssolidarität e. V., Berlin, Dezember 2006, S. 241.
(4) K. Marx, Die Kulturevolution in Berlin, MEW, Band 6, Berlin 1975, S. 9.
(5) K. Marx, Das Elend der Philosophie, MEW, Band 4. Berlin 1977. S. 181.
(6) So E. Honecker, Aus meinem Leben, Berlin 1981, S. 258.
(7) Rheinischer Merkur vom 20.7.1952.
(8) Vgl. Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, angenommen auf dem XXII. Parteitag der KPdSU. 17. bis 31. Oktober 1961, S. 64.
(9) U. Busch, Eine spannende Periode in der Wirtschaftsgeschichte in der DDR, Workshop, Teil II, Pankower Vorträge, H. 23/2. Berlin 2001, S. 36.
(10) W. Ulbricht, Die Bedeutung des Werkes "Das Kapital" für die Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR, Berlin, 12./13. September 1967. S. 20.
(11) Vgl. Bericht des ZK der SED an den VII. Parteitag. 17. bis 22. April 1967, Beschlüsse und Dokumente, Berlin 1967, S. 44 f.
(12) Vgl. hier und im Folgenden: Ekkehard Lieberam, Wesens- und Strukturveränderungen der Lohnabhängigenklasse in Ostdeutschland, in: Sozialcrash, Beiträge zur Klassenanalyse, Band 3, Marx-Engels-Stiftung Wuppertal e. V., Essen 2007. S. 30 ff.
(13) M. Benjamin, Ostdeutsche Identität und ihre Grundlage, in: Marxistisches Forum, H. 6. Mai 1996, S. 3.
(14) Harry Nick, ND vom 18.8.1995.
(15) Vgl. Bundestagsdrucksache 12/4013, S. 2.
(16) M. Benjamin, a.a.O., S. 11.
(17) I. Wagner, Zu Erfahrungen des europäischen Realsozialismus (DDR), Marxistisches Forum, H. 51, S. 3.
(18) Anregungen des Ältestenrates. a.a.O,. S. 7.
(19) K. Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Vorwort, MEW, Band 13. Berlin 1972, S. 9.
(21) H. Jung, Klassen und Geschichte, Z., Nr. 29, Dezember 1996, S. 16.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 3-09, 47. Jahrgang, S. 23-33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2009