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MARXISTISCHE BLÄTTER/373: Weltfinanzkrise - Weltwirtschaftskrise


Marxistische Blätter Heft 6-08

Weltfinanzkrise - Weltwirtschaftskrise

Von Winfried Wolf


Wirtschaftshistoriker könnten einmal im Rückblick feststellen: Im Oktober 2008 ging die weltweite Finanzkrise in eine neue weltweite Wirtschaftskrise über. Auf diese Weise wurde daraus eine weltweite kapitalistische Krise mit historischem Charakter, zumindest in ihren ökonomischen Auswirkungen derjenigen von 1929-32 vergleichbar. Die gewaltigen Finanzspritzen und Bürgschaften, die in den USA und in Europa im September und Oktober 2008 als Banken-Rettungs-Programme verkauft wurden, verpufften offenbar - insoweit es die allgemeine Wirtschaft betrifft - wirkungslos. Sie dienten vor allem der Alimentierung derjenigen Finanzleute, die zur selben Zeit die Party durch die Hintertür verließen. Der Deutsche-Bank-Chef Ackermann ist hierfür ein gutes Beispiel: Er war maßgeblich an der Erarbeitung des deutschen Banken-Rettungsplans - also an der Erarbeitung des bisher größten staatsinterventionistischen Projekts - beteiligt, machte sich jedoch danach über das Projekt lustig und gab erneut den großen Verteidiger des freien Marktes.


Wo stehen wir?

Grundsätzlich ist festzustellen: Die aktuelle Krise ist deshalb so tiefgreifend und gefährlich, weil sie inzwischen seit rund eineinhalb Jahren wie ein Schwelbrand wirkt.

Ausgangspunkt des Schwelbrands war die im Frühsommer 2007 einsetzende US-amerikanische Krise des Immobiliensektors: Millionen wenig vermögende Häuslebauer, die Billigkredite ("subprime") in Anspruch genommen hatten, sind angesichts fallender Immobilienpreise und steigender Arbeitslosigkeit nicht mehr in der Lage, ihre Kreditratenzahlungen zu leisten. Nach der faktischen Verstaatlichung der zwei größten Immobilienkreditversicherer Fannie Mac und Freddie Mac im September 2008 ist die US-amerikanische Immobilienkrise kaum mehr ein Thema.

Warum eigentlich? Selbst hier setzt sich der Schwelbrand fort: Im Oktober 2008 liegen die Hauspreise in den USA im Durchschnitt um knapp 20 Prozent unter dem 2006er Niveau. Der gefährliche Preisverfall, der bewirkt, dass die auf bis zu 100 Prozent der damaligen Immobilienwerte aufgenommenen Hypotheken nicht mehr gesichert sind, setzt sich beschleunigt fort. Allein seit Anfang 2008 und bis Ende September dieses Jahres wurden 750.000 Häuser zwangsversteigert. Es wird erwartet, dass diese Zahl bis Ende 2008 auf mehr als eine Million steigt.

Der Schwelbrand hatte im September den internationalen Bankensektor erfasst. Die US-Regierung reagierte mit einem 700 Milliarden US-Dollar schweren Bankenrettungsprogramm. Es folgten umfassende britische und französische Bankenrettungspläne. Schließlich, Mitte Oktober, wurde auch ein allgemeiner deutscher Plan zur Rettung aller BRD-Finanzinstitute aufgelegt und binnen vier Tagen durchs Parlament gepeitscht. Bezogen auf die Bevölkerungszahl und die Wirtschaftskraft liegt hier die Größenordnung mit 500 Milliarden Euro oder mit umgerechnet knapp 700 Milliarden US-Dollar nochmals deutlich über dem US-amerikanischen Niveau. In Schweden, Österreich, Spanien und Italien wurden eigene Bankenrettungspläne in Kraft gesetzt. Seitdem gilt die Gefahr des Zusammenbruchs weltweit wichtiger Banken als gebannt.

Warum eigentlich? Nunmehr geraten Großbanken an unerwarteten Orten ins Straucheln. So die schweizerische Großbank UBS, bei der der Staat einspringen musste, und die zweite schweizerische Großbank Credit Suisse, bei der der libysche Staat als Bankenretter auftritt.

Im Zeitraum Anfang September bis Mitte Oktober standen die gewaltigen Einbrüche an den weltweiten Börsen im Zentrum vieler Berichte. Nach Veröffentlichung der Banken-Rettungspläne wurde gemeldet, die Märkte hätten sich zunehmend beruhigt. Warum eigentlich? Tatsächlich weist der Trend auf weltweiter Ebene durchaus in eine klare Richtung - nach unten. Laut der Finanzberatergesellschaft Bloomberg gab es Ende 2007 eine "Weltaktienmarktkapitalisierung" von 65.000 Milliarden US-Dollar. Bis Mitte Oktober 2008 ist dieser Wert auf weniger als 40.000 Milliarden US-Dollar und damit um rund 40 Prozent gefallen.

Anfang Oktober hatte der Schwelbrand das Thema Staatsbankrott in Island auf die Tagesordnung gerufen. Inzwischen stehen zwei neue Staatsbankrott-Kandidaten bereit: Ungarn und die Ukraine. Es geht dann um deutlich größere Dimensionen als im Fall Island. Interessant ist ein Strukturvergleich: Ungarn stürzte in eine Staatskrise, weil die öffentlichen Schulden 67 Prozent des Bruttoinlandsproduktes entsprechen. Doch die öffentliche Verschuldung der EU-Länder Belgien, Italien und Griechenland liegt deutlich über 100 Prozent des jeweiligen BIPs. Es könnten also demnächst auch ehrenwerte EU-Mitglieder die Bühne der Weltkrise als Kandidaten für einen Staatsbankrott betreten.

Die Zwischenbilanz lautet: Die Finanzkrise vertieft sich von Woche zu Woche. Sie erreichte im Oktober Dimensionen, die bisher als völlig ausgeschlossen galten. Vor allem droht in den nächsten Wochen eine enge Verbindung zwischen der Finanzmarktkrise und der Rezession der Wirtschaft (letzteres wird meist als " Realwirtschaft" bezeichnet, was insofern interesssant ist, als damit der Finanzsektor als "irreal" eingestuft wird). Diese eigentliche Wirtschaftskrise hat in den USA im 3. und in der EU im 2. Quartal in Form des Rückgangs des BIP eingesetzt. Die Behauptung, es handle sich um die Auswirkung der Finanzkrise, ist nachweislich falsch. Tatsächlich ging der in den USA Ende 2001 und in der EU 2002 begonnene neue Wirtschaftszyklus im Jahr 2007 bereits in eine Abschwungphase über; 2008 stand auch ohne Finanzkrise eine Rezession an. Diese allgemeine Rezession wird durch einen Einbruch bei einzelnen strategisch wichtigen Branchen - so in der internationalen Autoindustrie und im Maschinenbau - nochmals akzentuiert. Die nun erfolgende Kombination von Rezession und Finanzkrise kann tatsächlich dazu führen, dass es zu einer Weltwirtschaftskrise kommt.


Historische Verortung

Grob verallgemeinernd kann man für den Zeitraum der letzten 200 Jahre kapitalistischer Produktion auf der Ebene der Weltmarktkrisen und ihrer Reflektion in der bürgerlichen (Wirtschafts-)Politik drei unterschiedliche Perioden feststellen.

1. Bis 1929 - Der Markt wird es richten - Laissez-faire-Kapitalismus. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts gab es neben den klassischen regelmäßigen - zyklischen - Wirtschaftskrisen immer wieder auch Finanzmarktkrisen; gelegentlich kam es auch zu einer Verbindung von Wirtschaftskrise und Finanzkrach. Allerdings waren diese Krisen meist auf ein Land. die USA, die Niederlande, Großbritannien usw., oder auf eine Region, Europa, beschränkt. Gelegentlich - so 1857 - stellte sich auch ein internationaler Charakter solcher Krisen ein, dann jedoch zeitlich versetzt. Die Internationalisierung der Produktion war im Vergleich zu heute deutlich geringer entwickelt. 1873 allerdings gab es eine erste umfassende Weltwirtschaftskrise. Sie nahm ihren Ausgang am 9. Mai 1873 mit einer Börsenkrise in Wien. Am Ende erfasste die Krise die gesamte Wirtschaft der entwickelten Industrieländer und mündete in eine Depression, die bis 1878/79 andauerte. Charakteristisch für diese erste Weltwirtschaftskrise war, dass sie weitgehend ihrem zerstörerischen Selbstlauf überlassen blieb. Bei dieser "liberalen" Grundhaltung der Politik blieb es weitgehend bis 1929.

2. Ab 1929 - Staatsinterventionismus. Das Jahr 1929 steht für den Beginn einer Krise, die ebenfalls als Börsenkrise, nunmehr in den USA, begann. die auf den industriellen Sektor in Nordamerika übergriff, die sodann in anderen Ländern Finanz- und Wirtschaftskrisen auslöste, um sich schließlich bis Anfang der 1930er Jahre zu einer zweiten Weltwirtschaftskrise zu entwickeln.

Was heute fast überall unterschlagen wird: Es handelte sich 1929 um die erste große kapitalistische Krise, bei welcher im Kernland USA der Staat in großem Umfang regulierend, die Krise dämpfend eingriff. Von Anfang an gab es in den USA koordinierte Maßnahmen zur Eindämmung der Krise. Beispielsweise wurde am 5. Dezember 1929 ein öffentliches Investitionsprogramm in der bis dahin unvorstellbaren Höhe von acht Milliarden US-Dollar verkündet und ein 72-köpfiger Rat zur Leitung der "Aktion gegen die Krise" gebildet. 1933 folgte der "New Deal" unter US-Präsident Roosevelt mit einer radikalen Streichung von Schulden durch die Entwertung des Dollar um 40 Prozent, einer staatlich sanktionierten Kartellbildung, also der Sicherung fester Märkte, der Festsetzung von Mindestlöhnen und der Verordnung einer 30-Stunden-Woche. Rückblickend gesehen war der New Deal die Fortsetzung einer staatsinterventionistischen Politik, wie sie in den USA seit Ende 1929 zumindest in wichtigen Elementen betrieben wurde. Die damals - allerdings erst drei Jahre nach Beginn der Krise - ergriffenen Maßnahmen sind auch für die aktuelle Krise von Bedeutung. Sie reichen deutlich weiter als all das, was derzeit diesseits und jenseits des Atlantiks an Krisenbekämpfungsprogrammen umgesetzt wird.

Vor dem Hintergrund der 1929er-Weltwirtschaftskrise kam es zur Theoretisierung des antizyklischen Staatsinterventionismus. Dafür steht die von John Maynard Keynes entwickelte Wirtschaftstheorie. Damit verbunden war die Einsicht, dass ein ungezügelter Kapitalismus derart zerstörerische Kräfte entwickeln würde, dass dabei das kapitalistische System selbst und nicht zuletzt die großen privaten Eigentümer gesellschaftlicher Vermögen massiv Schaden erleiden würden. Dies mündete in die Praxis einer relativ umfassenden Regulierung der kapitalistischen Wirtschaft, insbesondere des Finanzsektors (Börsenaufsicht, der Aufbau großer staatlicher Finanzgesellschaften, die Einrichtung öffentlicher und dezentralisierter Sparkassen). Auf internationaler Ebene stand dafür das 1944 etablierte System von Bretton Woods mit dem US-Dollar als Leitwährung, mit einer Goldgarantie für die US-Währung und mit der Vereinbarung fester Wechselkurse zwischen den einzelnen Währungen.


Neoliberalismus und neue Marktgläubigkeit

Seit den 1980er Jahren kam es weltweit zu einer neuerlichen Deregulierung - auch als "Neoliberalismus" bezeichnet - mit umfassenden Entstaatlichungen bzw. Privatisierungen und einer erneuten Durchsetzung der Ideologie "Der Markt ist die beste Regulierung" (Alan Greenspan). Eine Voraussetzung dafür war die Periode eines langen Wirtschaftswachstums in den 1950er und 1960er Jahren, in der auch konjunkturelle Abschwünge nur als Wachstum mit niedrigen Raten gekennzeichnet waren und in der es keine tiefen Krisen gab. Ein neuer internationaler Konjunkturzyklus setzte erst mit der weltweiten Rezession 1974/75 ein. Die Dollar-Gold-Bindung und die festen Wechselkurse waren als eine Folge des Vietnam-Krieges bereits 1973 aufgehoben worden.

Die scheinbar erfolgreiche Durchsetzung des Neoliberalismus wurde, neben der erwähnten langen wirtschaftlichen Wachstumsperiode, durch eine Reihe Sonderfaktoren begünstigt. So kam es zwar am 18. Oktober 1987 zu einem internationalen Börsenkrach. Banken in anderen Zentren des Weltkapitalismus waren jedoch kaum berührt. Insgesamt blieb der Krach überwiegend auf den Finanzsektor beschränkt. In einer zentralen Region des Weltkapitalismus entwickelte sich jedoch das, was heute weltweit droht: Japan erlebte nach dem Börsenkrach von 1987 eine dreijährige Sumpfblüte von Boom und Spekulation, um Anfang der 1990er Jahre in eine zehn Jahre währende Periode von Krisen, Stagnation und Depression abzugleiten. Der maßgebliche Nikkei-Index reduzierte sich auf weniger als ein Drittel. Seltsamerweise wurde diese Entwicklung nicht als ein "Zeichen an der Wand" erkannt, sondern als Sonderentwicklung abgetan - obgleich Japan bis 1990 der mit Abstand dynamischste Sektor der kapitalistischen Weltwirtschaft war und obgleich die japanischen Finanzinstitute bis 1990 weltweit führend waren, die US-amerikanischen übertrumpften. Die Tiefe und Dauer der japanischen Krise könnten beispielhaft für die Tiefe und Dauer der nun anstehenden internationalen Krise sein.

Es gab noch weitere "Zeichen an der Wand": 1997/98 kam es zu einer Kombination von Erschütterungen der Börsen, der Banken und der Wirtschaft - allerdings 1997/98 beschränkt auf die so genannten asiatischen Tigerstaaten (u. a. Südkorea, Singapur, Indonesien) und 1998 beschränkt auf Russland. 2001/2002 wiederum gab es auf weltweiter Ebene eine Kombination von Börseneinbruch und allgemeiner Wirtschaftsrezession. Allerdings wurden die Banken von der Krise kaum erfasst. Ende 2001 begann in den USA ein neuer Wirtschaftsaufschwung, der ab 2004 in einen weltweiten Boom überging. In dieser Phase wurden die letzten Bremsklötze gelöst; es verschwanden so gut wie alle Regulierungen; Frühwarnsysteme wurden abgeschaltet. Präsentiert wurde all das als "Marktinnovationen".

So gesehen lässt sich sagen: Die neoliberale Phase hat mindestens zwei Jahrzehnte lang "funktioniert". Diese tatsächlich erstaunlich lange relativ erfolgreiche Periode einer kapitalistischen "Marktwirtschaft pur" kann allerdings durch einen in der Wirtschaftsgeschichte einmaligen Faktor erklärt werden: den der "Wende" 1989/91. Der Fall der Mauer am 9. November 1989, die analogen Prozesse 1989/90 in Mittel- und Osteuropa, die Auflösung der Sowjetunion 1990/91 und die systematische, allmähliche kapitalistische Transformation der VR China ab 1987 sind in der Wirtschaftsgeschichte einmalig. Rund ein Drittel der Menschheit und ein Viertel der weltweiten Produktionskapazitäten und Rohstoffe, die bis 1989 nicht unter der direkten Kontrolle des Kapitalismus standen, wurden in das privatkapitalistische System integriert. Damit wurden die negativen Aspekte des Laissez-faire-Kapitalismus für rund zwei Jahrzehnte kompensiert durch gewaltige neue Möglichkeiten zur Ausbeutung von vielen hundert Millionen Lohnabhängigen, durch die Eröffnung riesiger neuer Absatzmärkte und durch den verbesserten Zugang zu wichtigen Rohstoffen.

Es ist im Wesentlichen dieser Sonderfaktor, der den Ausbruch einer neuen Weltwirtschaftskrise - mit einem Zusammenfallen von Finanz- und Wirtschaftskrise - hinausgezögert hat. In der aktuellen Krise kombinieren sich nun mehrere, die Krise verschärfende Aspekte: In den letzten eineinhalb Jahrzehnten gab es eine weitreichende Globalisierung der Ökonomie, es gibt keine Region, die nicht integraler Bestandteil der Weltwirtschaft wäre. Die Krise dürfte damit vor keinem größeren Land und vor keiner Region Halt machen. Sodann: Weltweit kam es in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer gewaltigen Aufblähung des Finanzsektors und zu einem auf Pump finanzierten "künstlichen" Wachstum. Dieser fragile Charakter des Booms ist aktuell Mitverursacher der Krise. Schließlich: Die Finanzkrise und die Krise des produktiven Sektors (der "Realwirtschaft") finden inzwischen weitgehend parallel statt; sie beeinflussen sich negativ. Insofern werden die rein finanziellen Hilfen für die Banken (in den USA, der BRD usw.) weitgehend verpuffen (und "mitgenommen" werden). Die massiven negativen Folgen der Krise können im Rahmen des Kapitalismus nur dann kompensiert werden, wenn die kaufkräftige Nachfrage erneut steigt und wenn damit der produktive Sektor selbst positive Signale erhält.


Zwischenbilanz

Beim bisherigen Stand können erste drei erste Lehren gezogen werden:

Erstens. In dieser Krise wird die Verlogenheit der Herrschenden dokumentiert, die uns jahrzehntelang sagten: "Für dies und das fehlt leider das Geld." All dies Geld ist nunmehr plötzlich in Hülle und Fülle und scheinbar unbegrenzt da - freilich für diejenigen, die ohnehin damit gesegnet sind und die nun vor einem selbst verschuldeten Absturz gerettet werden sollen.

Erinnern wir uns, dass Hartz IV mit dem Fehlen von ein paar Dutzend Milliarden Euro im Staatshaushalt begründet wurde. Verdeutlichen wir uns, dass man mit einem Fonds von 50 bis 70 Milliarden Euro in Deutschland die allgemeine Reduktion der Arbeitszeit auf 28 Stunden bei vollem Lohn- und Gehaltsausgleich - durchführen und damit gleichzeitig die Massenerwerbslosigkeit beseitigen könnte.

All das Geld war natürlich immer da. Der Klassencharakter der Gesellschaft zeigt sich auch darin, wann dieses Geld "nicht da" ist - und wann es im Überfluss auftaucht und wie und wo es dann eingesetzt wird.

Zweitens. Zwei Jahrzehnte lang wurde uns gepredigt: Im Rahmen der Globalisierung hätten die Nationalstaaten und die nationalen Regierungen ihre Macht verloren; es dominierten allein die Finanzmärkte. Tatsächlich erleben wir in diesen Wochen das Gegenteil: Die Finanzmärkte kontraktieren, der Staat zeigt sich muskelbepackt.

Die bürgerlichen Regierungen kennen nur noch ein Credo: Der Staat muss rettend in die Bütt springen. Die Bosse der Banken und Versicherungen, die bisher jede Form der Verstaatlichung für Teufelszeug erklärten, betteln nun - nach anfänglichem Zögern - darum, dass der Staat ihnen doch beistehe, ja, dass der Staat teilweise Anteile an ihren Instituten übernehme. Wobei Letzteres meist mit dem Zusatz versehen ist, es mögen dann aber stimmrechtslose und zeitlich befristete Beteiligungen sein. Man will weiter schalten und walten nach privatem Gusto und den Staat dann wieder aus den Unternehmen komplimentieren, wenn die größten Risiken in öffentliches Eigentum übertragen wurden.

Es ist die US-Regierung, die Bear Stearns, Fannie Mac und Freddie Mac und die weltweit größte Versicherung, AIG, rettete - bzw. die sich weigerte, den Lehman Brothers ebenfalls einen Rettungsring zuzuwerfen. Es war die deutsche Bundesregierung bzw. es waren Landesregierungen, die die deutschen Finanzinstitute IKB, SachsenLB, WestLB, BayernLB stützten und die Hypo Real Estate faktisch übernahmen.

Drittens. Seit Jahrzehnten wird uns gesagt "freedom and democracy", Freiheit und Demokratie, die Selbstbestimmung der Bevölkerung und die Freiheit des Kapitals, gingen Hand in Hand. Die aktuelle Krise der Finanzmärkte verdeutlicht jedoch, dass Entscheidungen, die Hunderte Millionen Menschen enorm belasten, von ein paar Dutzend Menschen gefällt werden. Immer wieder stellt sich dabei heraus, dass die Top-Banker dabei direkten Einfluss auf die Regierenden nehmen und diesen ihre "Rettungspläne" diktieren. Es herrscht die nackte Wirtschaftsdiktatur.

Fast alle Entscheidungen über die Pläne zur Stabilisierung der Finanzwelt werden in einem kleinen abgeschotteten Kreis von Personen mit engsten Beziehungen zum Finanzkapital gefällt. Die Parlamente bleiben entweder außen vor oder sie haben diese Pläne im Eilverfahren - im Fall des Bundestags in drei Tagen - durchzuwinken. Auch die Regierungen können die aktuellen Entscheidungen meist nur abnicken. US-Präsident George W. Bush ist seit Mitte September 2008 weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Wenn er sich denn äußert, dann in Form eines Rezitators: Ihm werden Texte vorgelegt, die er weitgehend tonlos - da unverstanden, weil an dessen Zustandekommen unbeteiligt - wiedergibt. Das war nicht anders, als vor einem Jahr die SachsenLB über Nacht "gerettet" und an die baden-württembergische LBBW notverkauft werden musste. Das Parlament in Dresden konnte den Deal, der mit Milliarden Euro Steuergeldern finanziert werden muss, nur abnicken. Der sächsische Regierungschef Milbradt gab den Rezitator.

Und das ist nicht anders in diesen Tagen und Wochen: Hinter der Bundeskanzlerin als Rezitatorin steht ein kleiner Kreis von Bankern und Finanzleuten, die wiederum eng mit dem vernetzt sind, was hierzulande als "Hochfinanz" bezeichnet wird. Die "Süddeutsche Zeitung" (13.10.) spricht von einem sechsköpfigen "Komitee zur Rettung der deutschen Banken", bestehend aus dem Bundesbank-Chef Axel Weber, dem Präsidenten der Finanzaufsicht Bafin, Jochen Sanio, dem Deutsche-Bank-Chef, Josef Ackermann, dem Finanzminister Peer Steinbrück mit seinem Staatssekretär Jörg Asmussen und dem Abteilungsleiter Wirtschaft im Kanzleramt, Jens Weidmann. Diese Sechserbande erarbeitete seit Mitte September alle Krisenpläne und vor allem den 500-Milliarden-Euro-Plan.

Eine solche Vorgehensweise ist derzeit weltweit zu beobachten. Es wird in "Section 8" des US-amerikanischen 700-Milliarden-Dollar-Plans zur Rettung der US-Finanzinstitute besonders verdeutlicht; dieser Plan wurde im übrigen von Finanzminister Henry ("Hank") Paulson erarbeitet, einem Mann, der mehr als zwei Jahrzehnte führend für die größte US-amerikanische Investmentbank Goldman Sachs tätig war und der hundertfacher Dollarmillionär ist. Danach können alle "Entscheidungen des Finanzministeriums in Verfolgung dieses Gesetzes (...) von keinem Gericht und von keiner Regierungsbehörde eingesehen oder angefochten werden." Das heißt, Entscheidungen über eine der größten Umverteilungsaktionen in der US-Geschichte, die zu einem drastischen Anstieg der US-Staatsschuld führen und mit der 300 Millionen Menschen auf Jahrzehnte belastet werden, werden von einer kleinen Gruppe von Menschen, die in enger Verbindung mit den Top-Finanzinstituten stehen, entschieden. Was dabei wer wie entschieden hat, soll von niemandem angefochten werden können. In den Worten des Ökonomen Nouriel Roubini von der New York University, der bereits 2006 den Finanzkrach vorhergesagt hatte: "Da sagt dieser Paulson: 'Glaubt mir, ich werde alles richtig machen, wenn ich die absolute Kontrolle bekomme.' Aber wir leben doch nicht in einer Monarchie!"

Tatsächlich sind die Regierungsform und die Handlungsweise, die in der gegenwärtigen Krise vorherrschen, absolutistisch und autokratisch. In der Zeit des Absolutismus wurde die Macht der Alleinherrscher von Gott, einer nicht hinterfragbaren Instanz, abgeleitet. Die moderne Begründung für den aktuellen Absolutismus besteht in Verweisen auf "Sachzwänge", die "schnelle Entscheidungen" erforderten und die "objektiv nicht in Frage gestellt werden" könnten. Ein ergänzender Verweis auf Gott kann allerdings auch hier nicht schaden. Auf die Frage eines Kongressabgeordneten, was passieren würde, wenn Paulsons Banken-Rettungs-Plan im Parlament abgelehnt werde, antwortete Paulson: "Dann Gnade uns Gott!" Doch die Dromokratie, die Herrschaft der Geschwindigkeit, als Gegensatz zur Demokratie, die auch ausreichend Zeit für Entscheidungen verlangt, ist eine bewußt herbeigeführte. Nur ein Beispiel: Bis vor wenigen Jahren mussten weltweit Hypothekenkredite in den Büchern und Bilanzen der die Kredite vergebenden Institute bleiben: sie durften nicht weiterverkauft und schon gar nicht mit dubiosen anderen Papieren gebündelt und verschnürt und internationalisiert werden. Indem man diese Regulierung aufgab und den Hypothekenmarkt umfassend deregulierte, schuf man auf diesem Gebiet der Hypothekenkredite erst das Diktat von Markt und Geschwindigkeit.


Forderungen

Die unvorstellbaren Summen, die aktuell für die Rettung der Banken ausgegeben werden sollen, lauten wie folgt: In den USA beträgt das Bankenrettungspaket rund 700 Milliarden US-Dollar, in Deutschland sind es rund 500 Milliarden Euro oder 675 Milliarden Dollar. Zusammen werden also allein in diesen zwei Ländern bis zu 1400 Milliarden US-Dollar zur Rettung von Finanzinstituten ausgegeben. Diese unvorstellbaren Summen sollen den angeschlagenen Finanzinstituten weitgehend ohne Gegenleistung gewährt werden.

Die erste daraus resultierende Forderung muss lauten: In dem Maß, wie der Staat und wie die Steuerzahlenden der Finanzbranche unter die Arme greifen, müssen die entsprechenden Institute in direktes öffentliches Eigentum überführt werden. Nur so gibt es die Chance, dass eine Wiederholung des Desasters ausgeschlossen und eine wirksame Kontrolle im Finanzsektor erreicht werden kann.

Nun kann man die genannten Summen mit allerlei vergleichen; sie entspricht zum Beispiel rund acht Prozent des Bruttoinlandproduktes der beiden Länder. Es drängt sich jedoch auch ein anderer Vergleich auf: Die Summe der beiden Bankenrettungsprogramme entspricht - rein zufällig - der Summe der Rüstungsausgaben. 2007 wurden laut SIPRI weltweit 1.340 Milliarden US-Dollar für Rüstung ausgegeben. Im aktuellen Krisenjahr soll der Betrag nochmals höher liegen. Konkretisiert nur auf Nordamerika (USA und Kanada) und Europa: In diesen zwei Regionen des Kapitalismus werden aktuell rund 1.500 Milliarden US-Dollar zur "Rettung der Banken" investiert. In denselben Regionen werden 800 Milliarden US-Dollar oder gut halb so viel für Rüstung ausgegeben. Im ersten Fall handelt es sich um einen einmaligen Betrag. Im zweiten Fall jedoch um einen jährlich wiederkehrenden Betrag.

Eine zweite Forderung sollte lauten: Nicht die Steuerzahler dürfen zur Kasse gebeten werden. Notwendig ist eine Konversion der Rüstungsausgaben; die staatlichen Ausgaben für Krieg und Zerstörung müssen für ein Konjunkturprogramm der westlichen Industrieländer zum nachhaltigen Umbau der Wirtschaft umgemünzt werden. Damit wiederum könnte man den öffentlichen und demokratischen Einfluss in der gesamten Wirtschaft ausbauen.

Schließlich und drittens drängt sich eine tagesaktuelle Forderung auf, die derzeit allerdings niemand stellt: Die kapitalistische Wirtschaftsweise muss grundsätzlich in Frage gestellt werden. Ja, sie wird in diesen Wochen objektiv - durch die Ereignisse - in Frage gestellt. Derzeit ist immer wieder die Rede davon, dass "das Vertrauen gestört" sei. In der Finanzwelt müsse "das Vertrauen wieder hergestellt" werden. Das ist eine Argumtenation wie im Tollhaus. Tatsächlich wird derzeit Tag für Tag das Vertrauen in eine Wirtschaftsweise zerstört, die nach den Gesetzmäßigkeiten eines Spielcasinos funktioniert und bei der die wenigen Spieler als Einsatz das Wohlergehen von Hunderten Millionen Menschen geben. Nun soll mit den Banken-Rettungsprogrammen und mit dem Geld der Steuerzahlenden dieses System ein weiteres Mal gerettet und den Spielen gesagt werden: "Faites votre jeux - Auf ein weiteres Mal!"

Wann, wenn nicht jetzt, steht die Forderung auf der Tagesordnung: Ya basta - es reicht! Eine andere Welt ist möglich. Doch dafür ist eine grundsätzlich andere Ökonomie als die kapitalistische nötig!


Winfried Wolf, MdB, Michendorf, Chefredakteur von Lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie.


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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 6-08, 46. Jahrgang, S. 5-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2009