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IZ3W/382: Hefteditorial von Ausgabe 367 - Volksregierung gegens Volk


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 367 - Juli/August 2018

Volksregierung gegens Volk
Hefteditorial


Ein rätselhafter Fluch liegt auf der lateinamerikanischen Linken. Zuletzt konnten wir den Niedergang des venezolanischen Regimes erleben. Dessen linkspopulistischer Anführer Hugo Chávez proklamierte noch zur Jahrtausendwende große Umverteilungspläne: »Venezuela verfügt über so viel Reichtum, der ein Jahrhundert lang an die Weltmächte verschenkt wurde, und uns blieb nur das Elend.« Die Regierung setzte auf Erdöleinnahmen und bediente die eigenen Leute mit Wohltaten. Unter Nicolás Maduro hat sich das Elend nur verschärft. Strom und Wasser werden oft abgeschaltet, im Supermarkt steht man vor leeren Regalen. Daraus entwickelte sich eine politische Krise mit Straßenunruhen und Todesschüssen. Die chavistische Regierung des Erdölstaates entmachtete das oppositionelle Parlament per »verfassungsgebender Versammlung«. Ist das der sogenannte Rohstoff-Fluch?

Wohl kaum, muss man sagen, wenn man auf den jüngsten Unruheherd in Lateinamerika schaut. Nicaragua ist rohstoffarm und das zweitärmste Land Lateinamerikas. Es wird seit 1979 von der linken sandinistischen FSLN regiert. Präsident wurde damals der junge FSLN-Vorsitzende Daniel Ortega. Die Regierung führte grundlegende Reformen durch, die nach der verheerenden Somoza-Diktatur dringend notwendig waren. So wurde die Analphabetenrate bis 1985 von 50 auf 13 Prozent gesenkt. Der Sandinismus war ein Hoffnungsprojekt der weltweiten Linken - der sympathisierende Schauspieler Dietmar Schönherr betitelte sein Buch 1985 ganz im Ton der Zeit »Nicaragua, mi amor«. 1990 siegte dann die antisandinistische Partei UNO. 2011 wurden die FSLN und damit Ortega wiedergewählt.

Selbst altgediente SandinistInnen bescheinigen der Ortega-Regierung inzwischen den Konkurs. Zehntausende demonstrieren permanent für seinen Rücktritt. Die Demonstrierenden wissen kaum, gegen welchen Missstand sie sich zuerst wenden sollen, so zahlreich sind diese: Angefangen hat es Mitte April mit einem Protest gegen Rentenkürzungen bei gleichzeitigen Beitragserhöhungen. Viele können Ortega nicht ausstehen, seit er mit der FSLN 2006 für ein Totalverbot von Schwangerschaftsabbrüchen gestimmt hatte. Seine Ehefrau Rosario Murillo unterstützte damals massiv den katholischen Turn der Partei: »Nein zur Abtreibung, ja zum Leben, ja zum religiösen Glauben.«

Seither führt Ortega die Partei immer autoritärer, seine Ehefrau ist inzwischen Vizepräsidentin. Der Familienmensch Ortega hat außerdem sieben seiner Kinder in wichtigen Positionen in Politik, Wirtschaft und Medien untergebracht. Die Wohltaten für »die eigenen Leute« feiern fröhliche Urstände. Derweil verzweifeln UmweltschützerInnen über Ortegas Baupläne für einen gigantischen Kanal zwischen Atlantik und Pazifik. Der Projektleiter und Präsidentensohn Laureano Ortega tätigt momentan, sicher nicht uneigennützig, Landprivatisierungen im vorgesehenen Kanalverlauf.

Die ehemalige Comandante der Guerilla Mónica Baltodano kritisiert vor diesem Hintergrund, die Regierung pflege zwar »eine dermaßen übertriebene linke Rhetorik«, aber tatsächlich »bereichern sich Banker und die traditionelle Oligarchie und Gruppen ehemaliger Revolutionäre, die sich in Investoren, in Geschäftsleute, in Spekulanten verwandelt haben«. Die einstige »Revolution der Dichter« hat fast alle der ihr einst verbundenen Intellektuellen verloren. Genauer gesagt: Die FSLN hat sie verloren, während Ernesto Cardenal, Giaconda Belli und andere die verratenen Ideale beschwören.

Der Schriftsteller und Altsandinist Sergio Ramirez gehört zu den vielen, die sich vom Ortega-Clan entfremdet haben und mit den Protesten sympathisieren. »Binnen drei Tagen wurden mehr als 50 unbewaffnete und größtenteils friedlich demonstrierende Jugendliche niedergeschossen von paramilitärischen Einheiten und Polizisten, über die kein anderer als der Präsident das Kommando hat.« Nicaragua sei inzwischen ein repressiver »Einfamilienstaat«. Es gebe »eine totale Unterdrückung abweichender Meinungen, auch innerhalb der Sandinistischen Partei.« Jetzt steuere das Land auf ein wirtschaftliches und politisches Desaster zu.

Tatsächlich stieg die Zahl der Toten bei den Protesten Anfang Juni auf über hundert. Vorwiegend handelt es sich um Oppositionelle. Wie auch in Venezuela ist die Zahl der von der Regierung zu verantwortenden Straftaten auf ein Maß gestiegen, das die derzeitigen Präsidenten nach einer Abdankung ins Gefängnis bringen kann. Also werden sie wohl weitermachen. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

Fast niemand gibt mehr »den Gringos«, den USA oder alten Oligarchien die Schuld an der Krise. Selbst das solidaritätsbewegte Informationsbüro Nicaragua aus Wuppertal wendet sich in einem Offenen Brief gegen Ortegas Konfrontationspolitik. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung publiziert einen wenig schmeichelhaften Artikel über die Gewalteskalation mit dem Titel »Nicaragua zwischen Hammer und Amboss«.

»Einfach unwiderstehlich« titelte die iz3w 2006 leicht ironisch zum damaligen Linksruck in Lateinamerika. Das Resultat nach zwölf Jahren autoritärer Formierung ist: Einfach unerträglich. Die nicaraguanische nationale Bewegung der Frauen und Feministinnen forderte Ende April: »Nieder mit der Diktatur! Beendigung der Repression und des Staatsterrors!« Ihre Ansicht teilt


die redaktion

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Anarchismus weltweit
Tschüss, die Herrschaften

Mit ihren Vorstellungen von der freien Assoziation der Menschen wenden sich AnarchistInnen nicht nur gegen das Ausbeutungsverhältnis des Kapitalismus und gegen den Autoritarismus in bürgerlichen und faschistischen Staaten. Ihre Kritik gilt ebenso den parteikommunistischen Vorstellungen von der "Diktatur des Proletariats" und dem faulen Frieden der Sozialdemokratie mit dem Kapital.

Die anarchische Utopie von der herrschaftsfreien Gesellschaft hat in der globalen Linken eine lange Tradition. Doch heute ist es in Westeuropa und Nordamerika recht still geworden um den Anarchismus. Umso lebendiger sind heute anarchistische Szenen in Lateinamerika, in einigen asiatischen Ländern und in Osteuropa.

In unserem Themenschwerpunkt fragen wir unter anderem: Worin bestehen anarchistische Utopien, was ist anarchistische Herrschaftskritik, worin liegen ihre Stärken, Verdienste und Schwächen? In welchen gesellschaftlichen und geographischen Nischen werden heute anarchistische Vorstellungen von der freien Assoziation der Menschen gelebt?

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INHALTSÜBERSICHT

Volksregierung gegens Volk
Hefteditorial

Themenschwerpunkt: Anarchismus

Anarchismus weltweit
Editorial zum Themenschwerpunkt

Herrschaftsgottnochmal!
Zur Ideengeschichte des Anarchismus
von Philippe Kellermann

Black Anarchism
Libertäre Strömungen in der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung
von Helene Thaa

»Warum ich Anarchist bin«
Ein afroamerikanischer Aktivist über seine politische Entwicklung
von Lorenzo Kom'boa Ervin

Transnational ist besser
Stand und Perspektiven des Syndikalismus
von Holger Marcks

Das versteckte A
Ein Diskussionsbeitrag über die Anarchie und ihre Grenzen
von der Arbeitsgruppe des Themenschwerpunktes

»Du stehst dem Staat ganz allein gegenüber«
Interview mit Anarchist Black Cross über Anarchismus in Weißrussland

Teilen, nicht herrschen
Anarchismus im anti- und postkolonialen Indien
von Lou Marin

»Widersetzen und dabei glücklich sein«
Interview mit der anarcha-feministischen Gruppe Mujeres Creando aus Bolivien

Vom Barangay zum Infoladen
Der philippinische Anarchismus ist gut verankert
von Gabriel Kuhn

Anarchismus ohne Ende
Blogs, Zeitschriften, Bücher
Politik und Ökonomie

Mexiko: Entscheidung für das geringere Übel
Wieder einmal herrscht ein schmutziger Wahlkampf
von Sonja Gerth

(Post-)Kolonialismus: Auf Großwildjagd
Die deutsch-togoischen Beziehungen und ihre koloniale Vergangenheit
von Stefan Seefelder


Seven Years After - Was bleibt vom Arabischen Frühling

Zu nett für den Machtkampf
Die arabische Demokratiebewegung hat doppelt verloren
von Jörn Schulz

Pharaonen stürzen
Was hat der Arabische Frühling für Frauen bewirkt?
von Hannah Wettig

Zurück in bleiernen Zeiten
In Ägypten geht Stabilität vor Menschenrechte und Demokratie
von Juliane Schumacher

Zwei vor, einer zurück
Warum die Lage in Tunesien nicht ganz so verheerend ist
von Bernd Beier


Kultur und Debatte

Biografie: »Louise, wie ist dir das eingefallen?«
Interview mit Eva Geber über die Anarchistin Louise Michel

iz3w: »Die besten Jahre ihres Lebens«
Laudatio auf vier Generationen in der Aktion Dritte Welt
von Andrea Schwendemann und Jörg Später


Rezensionen

Jacqueline Jones:
Goddess of Anarchy

Barbara Lüdde/Judit Wetter (Hg.):
Our Piece of Punk

Deniz Yücel:
Wir sind ja nicht zum Spaß hier

Julia Ebner:
Wut: Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen

Maria Tekülve/Theo Rauch:
Alles neu, neu, neu! In Afrika.
Vier Jahrzehnte Kontinuität und Wandel in der sambischen Provinz

Ta-Nehisi Coates:
We Were Eight Years in Power. An American Tragedy

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Quelle:
iz3w Nr. 367 - Juli/August 2018
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2018

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