Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IZ3W/339: Rezension - "Americanah" von Chimamanda Ngozi Adichie


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 343 - Juli/August 2014

Wo ist das gute Leben?

von Katharina Forster




Chimamanda Ngozi Adichie:
Americanah
S.Fischer, Frankfurt am Main 2014. 608 Seiten, 24,99 Euro.

In »Americanah« schreibt Chimamanda Ngozi Adichie über MigrantInnen und ihre Träume


Ifemelu hat Heimweh nach Nigeria. Bereits seit 13 Jahren lebt sie in den USA, doch sie beschließt, nach Lagos zurückzukehren. Dort wuchs sie auf, dort ist sie nicht »schwarz«, weil ihre Hautfarbe keine Rolle spielt, und dort lebt - das gesteht sie sich selbst kaum ein - Obinze, den sie seit der Schule kennt und mit dem sie einmal zusammen war. Doch das war, bevor sie in die USA ging und sich damit den Traum erfüllte, den so viele NigerianerInnen teilen.

Während sie sich auf ihre Rückkehr vorbereitet, lässt sie ihre Gedanken schweifen. Nach Nigeria, in ihre Kindheit, zu ihren Eltern und Obinze. Viel ist passiert, seit sie in das Land der Träume kam und sich herausstellte, dass es keines ist, und seit sie daran scheiterte, Arbeit zu finden und den Kontakt zu Obinze abbrach. Zugegeben, es ging ihr nicht nur schlecht in Amerika. Sie studierte, hatte feste Beziehungen, schrieb einen erfolgreichen Blog über Rassismus im Alltag und verdiente genug Geld, um ein gutes Leben zu führen. Ein Leben, das sie gerne führte. Aber das doch nicht ihres war.

Ifemelu lernt viel dazu in den USA. Unter anderem, was Rassismus ist und vor allem, dass er in den USA ein aktuelles Problem ist. Sie erfährt, dass Menschen nur allzu gern einfache Meinungen akzeptieren, weil Nachdenken schwieriger ist und vielleicht dazu führt, dass man Denk- und Verhaltensweisen ändern muss. Das bringt sie dazu, den Blog zu schreiben, um die Menschen aufzurütteln. Allzu vielen Menschen begegnet sie, die meinen, Rassismus existiere nicht mehr, Hautfarbe sei irrelevant. Ihnen will sie einen Spiegel vorhalten. Und ihrer wird sie müde.

Es gibt viele, die Nigeria verlassen möchten, um Chancen auf eine Karriere und ein besseres Leben zu haben. So kommt der größte Anteil afrikanischer Eingewanderter in den USA aus Nigeria. Auch Obinze erfährt in Nigeria Probleme, die dort viele Studierende erleben: Aufgrund massiver infrastruktureller Unterversorgung durch staatliches Fehlverhalten streiken die Lehrenden seiner Universität mehrere Monate lang. Eine gute Bildung und Karrieremöglichkeiten scheinen zunehmend unmöglich, deshalb will auch er migrieren. Doch er erhält kein Visum für die USA, wählt England und scheitert auch dort, als er als Illegaler abgeschoben wird. Zurück in Nigeria bekommt er durch Klientelismus eine Chance und fasst Fuß im boomenden Immobiliengeschäft, das den wirtschaftlichen Aufschwung Nigerias widerspiegelt. So wird er beruflich erfolgreich - und heiratet. Aber auch er hat Ifemelu nie vergessen. Der Konflikt ist also vorprogrammiert.

Chimamanda Ngozi Adichies Roman Americanah ist voller kleiner Geschichten und genauer Beobachtungen menschlicher Eigenarten, die Adichie treffend karikiert. Man fragt sich, wie viele der Situationen die Autorin, die mit 19 Jahren in die USA ging, um dort zu studieren, selbst erfahren hat. Da sind zum Beispiel Oberflächlichkeiten, die in den USA an Ifemelu herangetragen werden, etwa »Glätte dir die Haare vor einem Bewerbungsgespräch, sonst wirst du nicht eingestellt«. Die Eingewanderten versuchen krampfhaft, sich anzupassen, ihren Akzent abzulegen, sich konform zu kleiden. Oder die Arroganz der Zurückgekehrten in Lagos, die sich als etwas Besseres sehen und sich permanent über die Verhältnisse in der Stadt und im ganzen Land beschweren: »In dieser Stadt gibt es keinen Smoothie! Was dieses Land braucht, ist eine aktive Zivilgesellschaft.«

Adichies dritter Roman, der bei seiner Veröffentlichung von der Presse sehr gelobt wurde, entspricht der Botschaft ihrer im Internet verbreiteten Vorträge, die sie im Rahmen von Konferenzen der Organisation TED hielt: »Americanah« ist ein Plädoyer dafür, nicht kurzsichtig zu sein und nicht nur einer einzigen Geschichte über Menschen, Länder oder Begebenheiten zu glauben. Denn diese kann der Realität nie gerecht werden und führt zwangsläufig dazu, dass man sich ein einseitiges Bild macht. Ifemelu und Obinze treffen viele Menschen, die nur eine einzige Geschichte über 'Afrika' kennen. Über jenes Afrika, das von Katastrophen heimgesucht und von armen Menschen übervölkert ist.

Die LeserInnen, die die Geschichten der Protagonistin und des Protagonisten kennen lernen, verstehen, wie oberflächlich diese Meinungen sind und wie wenig sie Individuen gerecht werden können. So regt der Roman dazu an, nachzufragen und zu erfahren, welche Geschichte hinter jeder Person steckt, welche Herkunft und welche Ziele, welche Träume jede Person hat und vor allem, welche Gründe sie hatte, ihr Land zu verlassen. All dies vermittelt Adichie auf gut 600 Seiten aus wechselnden Erzählperspektiven und Rückblenden. Der Roman ist dank des humorvollen Erzählstils sehr kurzweilig. Nur die Schilderungen kurz vor Ifemelus Rückkehr während des Wahlkampfs vor Obamas erster Amtszeit verlieren etwas an Fahrt. Man wartet - ebenso wie die von Heimweh gepackte Protagonistin - förmlich darauf, dass sie diesen Lebensabschnitt beendet und endlich wieder nach Lagos zurückkehrt.

Der Autorin gelingt es, die aktuellen Thematiken Rassismus und Migration in eine persönliche Geschichte zu verpacken. Sie schildert diese aus der individuellen Perspektive der Romanfiguren und spricht auch politische Probleme wie Korruption oder Vernachlässigung des Bildungssektors an. Sie schafft ein anschauliches Gesellschaftsbild sowohl der US-amerikanischen als auch der nigerianischen Gesellschaft und thematisiert Erfahrungen von MigrantInnen aus Afrika. Adichie konterkariert mit ihrem Roman die vor allem durch Gewaltereignisse geprägte Medienberichterstattung über Nigeria, indem sie ein Bild zeichnet, das von alltäglichen Belangen ganz 'normaler' Menschen zeugt, die ein gutes und selbstbestimmtes Leben führen wollen.

*

Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 343 - Juli/August 2014

Fotografie und Macht
Wer erzählt?

Fotografien wurden zur Zeit ihrer Entstehung als Dokument der Wirklichkeit und als Abbild des Realen betrachtet. Doch schon die Möglichkeiten der Retusche wie die digitale Bildbearbeitung legen nahe, dass ein Foto nie die eine Wirklichkeit dokumentiert. Die Wahl des Ausschnitts, die Perspektive der Fotografin, die Lesart der BetrachterIn, der Kontext der Rahmung erlauben eigensinnige Variationen. Dennoch: Einem Foto ist das Potenzial inne, Emotionen anzusprechen und so unmittelbar Wirkung zu erzielen, und damit entfaltet es Macht.

Wir fragen in unserem Themenschwerpunkt wie Macht und Fotografie zusammenhängen. Schon die Geschichte der Fotografie ist eng mit der Geschichte des Kolonialismus verbunden. Im Kontext einer nord-südpolitisch relevanten Information beschäftigt nach wie vor die Frage der Repräsentation, der Klischeebildung, der Ermächtigung. Wie gestaltet sich die Beziehung der Akteure vor und hinter der Linse? Wann wird mit Fotografie Macht ausgeübt, wann können Fotos sie in Frage stellen? Wann sind sie Ausdruck von Selbstermächtigung? Wann werden ethische oder ästhetische Grenzen überschritten? Wann wird Dokumentation zu einer Zurschaustellung? Und wie verändert der Kontext, in dem ein Bild gerahmt wird, seine Wirkung?

unrecognized - by Oren Ziv

professions & visions - by Ralf Maro

La Habana - Photos by Eduardo Javier García & Orlando García

Werbung besticht - by Martina Backes (demnächst)

Abraco Brasil by Wolfgang Wick (demnächst)

Lampedusa Professionals by Marily Stroux (demnächst)


BEITRÄGE IM THEMENSCHWERPUNKT:

Editorial zum Themenschwerpunkt

Wir Versehrten.
Zur Fotografie des Leids und der Gewalt
von Aida Bosch

Verschobene Bedeutungslinien.
Stereotypes Bildrepertoire im israelisch-palästinensische Konflikt
von Felix Koltermann

Im Feld:
FotografInnen als Augenzeugen
von Felix Koltermann

»Visionen für eine gesellschaftliche Diskussion«.
Interview mit dem Fotografen Ralf Maro

Käuflich und konsumierbar.
Fair Trade-Werbefotos
von Sebastian Lemme

Imperiale Romantik oder postmoderne Frustration?
Die Bilderwelt der Travelblogs
von Greta Lina Keiner

»Give children cameras not candies«.
Interview mit der Fotografin Zanele Muholi über Homophobie und visuellen Aktivismus

Lampedusa in Hamburg Professions.
Erster Fototermin
von Marily Stroux

Konsum der Andersartigkeit.
Koloniale Fotografie schafft Wissen und Reklame
von Pia Florence Masurczak

»We felt on top of the world«.
Die Dekolonisation Nigerias in den Campusfotografien von J.D. 'Okhai Ojeikere
von Kerstin Meincke

Was ist eine gute Fotografie?
Zehn vorläufig skizzierte Antworten
von Georg Seeßlen


WEITERE THEMEN IM HEFT:

Hefteditorial: Oury Jalloh - das war Mord!

Politik und Ökonomie:

Protest: Maidan ist überall!
Ukraine und die russische Konterrevolution
von Viktoria Balon

Flucht: Ohne Aussicht auf ein Ende.
Der Krieg in Syrien überfordert die Nachbarländer
von Vera Jeschke

Südafrika: Nicht ohne Bauchschmerzen.
Soziale Bewegungen und die Wiederwahl des ANC
von Melanie Müller

Indien: Verteilung ohne Gerechtigkeit.
Ist das Recht auf Nahrung nur ein Wahlkampfthema?
von Uwe Hoering

Postkolonialismus: »Von unserer Regierung entwürdigt«.
Warum in Namibia über postkoloniale Vergangenheitspolitik gestritten wird
von Reinhart Kößler


KULTUR UND DEBATTE:

Erster Weltkrieg: Die Folgen sind bis heute spürbar.
Das koloniale Ostafrika im Ersten Weltkrieg
von Oliver Schulten

Kolonialismus: Deutsche Sichtweisen.
Eine Münchner Ausstellung über koloniale Südseeträume
von Peter Bräunlein

Literatur: Wo ist das gute Leben?
In »Americanah« schreibt Chimamanda Ngozi Adichie über MigrantInnen und ihre Träume
von Katharina Forster

Rezensionen

*

Quelle:
iz3w Nr. 343 - Juli/August 2014
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020 Freiburg i. Br.
Telefon: 0761/740 03, Fax: 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org
 
iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Einzelheft kostet 5,30 Euro plus Porto.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2014