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IZ3W/314: Rezension - Bolivien, Bühnen der Veränderung


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 338 - September/Oktober 2013

Bolivien: Bühnen der Veränderung

Rezension von Alicia Allgäuer



Der Sammelband Plurinationale Demokratie in Bolivien verfolgt das Anliegen, bolivianische Debatten und Analysen über den »proceso de cambio« auch auf Deutsch zugänglich zu machen. Verschiedene bolivianische AutorInnen analysieren in historischen und aktuellen Beiträgen die Voraussetzungen, Bedingungen und Ausgestaltungen des Transformationsprozesses, der durch das »Öffnen politischer Horizonte« mit den indigenen Märschen ab 1990 und dem »Wasserkrieg« 2000 ermöglicht wurde. Insbesondere seit dem Amtsantritt von Präsident Evo Morales gibt es zwar eine Vielzahl an deutschsprachigen Publikationen über Bolivien, aber selten kommen bolivianische AutorInnen selbst zu Wort. Anders im vorliegenden Buch, das zudem eine Fülle an theoretischen Zugängen bietet, in dessen Zentrum die Dekolonisierung des Staates, der Gesellschaft und der Wissensproduktion stehen. So werden indigene Gesellschafts- und Geschichtskonzepte als wesentlicher Teil der Theorieproduktion einbezogen und die globalen postkolonialen Strukturen als Basis des liberalen Kapitalismus ins Zentrum der Analysen gerückt.

Inwieweit eine Dekolonisierung des Staates auch eine Neukonzeption von Geschlechterverhältnissen umfasst, wäre ein weiteres wichtiges Thema, das hier erst in Ansätzen Erwähnung findet. Plurinationale Demokratie wird theoretisch gefasst, aber eine Auseinandersetzung darüber, inwieweit diese rhetorisch von der Regierung übernommenen Konzepte auch in die Realität umgesetzt werden, konnte in diese Publikation noch nicht einbezogen werden, denn die Beiträge stammen aus den ersten Jahren der Regierung Morales. Ulrich Brand sieht in den bolivianischen Mobilisierungen die wichtige Erfahrung, »dass eine progressive Regierung noch keinen progressiv orientierten Staatsapparat macht«. Es ist also noch ein langer Weg bis zur Verwirklichung des plurinationalen Staates. Es bleibt zu hoffen, dass es bald ein Nachfolgewerk gibt, in dem die bisherigen Fort- oder Rückschritte bei der Dekolonisierung kritisch analysiert werden.

Einen anderen Ansatz wählt Simon Ramirez-Voltaire in seiner Dissertation Symbolische Dimensionen von Partizipation. Nicht die »Neugründung Boliviens«, sondern die Kontinuitäten lokaler Organisierungsformen seit der Revolution 1952 und den Dezentralisierungs-Reformen von 1994 bilden den Ausgangspunkt für die Analyse, welche für das Verständnis der heutigen Situation in Bolivien von großer Bedeutung seien. Im Zentrum steht die Beschäftigung »mit der symbolischen Konstruktion von politischen Gemeinwesen im Kontext der Dezentralisierung«. Mit dem Gesetz zur Volksbeteiligung von 1994 wurden lokale Institutionen geschaffen, die der politischen Beteiligung der Bevölkerung einen Rahmen geben und diese letztlich in die staatlichen Strukturen integrieren sollten. Ramirez-Voltaire argumentiert, dass diese lokalen Institutionen bis heute fortdauern und die Basis für die aktuellen Aushandlungsprozesse im Rahmen der plurinationalen Verfassung von 2009 bilden. Denn die Legitimationskrise des Staates von 1952 wurde durch dieses Gesetz nicht überwunden, sondern verstärkte die beiden zentralen historischen Konfliktachsen: zwischen Staat und lokalen Organisationsformen sowie Staat und Departamentos, die anders als die Gemeinden durch dieses Gesetz keine Stärkung erfuhren.

Das Buch liest sich sehr viel leichter, als sein sperriger Titel es vermuten lässt. Insbesondere die qualitative Forschung in zwei bolivianischen Gemeinwesen macht die Prozesse »von unten« verständlich und veranschaulicht die »beiden Bolivien«: Einerseits die Gemeinde Tiquipaya in Cochabamba, die von den Strukturen der LandarbeiterInnengewerkschaft geprägt und wo die Unterstützung für die Regierungspartei MAS sehr hoch ist, andererseits die Cívico-Strukturen im konservativen Santa Cruz, die auf der Abgrenzung vom »andinen Nationalstaat Bolivien« und der »protonationalen Erzählung« über die »Camba-Nation« basieren. Dabei wird deutlich, wie auch die Kategorien Geschlecht und Ethnizität Teil von Aushandlungsprozessen und Interessenskämpfen sind. Ramirez-Voltaire wendet sich gegen einen »methodologischen Essenzialismus« und schlägt stattdessen das Konzept einer »politischen Ethnizität« im Sinne einer »flexiblen symbolischen Position« vor. Bei aller Relevanz dieser Reflexion ist es schade, dass dieses auf europäischen TheoretikerInnen basierende Verständnis von Ethnizität nicht mit diesbezüglichen Ansätzen bolivianischer AutorInnen kontrastiert wurde. Dazu könnte beispielsweise der Beitrag von Silvia Rivera Cusicanqui in Brand et al. herangezogen werden, der Ethnizität aus feministischen Perspektiven analysiert.

Beide Bücher beschäftigen sich mit aktuellen Themen, die nicht nur für Bolivien bedeutsam sind: Universalismus versus Partikularismus, politische und gesellschaftliche Partizipation aller Bevölkerungsteile, gesellschaftliche Alternativen, Ethnisierungsprozesse etc. Sie ergänzen sich in ihrer Herangehensweise und bieten auch für Nicht-Bolivien-SpezialistInnen genügend Hintergrundinformationen, um die derzeitigen Prozesse und theoretischen Vorschläge nachvollziehen zu können. Dabei bleiben notgedrungen auch Lücken für zukünftige Publikationen, wie etwa der verstärkte Einbezug von afrobolivianischen Perspektiven oder von indigenen AutorInnen (wie immerhin teilweise im Sammelband umgesetzt). Letzteres wäre ganz im Sinne der Aufforderung von Vega Camacho, »den Staat aus der Perspektive derer zu denken, die bisher nicht Teil von ihm waren«.


Ulrich Brand / Isabella Radhuber / Almut Schilling-Vacaflor (Hg.):
Plurinationale Demokratie in Bolivien. Gesellschaftliche und staatliche Transformationen.
Westfälisches Dampfboot, Münster 2012. 388 Seiten, 34,90 Euro.

Simon Ramirez-Voltaire:
Symbolische Dimensionen von Partizipation. Aushandlungen von lokalpolitischen Gemeinwesen und Institutionen im Kontext der bolivianischen Dezentralisierung.
Edition tranvía, Berlin 2012. 420 Seiten, 32 Euro.

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 338 - September/Oktober 2013


Fairer Handel
Kaufend schreiten wir voran

Bei der Debatte über schlechte Arbeitsbedingungen im globalen Süden taucht er immer auf: der Faire Handel. Akteure des Fair Trade beanspruchen für sich, erfolgreich zu fairen Handelsbeziehungen zwischen ProduzentInnen im Süden und KonsumentInnen im Norden beizutragen. Inzwischen stehen immer mehr entsprechende Produkte in den Supermarktregalen. Städte werden zu Fairtrade-Towns und in großen Kantinen gibt es immer häufiger fairen Kaffee. Wie weit reicht das Konzept in Theorie und Praxis?

Die grundlegende Kritik an der mangelnden Reichweite des Fair Trade begleitet ihn seit seiner Entstehung. Kann Handel in der Konkurrenzgesellschaft überhaupt fair sein? - so die Gretchenfragen. Der Fokus auf kleinbäuerliche Produktion und Freiwilligkeit des Preisaufschlages sorgen dafür, dass nur eine kleine Nische der Arbeitswelt berücksichtigt wird. Bei aller Kritik am Fairen Handel muss aber eingeräumt werden, dass ihm einiges zu verdanken ist. Viele ProduzentInnen im globalen Süden leben in besseren Verhältnissen. Auch die Kritik an der Ausbeutungsstruktur des Welthandels hat gerade durch den Fairen Handel einige Verbreitung erfahren.

Übrigens hat sich die iz3w schon vor 15 Jahren mit dem Für und Wider des Fairen Handels beschäftigt. Hier findet sich die Kontroverse aus dem längst vergriffenen Sonderheft "Nachhaltig zukunftsfähig?" von 1998.


SCHWERPUNKT: FAIRER HANDEL

Editorial zum Themenschwerpunkt

Gekauft
Der Faire Handel erobert die Mitte der Gesellschaft
von Wolfgang Johann und Roland Röder

Inszenierte Verteilungsgerechtigkeit
Zur politischen Ökonomie des Fairen Handels (Langfassung)
von Hanns Wienold

Beglaubigung versetzt Berge
Was bringen Siegel und Zertifikate?
von Sandra Dusch Silva

Die Macht der Darstellung
Die Fair Labor Association entpolitisiert die Handelsbeziehungen der Textilbranche
von Patricia Reineck

Was soll ich nur anziehen?
Ethische Mode zwischen Idealismus und Marktprinzip
von Sascha Klemz

Die Schokoladenseite
Eine Kakaogenossenschaft veredelt ihren Rohstoff
von Knut Henkel

»Come to Mary & Martha!«
Ein Porträt des bislang einzigen Fair Trade-Unternehmens in der Mongolei
von Friederike Enssle

»Landwirtschaft 2013 heißt auch Melkroboter«
Die faire Milch zum fairen Kaffee
Interview mit Gertrud Selzer

Kapitalismuskritik hinterm Ladentisch
Die Leute vom Weltladen Losheim am See erklären, warum sie weitermachen
(nur auf der Website, nicht im Heft)


POLITIK UND ÖKONOMIE

Hefteditorial: Thank you comrade!

Ägypten: Vorwärts in die Vergangenheit
Das Militär hat die Macht nun wieder offen übernommen
von Juliane Schumacher

Grenzregime: Kontinuierlich gegen Flüchtlinge
Die EU lanciert in Libyen eine Mission für Migrationsabwehr
von Stefan Brocza

Politischer Islam: »Es gibt viel zu viel Naivität«
Interview mit Geneive Abdo über die Wahlen im Iran und den Coup in Ägypten

Türkei I: Der Spirit von Gezi
Was bleibt von der Protestbewegung
von Udo Wolter

Türkei II: Jenseits der säkular-islamistischen Spaltung
Genderpolitik in der Türkei
von Selin Çagatay

Umwelt: »Inkagold« in Zeiten des Klimawandels
Peru verbraucht seine Wasserreserven für den Spargelexport
Interview mit Laureano del Castillo

Guatemala: Völkermörder oder nicht?
Das Urteil gegen Ex-Präsidenten Montt ist ein Politikum
von Valentin Franck

Erster Weltkrieg: Ohne Rücksicht auf Verluste
Der Erste Weltkrieg in den Kolonien war ein Stellvertreterkrieg der Großmächte
von Uwe Schulte-Varendorff


KULTUR UND DEBATTE

Critical Whiteness I: Falsche Polarisierung
Die Critical Whiteness-Kritik am Globalen Lernen wird ihrem Gegenstand nicht gerecht
von Bernd Overwien

Critical Whiteness II: Finger on the Trigger
Eine ethnologisch-autobiographische Zwischenbilanz
von Ruben Eberlein

Film: Post-revolutionär
In Köln werden neue Filme aus Nord- und Südafrika gezeigt
von Karl Rössel

Rezensionen

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Quelle:
iz3w Nr. 338 - September/Oktober 2013, Rezensionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2013