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IZ3W/312: Interview - "Landwirtschaft 2013 heißt auch Melkroboter"


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 338 - September/Oktober 2013

»Landwirtschaft 2013 heißt auch Melkroboter«

Das Interview mit Gertrud Selzer von der Aktion 3. Welt Saar führte Winfried Rust.



Die faire Milch zum fairen Kaffee

Die Aktion 3.Welt Saar engagiert sich mit »Erna goes fair« für eine faire Landwirtschaft weltweit. ERNA steht für Kampagne für ERnährungssicherheit und NAchhaltigkeit. Die Kampagne ist an den Demonstrationen in Berlin für eine andere Agrarpolitik anlässlich der Grünen Woche beteiligt. Im Rahmen von ERNA arbeitet die Aktion 3.Welt Saar im Trägerkreis von »Meine Landwirtschaft - unsere Wahl« mit.


IZ3W: Wenn sich eine Organisation wie die Aktion 3.Welt Saar »für eine faire Landwirtschaft weltweit« engagiert, erwartet man einen Fokus auf Kleinbauern im globalen Süden. Was ist bei Erna goes fair anders?

GERTRUD SELZER: Ich rede nicht von Kleinbauern, sondern von Bauern und Bäuerinnen. Der Begriff »Kleinbauer« ist für mich ein Klischee mit der Tendenz zur Respektlosigkeit. Bei ERNA goes fair kooperieren wir mit Bauern, NaturschützerInnen und mit GewerkschaftlerInnen. Letzteres ist bundesweit einzigartig. Dabei soll vermittelt werden, dass Landwirtschaft im Jahr 2013 auch nach dem heutigen Stand der Technik stattfindet; also mit Computer und meinetwegen - aber nicht nur - mit Melkroboter. Es geht auch darum, nicht in das Klischeebild von Bauern zu verfallen, die morgens um fünf Uhr frohen Mutes mit Hacke und Spaten aufs Feld ziehen und mit jedem Regenwurm per du sind.

IZ3W: Warum beziehen Sie die Landwirtschaft vor Ort ein?

GERTRUD SELZER: Weil Landwirtschaft alle etwas angeht. Die üblichen Trennungen taugen nichts und die Zusammenhänge liegen auf der Hand: In Paraguay wird die Landwirtschaft auf Sojaanbau zugerichtet, Bauern werden dabei vertrieben und manchmal sogar ermordet. Mit billig produziertem Soja wird in Deutschland auf Kosten von hiesigen Bauern eine Überproduktion von Milch geschaffen. Dies drückt hier den Preis und zwingt Bauern zur Produktion unter den realen Kosten. Die überschüssige Milch wird als Kondensmilch und Milchpulver unter anderem nach Westafrika exportiert. Das nötigt dort Bauern, die Milchwirtschaft aufzugeben. Letztlich sind sie sowohl in Paraguay, Deutschland oder dem Senegal die Gelackmeierten.

IZ3W: Sie kooperieren mit dem Bundesverband Deutscher Milchviehhalter und mit deutschen Landesverbänden der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft. Ist das nicht ungewöhnlich?

GERTRUD SELZER: Noch ungewöhnlicher ist die Kooperation mit dem DGB. Dass jetzt bereits zum vierten Mal Bauern mit Treckern an der 1. Mai Veranstaltung des DGB in Saarbrücken teilnehmen, vermittelt auch optisch etwas Neues. Bessere Löhne und Preise gibt es nicht durch ein freundliches »bitte, bitte«. Allerdings bleibt der Grundwiderspruch bestehen, weil Bauern Betriebsinhaber sind, also Arbeitgeber.

IZ3W: Was geschieht bei dieser Kooperation?

GERTRUD SELZER: Zwischen NaturschützerInnen und LandwirtInnen zum Beispiel erfolgen gegenseitige Impulse. NaturschützerInnen erfahren etwas über die massiven ökonomischen Zwänge, unter denen Bauern stehen und diese bekommen Hinweise auf den auch ökonomischen Wert von Artenvielfalt auf dem Acker. Und beim Anbau von Leguminosen (einheimische Eiweißpflanzen wie Ackerbohnen und Futtererbsen) trifft man sich. Dieser Anbau reduziert die Sojaexporte aus dem globalen Süden und erhöht die Artenvielfalt auf dem Acker. Viele Beteiligten sind durchaus offen für internationalistische Sichtweisen, weil sie merken, dass dies etwas mit ihrem Alltag zu tun hat: Zum Beispiel beim Zugriff auf Saatgut, der auf internationaler Ebene durch Patentierungsversuche von Agrarunternehmen und auf nationaler Ebene durch Nachbaugebühren erschwert wird.

IZ3W: Sie wollen Zusammenhänge zwischen Nord und Süd aufzeigen. Welche sind das konkret?

GERTRUD SELZER: Allein Deutschland verbraucht 2,8 Millionen Hektar Fläche außerhalb Europas für den Futtermittelanbau; meist für Soja. Gleichzeitig liegt hier die Züchtung von Leguminosen-Saatgut, also Futtererbsen und Ackerbohnen, brach. Bauern, die auf einheimische Eiweißpflanzen umsteigen wollen, können dies nur mit erheblichen Unsicherheiten leisten. Die Bedeutung des Sojaanbaus in Paraguay hat man letztes Jahr gesehen, als der von den Sojabaronen mit unterstützte Staatsstreich über die Bühne ging. Präsident Fernando Lugo wurde gestürzt, weil er Landbesetzungen nicht militärisch genug bekämpfte und Gensoja nicht Tor und Tür öffnete.

Gleichzeitig legen wir Wert auf persönlichen Austausch. Mit der Bauernaktivistin Esther Leiva aus Paraguay hatten wir mehrere Hofbesichtigungen in Rheinland Pfalz und im Saarland und Begegnungen mit ParlamentarierInnen. Mit dem Hauptdarsteller des Films »Raising Resistance«, Geronimo Arevalos, hatten wir Gespräche mit hiesigen Milchbauern eingefädelt.

IZ3W: Was haben Sie bei dem Projekt gelernt?

GERTRUD SELZER: In einem seiner ersten Filme »Im Lauf der Zeit« lässt Wim Wenders seinen Hauptdarsteller sagen: »Es muss alles anders werden.« Dazu gehört auch das Klischee über vermeintlich dumme Bauern und Bäuerinnen. Auch wir mussten im Detail lernen, welche hochkomplexen Betriebsabläufe dort stattfinden. Fasziniert bin ich von der Offenheit auf Seite der Bauern gegenüber der ihnen bis dato eher fremden Welt der Gewerkschaften und des Naturschutzes.

IZ3W: Was ist dabei für den Fairen Handel interessant?

GERTRUD SELZER: Der Faire Handel hätte hier seine Chance, die eigene Distanz zu Gewerkschaften und seine Entpolitisierung zu überwinden. Gerechtigkeit ist unteilbar. Was nützt der schönste Faire Handel, wenn dabei die offensichtlichen Zusammenhänge zwischen Sojaanbau in der Dritten Welt und der Marginalisierung von Bauern in Deutschland ausgeblendet werden. Da bin ich wenig optimistisch, da sich etliche AkteurInnen des Fairen Handels in einer gut honorierten Nische eingenistet haben. Der Bezug zu sozialen Kämpfen hier, zu Gewerkschaften oder überhaupt zu Politik stört dabei.

IZ3W: Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft hat auch mit Erwerbsloseninitiativen kooperiert. Ein Milchbauer sagte, dass faire Lebensmittelpreise nur möglich sind, wenn sie bezahlt werden können. Dafür müssten Niedriglöhne und der niedrige Hartz-IV-Satz abgeschafft werden. Was sagt das Fair-Trade-Aktiven?

GERTRUD SELZER: Der Faire Handel kolportiert eine fast schon idyllisch anmutende Welt von armen kleinen Bauern, die weit weg leben und die durch »unser« gönnerhaftes Wirken den morgigen Tag überleben. Es stellt sich schon die Frage, ob »die Bauern« in der Dritten Welt uns brauchen - oder »wir« sie, um uns an der eigenen Hilfstätigkeit zu laben.


Gertrud Selzer ist Mitbegründerin der Aktion 3.Welt Saar und Mitarbeiterin bei ERNA goes fair (www.erna.a3wsaar.de).

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 338 - September/Oktober 2013


Fairer Handel
Kaufend schreiten wir voran

Bei der Debatte über schlechte Arbeitsbedingungen im globalen Süden taucht er immer auf: der Faire Handel. Akteure des Fair Trade beanspruchen für sich, erfolgreich zu fairen Handelsbeziehungen zwischen ProduzentInnen im Süden und KonsumentInnen im Norden beizutragen. Inzwischen stehen immer mehr entsprechende Produkte in den Supermarktregalen. Städte werden zu Fairtrade-Towns und in großen Kantinen gibt es immer häufiger fairen Kaffee. Wie weit reicht das Konzept in Theorie und Praxis?

Die grundlegende Kritik an der mangelnden Reichweite des Fair Trade begleitet ihn seit seiner Entstehung. Kann Handel in der Konkurrenzgesellschaft überhaupt fair sein? - so die Gretchenfragen. Der Fokus auf kleinbäuerliche Produktion und Freiwilligkeit des Preisaufschlages sorgen dafür, dass nur eine kleine Nische der Arbeitswelt berücksichtigt wird. Bei aller Kritik am Fairen Handel muss aber eingeräumt werden, dass ihm einiges zu verdanken ist. Viele ProduzentInnen im globalen Süden leben in besseren Verhältnissen. Auch die Kritik an der Ausbeutungsstruktur des Welthandels hat gerade durch den Fairen Handel einige Verbreitung erfahren.

Übrigens hat sich die iz3w schon vor 15 Jahren mit dem Für und Wider des Fairen Handels beschäftigt. Hier findet sich die Kontroverse aus dem längst vergriffenen Sonderheft "Nachhaltig zukunftsfähig?" von 1998.


SCHWERPUNKT: FAIRER HANDEL

Editorial zum Themenschwerpunkt

Gekauft
Der Faire Handel erobert die Mitte der Gesellschaft
von Wolfgang Johann und Roland Röder

Inszenierte Verteilungsgerechtigkeit
Zur politischen Ökonomie des Fairen Handels (Langfassung)
von Hanns Wienold

Beglaubigung versetzt Berge
Was bringen Siegel und Zertifikate?
von Sandra Dusch Silva

Die Macht der Darstellung
Die Fair Labor Association entpolitisiert die Handelsbeziehungen der Textilbranche
von Patricia Reineck

Was soll ich nur anziehen?
Ethische Mode zwischen Idealismus und Marktprinzip
von Sascha Klemz

Die Schokoladenseite
Eine Kakaogenossenschaft veredelt ihren Rohstoff
von Knut Henkel

»Come to Mary & Martha!«
Ein Porträt des bislang einzigen Fair Trade-Unternehmens in der Mongolei
von Friederike Enssle

»Landwirtschaft 2013 heißt auch Melkroboter«
Die faire Milch zum fairen Kaffee
Interview mit Gertrud Selzer

Kapitalismuskritik hinterm Ladentisch
Die Leute vom Weltladen Losheim am See erklären, warum sie weitermachen
(nur auf der Website, nicht im Heft)


POLITIK UND ÖKONOMIE

Hefteditorial: Thank you comrade!

Ägypten: Vorwärts in die Vergangenheit
Das Militär hat die Macht nun wieder offen übernommen
von Juliane Schumacher

Grenzregime: Kontinuierlich gegen Flüchtlinge
Die EU lanciert in Libyen eine Mission für Migrationsabwehr
von Stefan Brocza

Politischer Islam: »Es gibt viel zu viel Naivität«
Interview mit Geneive Abdo über die Wahlen im Iran und den Coup in Ägypten

Türkei I: Der Spirit von Gezi
Was bleibt von der Protestbewegung
von Udo Wolter

Türkei II: Jenseits der säkular-islamistischen Spaltung
Genderpolitik in der Türkei
von Selin Çagatay

Umwelt: »Inkagold« in Zeiten des Klimawandels
Peru verbraucht seine Wasserreserven für den Spargelexport
Interview mit Laureano del Castillo

Guatemala: Völkermörder oder nicht?
Das Urteil gegen Ex-Präsidenten Montt ist ein Politikum
von Valentin Franck

Erster Weltkrieg: Ohne Rücksicht auf Verluste
Der Erste Weltkrieg in den Kolonien war ein Stellvertreterkrieg der Großmächte
von Uwe Schulte-Varendorff


KULTUR UND DEBATTE

Critical Whiteness I: Falsche Polarisierung
Die Critical Whiteness-Kritik am Globalen Lernen wird ihrem Gegenstand nicht gerecht
von Bernd Overwien

Critical Whiteness II: Finger on the Trigger
Eine ethnologisch-autobiographische Zwischenbilanz
von Ruben Eberlein

Film: Post-revolutionär
In Köln werden neue Filme aus Nord- und Südafrika gezeigt
von Karl Rössel

Rezensionen

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Quelle:
iz3w Nr. 338 - September/Oktober 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2013