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IZ3W/298: Rezension des Buches "Die Grenzen kann man sowieso nicht schließen" von Daniel Josten


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe 335 - März/April 2013

«Die Grenzen kann man sowieso nicht schließen«
Migrantische Selbstorganisation - zivilgesellschaftliches Engagement zwischen Ausschluss und Partizipation.

rezensiert von Helge Schwiertz



»Weil man über uns spricht«

Die Bedeutung von MigrantInnenorganisationen wird in öffentlichen Debatten und wissenschaftlichen Studien zunehmend diskutiert. Zumeist wird aber lediglich gefragt, ob diese Organisationen zur »Integration« beitragen oder eben diese verhindern. Die Perspektive derjenigen, die als MigrantInnen gesehen werden, wird dabei regelmäßig ausgeblendet.

Mit dem auf seiner Dissertation basierenden Buch Die Grenzen kann man sowieso nicht schließen will Daniel Josten sich diesen Perspektiven widmen. Um die Möglichkeiten und Probleme migrantischer Selbstorganisation im urbanen Raum zu erfassen, untersucht er »Formen der zivilgesellschaftlichen Beteiligung von MigrantInnen in Köln«. Hierzu nimmt er verschiedene Selbstbeschreibungen in den Blick, wobei er versucht, die herrschende Kategorisierung von MigrantInnen nicht zu reproduzieren.

Die drei ausgewählten Fallbeispiele zeigen die Vielfalt migrantischer Selbstorganisation. Die »Föderation demokratischer Arbeitervereine« (DIDF) versteht sich als Organisation, die sich für die Interessen von »türkeistämmigen Migrant/innen« und Lohnabhängigen einsetzt. DIDF versucht dabei politische Bündnisse mit anderen Gruppen einzugehen, aber selbst möglichst unabhängig zu bleiben. Die als zweites Fallbeispiel untersuchte Selbsthilfeorganisation »PHOENIX-Köln«, die insbesondere von MigrantInnen aus Ländern der ehemaligen UdSSR gegründet wurde, arbeitet dagegen auch eng mit staatlichen Stellen zusammen. So wird in Kooperation mit dem Kölner Jobcenter eine eigene »JobBörse« betrieben. Schließlich geht Josten auch auf das zivilgesellschaftliche Engagement von illegalisierten MigrantInnen ein, wobei dieses dritte Fallbeispiel eher den Vergleich der ersten beiden ergänzt. Während DIDF die Bedeutung politischer Beteiligung betone und die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern wolle, so Josten in seinem Resümee, ziele PHOENIX vor allem darauf ab, die in diesen Verhältnissen bereits bestehenden Möglichkeiten optimal zu nutzen. Die »Illegalisierten« würden letzteres auch versuchen, wobei sie gezwungen seien, dies möglichst unauffällig zu tun.

Neben der qualitativen Dokumentenanalyse sind elf ExpertInneninterviews der Kern der Forschungsarbeit. Durch sie werden die vielfältigen Positionen innerhalb der untersuchten migrantischen Organisationen deutlich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Stellvertreterpolitik ablehnen und sich dagegen wehren, auf Objekte der Politik reduziert zu werden. »Weil man über uns spricht«, sei eine politische Selbstorganisation von Menschen, die in Deutschland als MigrantInnen gesehen und diskriminiert werden, notwendig, erklärt eine Akteurin des DIDF.

Um Engagement jenseits staatlicher Partizipationsangebote in den Blick zu bekommen, bietet das Konzept der Zivilgesellschaft eine umfassende Perspektive. Durch die systemtheoretische Ausrichtung und den Rückgriff auf deliberative Demokratieansätze werden aber die Machtmechanismen und Konflikte, von denen auch die Zivilgesellschaft durchzogen ist, nicht ausreichend beachtet. Hier könnte mit Antonio Gramsci »Zivilgesellschaft« nicht als unabhängig, sondern im Zusammenhang eines »integralen Staates« verstanden werden. Die Kritik am nationalistischen Diskurs der Integration, in dem Migration als Problem konstruiert wird, kommt in Jostens Buch dennoch nicht zu kurz.

Insgesamt leistet der Autor einen wichtigen Beitrag, um die Perspektive der Migration im sozialwissenschaftlichen Diskurs gegenüber dem Integrationsimperativ zu stärken. Insbesondere die Interviews machen das Buch über die Sozialwissenschaften hinaus für diejenigen interessant, die sich gegen die Entrechtung von MigrantInnen engagieren.


Daniel Josten:
«Die Grenzen kann man sowieso nicht schließen«
Migrantische Selbstorganisation - zivilgesellschaftliches Engagement zwischen Ausschluss und Partizipation.
Westfälisches Dampfboot, Münster 2012. 232 Seiten, 27,90 Euro

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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 335 - März/April 2013


Wissenschaft global
Das Rektorat bleibt im Norden

Dem Anspruch der Wissenschaften auf Universalität zum Trotz: Die Wissensproduktion zwischen Süd und Nord findet nicht egalitär statt. Sie ist von postkolonialen Machtverhältnissen, Ungleichheiten und Dominanzstrukturen durchzogen. Gerade die Geisteswissenschaften sind bis heute eurozentrisch geprägt. Die wissenschaftliche Produktion aus dem Norden wird als »Theorie«, diejenige aus dem Süden als »Praxis« wahrgenommen. WissenschaftlerInnen aus dem Globalen Süden werden an hiesigen Universitäten kaum zur Kenntnis genommen.

Auch rein quantitativ dominiert die Triade EU, USA und Japan bei der Wissensproduktion. Das lässt sich schon anhand der ungleichen Zahl der Fachpublikationen oder der unterschiedlichen Verteilung von Ressourcen für die Forschung belegen. Der Themenschwerpunkt befasst sich mit dieser Asymmetrie und versucht, die Perspektive zugunsten globalen Wissens zu erweitern.


Hefteditorial
Auf der Tiefe der ZEIT

POLITIK UND ÖKONOMIE:

Mexiko: Kämpfend schreiten sie voran
Die Zapatistas melden sich zurück
von Rosa Lehmann

Philippinen: Von Rechts wegen
Mittels illegaler Verhaftungen geht der Staat gegen AktivistInnen vor
von Hannah Wolf

Mali: Wiederherstellung eines Staates
Die Intervention ist Teil einer regionalen Kapitalstrategie
von Olaf Dehler

Ägypten: Die lange Geschichte des Islamismus
Die Konfliktlinien im neuen Ägypten kommen nicht überraschend
von Lutz Boßhammer

Senegal: Y'en a marre
Eine erfolgreiche Jugendrevolte
von Louisa Prause

Klimaanpassung: Agents of Change im Einsatz
Frauen und Klimaanpassung im ländlichen Tansania
von Katja Flockau

Australien: Ab auf die Inseln
Australien setzt gegenüber Bootsflüchtlingen auf Abschreckung
von Till Schmidt


BEITRÄGE ZUM THEMENSCHWERPUNKT:

Editorial zum Themenschwerpunkt

Zentrum versus Peripherie
Hierarchien der Wissenschaft im Weltmaßstab
von Wiebke Keim

Unheilige Allianz
Die westliche Wissensgesellschaft als Entwicklungsparadigma
von Maren Borkert und Nina Witjes

Den Ton angeben oder das Wort abtreten
Asymmetrien in der Genderforschung
von Veronika Wöhrer

Kämpferisch gegen Hegemonie
Gewerkschaftswissen zwischen Nord und Süd
von Ercüment Çelik

Lokalisieren, nicht kopieren
Internationale Beziehungen aus Perspektive der chinesischen Politikwissenschaft
von Christian Ersche


KULTUR UND DEBATTE

Debatte: Falschmünzerei statt Wertkritik
David Graebers Buch »Schulden« ist das Geld dafür kaum wert
von Peter Bierl

Film I: »Den eigenen Ideen treu bleiben«
Interview mit June Giovanni über Süd-Süd-Kooperationen im afrikanischen Film

Film II: Für die Würde
Das Filmfest FrauenWelten präsentierte Filme zum Opfer-Täter-Ausgleich
von Martina Backes

Film III: Märchenhafte Selbstermächtigung
Tarantinos »Django Unchained« ist ein filmischer Rachefeldzug gegen die Sklaverei
von Winfried Rust

Rezensionen

Szene/Tagungen

Impressum

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Quelle:
iz3w Nr. 335 - März/April 2013, Rezensionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. März 2013