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IZ3W/211: Ausgabe 318 - Editorial des Schwerpunktes - Grenzregimes


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 318 - Mai / Juni 2010

Editorial des Schwerpunkts
Klare Fronte - Alte und neue Grenzregimes


Manchmal sind Grenzen notwendig. Man muss sich im städtischen Leben von Reizen abgrenzen und das Private vom Öffentlichen. Man kann seine eigenen Grenzen ausweiten oder akzeptieren, abschaffen geht nicht. Eine allgemeine Grenzenlosigkeit gibt es wohl nicht. Aber in diesem Heft geht es um eine spezifische, historische Grenze: Die alt-bekämpfte Landesgrenze im Raum und in den Köpfen. Ihre Wirkungsmacht hat sie nicht verloren - nur sieht man sie mitunter nicht mehr. Über die ehemalige Feindesgrenze zwischen Deutschland und Frankreich fahren heute Leute hin und her, nur um schnell ein Baguette zu holen. Dort, wo früher ein Schlagbaum war, nimmt man nur noch ein wenig den Fuß vom Gaspedal. Der Raum auf dieser Fahrt ist allerdings von unsichtbaren Grenzen durchzogen, die die Einen beschränken und die für die Anderen unbemerkt bleiben.

Mit den falschen Papieren und dem falschen Aussehen wird man am Autobahnrastplatz in diesem Grenzgebiet mit einiger Wahrscheinlichkeit kontrolliert und landet dann, und das kann noch Glück im Unglück sein, für Monate und Jahre in einem deutschen Flüchtlingsheim. Dieses ist mit einem sichtbaren Zaun umgrenzt und die BewohnerInnen unterliegen einer unsichtbaren Residenzpflicht, der zufolge sie den Landkreis nicht verlassen dürfen. Der Lebensunterhalt ist auf Sozialsätze limitiert, die unter dem nominalen Existenzminimum liegen. Die Arbeitsmöglichkeiten sind auf null und die gefühlte Perspektive bald auf keine begrenzt. Nach einer Weile verinnerlichen auch ehemalige Bessergestellte die sozialen und symbolischen Grenzen gegenüber dem normalen Alltagsleben: Ein Theater zu betreten, ja, allein daran zu denken, liegt bald jenseits der Vorstellung.

In der EU geschieht das, was mit dem historischen Konstrukt der Grenze seit ihrem Anfang geschieht: Sie wird aufgelöst und neu gezogen. Die Beschränkung der Ausgeschlossenen wird möglichst nicht thematisiert. Man habe in der EU ja eine solche Freizügigkeit. So werden die neuen und weiter bestehenden Grenzlinien klein geredet oder sogar als Kulturgut gepriesen. Ständig redet man vom Europäischen Film oder von Europäischer Diplomatie so schwärmerisch, als sagte man Coq au vin. Es sei an die intellektuellen Grenzen erinnert, die solche Wir-Konstruktionen nie überschritten haben und bei der europäischen Identität auch nicht überschreiten werden. Michael Jeismann schrieb in seiner Studie über das nationale Bewusstsein von Deutschland versus Frankreich, »man wird sich das, worauf sich 'Nationalempfinden' stütze, gar nicht einfach genug vorstellen dürfen: einige Namen (Napoleon, Blücher, etc.), einige Schlachten und vor allem ein kleiner, aber vielfach tradierter Set von Eigenschaftsbestimmungen, mit deren Hilfe man sich als 'Franzose' im Gegensatz zum 'Deutschen' oder vice versa verstehen konnte.« Zack, geschieden. Seien es Linien in der Landschaft, Kontrollzonen, soziale, symbolische, ethnische, nationale, religiöse, regionale oder sonst welche Grenzen: Nie werden hier Gedanken verfeinert, nie das Leben verbessert.

Ein ernstes Problem der begrenzten Welt sind die hohen Zahlen an Menschen, die den Grenzen auch heute zum Opfer fallen. Um die Grenzen zwischen der armen und der reichen Hemisphäre zu überwinden sterben tausende Menschen schon bei dem Versuch, die Außengrenzen Europas zu überwinden. Und es sind immer gleich Tausende, wenn man über die Opfer der ethnischen Grenzziehungen in Ex-Jugoslawien spricht, oder über die Opfer der Landkonflikte im Sudan (siehe Seite 29).

Der Themenschwerpunkt folgt der Frage, wie sich über Grenzen die so genannte Herkunft konstituiert und wie sie sich sogar in kritisch gemeinten Debatten um Migration oder Kolonialismus festigt (S. 19). Und er fragt danach, wie sich die Binnengrenzen der EU zu einem Kontrollregime in der Fläche transformieren, das für unliebsame MigrantInnen weniger die Einreise, als das alltägliche Leben in der EU verunmöglicht (S. 24). Umgekehrt legt beispielsweise der marokkanische Staat seinen EmigrantInnen, die nach Europa gehen, nahe, dass sie immer MarokkanerInnen bleiben sollen (S. 28). Das erinnert fast an die Aussage des türkischen Premiers Tayyib Erdogan, dass Assimilation ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei. Um die Wünsche der Betroffenen schert sich dabei niemand. Im Sudan überformt die Grenze zwischen arabisch identifizierten und afrikanischen Bevölkerungen kleinteiligere Landkonflikte. Eine zukünftige Grenze zwischen Nord- und Südsudan wird die Probleme kaum lösen, sondern eher neue Sezessions- und Vertreibungsfeldzüge nach sich ziehen - wenn die alten Grenzziehungen nicht zivilgesellschaftlich entschärft werden. Der Iran inszeniert sich als global orientierte Republik, dessen Fokus, die Umma, die islamische Gemeinschaft, keine Grenzen kennt (S. 34). Aber es gibt kaum eine schärfere Grenzziehung, als die, die extreme Gläubige zwischen ihrer Religionsgemeinschaft und den Anderen ziehen. Den Themenschwerpunkt beschließt der Blick in das kommunistische Nordkorea (S. 35) - für 'No Borders' gibt es jedoch keine Spur: Das braun-rot gewandete Völkchen hinter seinen dicken Mauern hat den geringsten Ausländerteil weltweit und ist in seiner 'Reinheit' recht sonderbar geworden.

die redaktion


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Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 318 - Mai / Juni 2010


Themenschwerpunkt:
Klare Fronten - Alte und neue Grenzregimes

Allen Debatten von der "De-Nationalisierung" zum Trotze durchziehen zahlreiche Grenzen den gesellschaftlichen Alltag. Der angebliche Abbau von Grenzen in Europa bedeutet nichts anderes als deren Verlagerung, nach innen wie nach außen. Schlussendlich dreht sich vieles weiterhin um die spezifische, historische Grenze: Die alt-umkämpfte Landesgrenze im Raum und in den Köpfen. Ihre Wirkungsmacht hat sie nicht verloren, nur sieht man sie mitunter nicht mehr.

Ein ernsthaftes Problem der begrenzten Welt sind die vielen Menschen, die den Grenzen auch heute zum Opfer fallen. Um von der armen zur reichen Hemisphäre zu gelangen, sterben tausende Menschen schon bei dem Versuch, die Außengrenzen Europas zu überwinden. Der Themenschwerpunkt folgt der Frage, wie sich über Grenzen die so genannte Herkunft konstituiert und wie sie sich sogar in kritisch gemeinten Debatten um Migration oder Kolonialismus festigt. Und er fragt danach, wie sich die Binnengrenzen der EU zu einem Kontrollregime in der Fläche transformieren, das für unliebsame MigrantInnen weniger die Einreise, als das alltägliche Leben in der EU verunmöglicht.

Themen des Schwerpunkts:
Überkreuzen, Überschreiten, Durchqueren - Die Kritik an Grenzen + Boundary-Work - Über das Verhältnis psychischer, sozialer und symbolischer Grenzen + Im Dschungel von Calais - Selbstorganisation von Flüchtlingen und staatlicher Abwehr + Drinnen und Draußen - Die EU-Grenzen verschieben sich + Geteilte See - Die Grenzkämpfe auf dem Meer weiten sich aus + Marokko: Operation Rückbindung + Sudan: Alte Konflikte und neue Territorien + Mexiko: American Dream, Mexican Nightmare + Iran: Grenzenlos reaktionär + Korea: Surrealsozialistische Grenze


INHALTSÜBERSICHT

Hefteditorial: Auf zu neuen Ufern


POLITIK UND ÖKONOMIE

Südafrika I: Ein Arbeiterviertel im Museum
Der South End District in Port Elizabeth
von Thomas Schmidinger

Südafrika II: »Als AktivistIn lebt man gefährlich«
Interview mit Ashraf Cassiem und Mncedisi Twalo

Iran: »Schwächer als je zuvor«
Interview mit Meir Javedanfar über das Regime und die Opposition

Honduras: Elitäre Versöhnung
Die politische Krise nach dem Putsch
von Tobias Lambert

Haiti: Im Griff des Militärs
Die Geschichte Haitis zwischen Unterdrückung und Widerstand
von Peter Hallward

Entwicklungspolitik: Apfelstrudel nach Peking tragen
Die letzten Züge der deutsch-chinesischen Entwicklungszusammenarbeit
von Dirk Olaf Reetlandt

Indien: Organic Mobile
Die Produktion von Biolebensmitteln boomt
von Nina Osswald


SCHWERPUNKT: GRENZREGIMES

Editorial: Grenzregimes

Überkreuzen, Überschreiten, Durchqueren
Die Kritik an Grenzen sollte jede Kategorie hinterfragen von Birgit zur Nieden

Boundary-Work
Über das Verhältnis physischer, sozialer und symbolischer Grenzen
von Albert Scherr

Drinnen und Draußen
Die EU-Grenzen verschieben sich
von Henrik Lebuhn

Geteilte See
Die Grenzkämpfe auf dem Meer weiten sich aus
von Kai Kaschinski

Operation Rückbindung
Der marokkanische Staat fördert Zugehörigkeit über Grenzen hinweg
von Frederic Schmachtel

Alte Konflikte und neue Territorien
Was bringt die Grenze zwischen Nord- und Südsudan?
von Thomas Schmidinger

American Dream, Mexican Nightmare
Der Grenzraum in Südmexiko unter dem Einfluss der USA
von Kathrin Zeiske

Grenzenlos reaktionär

Die weltweite Revolution der Islamischen Republik Iran
von Jonathan Weckerle

Surrealsozialistisch
Nord- und Südkorea trennt noch eine richtige Feindesgrenze
von Rainer Werning


KULTUR UND DEBATTE

Medien: Tele-Visionen
Anspruch und Realität des Nachrichtensenders Al-Jazeera English
von Benedikt Strunz

Surrealsozialistisch
Nord- und Südkorea trennt noch eine richtige Feindesgrenze
von Rainer Werning

Exotismus: Wilde Welten
Eine Ausstellung über die Aneignung des Fremden
von Ulrike Mattern

Interkultur: »Die Institutionen müssen barrierefrei werden«
Interview mit Mark Terkessidis über sein neues Buch »Interkultur«

Moderne Nostalgie
Die neue HafenCity in Hamburg würdigt den Geist des Kolonialismus
von Anke Schwarzer

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


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Quelle:
iz3w Nr. 318 - Mai / Juni 2010, S. 18
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2010